Dienstag, 21. Juli 2020

5. Juli -

2020/07/05 10:06



Morgens:



Das Tor zum Strand ist zugesperrt, wahrscheinlich wegen der lauten Strandparty in der vorletzten Nacht, aber ich kenne inzwischen die Schleichwege, nehme eine andere Einfahrt, von der ein Weg direkt zum Hotel hochführt, biege zum dem terrassierten Teil des Grundstücks ab, über den man zum Strandweg kommt. Ich weiß jetzt auch, dass solche Eskapaden toleriert werden, habe keine Angst, dass man mich fortschickt, obwohl nicht weit von mir ein Hotelangestellter mit irgendetwas beschäftigt ist.



Erst glaube ich, dass der Strand ganz menschenleer ist. Dann sehe ich zwei junge Frauen, die im Schatten der Strandmauer in ihren Schlafsäcken daliegen und schlafen.



Als ich aus dem Wasser komme, macht sich ein deutsches Touristenpaar gerade fertig für das erste Morgenbad auf Lesbos. Sie erinnern mich an meine Eltern: die Badetasche, die schlanke Figur und knappe Badehose des Mannes, die Bademütze der Frau, ihr Badeanzug, ihre Sorgfältigkeit. Als sie ins Wasser gehen, kommentieren sie die Wassertemperatur. Dann schlagen sie verschiedene Richtungen ein, genießen die Freiheit des Meers, die Weite des Himmels, legen sich auf den Rücken und lassen sich treiben. Noch als ich schon fertig zum Gehen bin, sind sie im Wasser.



Ich überlegte, den jungen Frauen ein Frühstück oder wenigstens eine Tasse Kaffee anzubieten, falls sie aufwachen sollten, solange ich da wäre. Ich könnte die Espressokanne und den Gaskocher holen, dachte ich. Aber sie schliefen tief und fest.



Worüber schreiben, wenn nichts passiert? Das ist die Herausforderung der kommenden Wochen.



Da ich jetzt (wegen Corona-Bestimmungen) den Wifi-Anschluss des Seminargeländes nicht mehr benützen und auch mein Trinkwasser nicht mehr von dort holen kann und außerdem von allen Seiten eingekreist bin von deutschen Nachbarn, muss ich mich und mein Leben hier neu verorten.



Heute Nacht wachte ich auf und ging zur Spüle, um einen Schluck Wasser zu trinken. Ich habe mein Trinkwasser in ausgediente Glasflaschen gefüllt. Also schraubte ich eine dieser Flaschen auf, setzte an und nahm einen tiefen Schluck, nur um festzustellen, dass es Ouzo war (ich hatte gestern versucht, mit Ouzo die Klebereste eines Kreppbands vom Kühlschrank wegzumachen, und die Flasche stehen lassen). Spülte meinen Mund mit Wasser aus. Schlief aber hinterher gut.



22:39



Die Nachbarn schalten jetzt ihre Klimaanlagen an. Die Hunde bellen im Dunkeln. Ich wässerte den Garten. Um zum Pumpenhäuschen zu gehen, muss ich jetzt eine große Runde machen, den Abhang hinunter und dann den Sandweg hoch, weil ich nicht mehr an den anderen Apartments vorbei gehen kann.


Heute die erste Runde Lack auf den Kühlschrank. Trage die Kochplatte nach draußen und mache mein Mittagessen da: Zucchinifrittata mit altbackenem Brot, Zwiebeln und Ei. Geriebener Ladotiri. Hinterher Mittagsschlaf, Abspülen. Dann nähe ich einen Rock aus dem weißen indischen Hüfttuch, für das ich nie eine richtige Verwendung gefunden habe. Bei dieser Hitze sind leichte Röcke am angenehmsten. Ich mache das Modell "Fischerhose", eine Art Wickelrock mit einem Band.


Zwischendurch immer wieder ein großes Apfelschorle mit Eiswürfeln. Lese "Brooklyn" von Colm Toibín.


Als ich zum Strand hinunterfuhr, kam plötzlich die Erinnerung an die Angst und Verzweiflung hoch, in der vor zehn Jahren feststeckte, als ich meine erste Woche hier allein verbrachte. Um sie zu lindern, ging ich in den Nächten mehrmals zum Müllcontainer, um Sachen wegzuwerfen. Ich schwamm weit ins Meer hinaus, ging im Regen nach Eftalou und wieder zurück. Damals gab es noch Wifi-Cafés. Selbst wenn ich eine Mail bekommen hatte, dann konnte sie meine Angst nicht lindern. Diese Unersättlichkeit. Die Angst vor der Nicht-Existenz, vor der völligen Auslöschung, falls mir diese Liebe wieder entzogen würde, was sich da schon andeutete. Ich war nicht einmal eine ganze Woche hier, aber die Zeit erschien mir endlos, unerträglich. Ich war über die Türkei angereist gekommen, verbrachte ein paar Tage in Istanbul, und flog dann auch von dort wieder zurück nach Kopenhagen.



Der heutige Tag war einerseits schwierig, aber auch ruhig und produktiv. Als ich kurz vor Sonnenuntergang am Delfinia-Strand auf dem Mäuerchen saß und meine Füße abtrocknete, blickte aufs Meer. Plötzlich sah ich etwas, war mir aber nicht sicher, ob ich mich nicht getäuscht hatte. Dann tauchte es wieder auf: Es war eine Delphinflosse. Ich stieß einen Laut des Erstaunens, der Freude aus. Eine Frau, die sich ein paar Meter von mir entfernt gerade die Haare abtrocknete, schaute mich fragend an. Delphine, sagte ich und deutete aufs Meer. Oh, sagte sie und schaute in die Richtung meines Fingers. Komisch, dass es nur einer ist, sagte sie. Kurz danach tauchte eine zweite Flosse neben der ersten auf. Sie waren sicher hundert Meter von uns entfernt, und trotzdem starrten wir wie gebannt auf die kleinen Silhouetten der Delphinflossen vor dem Licht der untergehenden Sonne. Dass Gefühl, als würde mein Herz ganz groß und hätte fast keinen Platz in meiner Brust. Nach ein paar Minuten verschwanden sie. Ich konnte mit dem Lächeln nicht aufhören, als ich nach Hause radelte.



Abendessen: sauer eingelegte Fischchen, Oliven, Fetakäse, Salatgurke mit Salz und etwas Brot mit Olivenöl. Dazu Wasser.



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