Freitag, 3. Juli 2020

3. Juli -

2020/07/03 09:45

Eigentlich wollte ich gestern noch schreiben, aber es war zu heiß. Jetzt mit dem Pomera auf dem Bett, der Kaffee auf dem Hocker neben mir. Habe zwei Riesenbrote mit Butter und Aprikosenmarmelade vertilgt (Giorgos würde die Augenbrauen hochziehen - Butter ist bei ihm verpönt). Heute habe ich meine erste kleine Tomate entdeckt. Die "Goldwasser"-Düngung (Urin-Wasser 1:10) hat auch den Salatpflanzen geholfen. Sie sind in die Höhe geschossen, tiefgrün und kräftig.

Giorgos kam gestern mit einer Tüte an, in der Zucchini, eine Aubergine und eine Gurke waren. Weißt du, was Zucchini sind? Natürlich! Alle Eigenanbauer essen zurzeit Zucchini. Eleftheria saß auf der Bank vor dem Friseursalon und aß Zucchinibratlinge aus einer Aluminiumfolie. Sie hat ihre Massagepraxis wieder geöffnet. Die heiße Quelle wird gerade repariert, soll aber im Sommer noch geöffnet werden.

Giorgos bestellte sich einen kleinen Kaffee und ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Es folgte ein lebhaftes Gespräch mit den Cafébesitzern, das er immer wieder unterbrach, um sich bei mir zu entschuldigen. Jemand kam an den Tisch und bat um Tabak für eine Zigarette. Halt Abstand! rief Giorgos und streckte den Arm aus, während er ihm seinen Tabakbeutel reichte. Hinterher sagte er mir, dass der Mann, der aussah wie ein altgewordener griechischer Hippie, gerade aus Marokko zurückgekehrt war, über Spanien und Italien.

Dann begann er, mir zu übersetzen, worüber er mit den Cafébesitzern gesprochen hatte. In der Nacht sind Leute aus dem Dorf zu einem Hotel in Eftalou gefahren, das Asylanten aufnehmen will, Flüchtlinge, deren Asylantrag bereits bewilligt ist und die jetzt nirgendwo einen Platz zum Wohnen haben. Der Hotelbesitzer bekommt natürlich Geld, ziemlich viel sogar, und das ist wohl u.a. eine Tatsache, die die Dorfbewohner aufgebracht hat. Es ist zu lautstarken Protesten gekommen - die Autoreifen des Hotelbesitzers wurden aufgeschlitzt. Die Argumente: Flüchtlinge schrecken Touristen ab. Wir haben kein Geld zum Leben, und den Flüchtlingen wird es hinten reingeschoben. Verständlich, aber die Wut ist trotzdem fehlgerichtet. Natürlich gibt es auch eine große Gruppe, die misstrauisch gegenüber allen Muslimen ist. Das alte Thema. Der gleiche Neid. Der gleiche Fremdenhass. Und letztlich geht es um Geld. Auch der Hotelbesitzer, der jetzt angefeindet wird, war früher gegen Flüchtlinge. Jetzt, wo er Geld damit machen kann, ist er zum anderen Lager übergewechselt.

Giorgos ist erschöpft, hat die Borniertheit der Dorfbewohner satt. Am liebsten ist er bei sich zu Hause, in seinem Garten, seiner Werkstatt, mit seinen Katzen. Mangelnde Bildung, sagt er. Alle, die aus dem Dorf weggehen, um zu studieren, kommen nicht zurück. Es ist so viel Gemeinheit, so viel Bosheit hier. Immer wieder geht es um Geld, um Konkurrenz. Er hat keine Freunde mehr hier. Letzte Woche hat jemand die Hausfassade von Jenifers Tochter mit dreckigen Wörtern vollgeschmiert, weil sie sich in der Flüchtlingsfrage engagiert. Giorgos hat diese Aktion auf Facebook kritisiert, aber kein Mensch hat einen Kommentar hinterlassen. Die, die keine Faschisten sind, haben Angst vor den Faschisten. Außer Mary. Sie hat gute Gedanken. Und sie spricht sie aus. 

Ich bestelle eine Ikone bei ihm: Den heiligen Franziskus. P und ich haben gestern vorsichtshalber gegoogelt und haben die Information gefunden, dass der Hl. Franziskus in der orthodoxen Kirche als vom Teufel besessen gilt. Ich frage Giorgos, ob ihm das etwas ausmacht. Er schaut mich mit großen Augen an. Glaubst du denn, dass ich so engstirnig bin? Hast du außerdem vergessen, dass ich in San Francisco gelebt habe, viele Jahre? Ich habe es nicht vergessen. San Francis. Wir schauen einige Bildbeispiele auf meinem Handy an. Ich kann es machen, sagt er. Er muss erst das Holz bestellen. Wir einigen uns auf einen Preis. Alle sollen zufrieden sein, sagt er. Du, ich, P.

Er fährt zu seinem Laden, den er für die Saison herrichten muss, obwohl er keine Lust hat. Ich gehe auch hoch, will im Keramikladen ein paar Becher und Paletten für Wasserfarben bestellen. Mary ist in ihrem Lokal, als ich daran vorbeigehe. Sie sitzt an einem Tisch, einen Block vor  sich, und spricht ins Telefon. Sie winkt mich rein. Möchtest du eine Orangenlimonade? Wir setzen uns auf den Balkon. Sie macht morgen auf. Es gibt so vieles, was sie jetzt einkaufen muss. Das kostet, selbst wenn sie keine großen Mengen bestellt. Sie sieht trotzdem gut gelaunt aus. Barfuß, mit riesigen Schlabbershorts, T-Shirt und einem Tuch, das das verschwitzte Haar aus dem Gesicht hält. Ich frage, ob sie weiß, was  in der Nacht passiert ist. Sie hat es noch nicht gehört. Eine Freundin hatte sich wegen den vielen Autos und Motorrädern gewundert, die gleichzeitig nach Eftalou fuhren. Eine Hochzeit, hatten sie vermutet. Giorgos hatte das Gleiche gedacht.

Was ich ihr dann erzähle, macht sie fertig. Das ist Faschismus. Sie sagt das Gleiche wie Giorgos. Sie hat keine Freunde hier im Dorf. Die Dorfbewohner kommen nicht in ihr Restaurant, nur die Ausländer. Dann sagt sie mir, dass Ignatios, bei dem ich in den letzten Jahren oft gegessen habe, ein übler Faschist ist. Du kannst bei ihm essen, sagt sie, aber du musst wissen, was er für ein Mensch ist. Seine Frau, naja, sie ist nicht so schlimm, aber sie sagt auch nicht so viel. Mary hat manchmal Angst, dass man ihren Laden demolieren oderihrem Hund etwas antun könnte. Sie ist deutlich gegenüber den Leuten. Sie wiederholt, was sie schon am Anfang meines Aufenthalts gesagt hat. Sie sagt den Dorfbewohnern, dass sie drei Alternativen haben: Entweder ihr kauft euch eine Kalaschnikow und mäht alle Flüchtlinge nieder, oder ihr hebt Lesbos aus dem Meer und setzt es an einem anderen Ende von Griechenland wieder runter. Oder ihr arrangiert euch mit der Situation, auf eine menschliche Weise.

Der Keramikladen ist noch nicht richtig geöffnet, aber die Tür steht offen. Ich rede mit der Frau des Keramikers. Die zwei sind große Katzenfreunde. P hat sie über die Jahre oft unterstützt und Sachen bei ihnen bestellt. Sie müssen erst alles in Ordnung bringen, sagt sie. Dann bin ich willkommen. Ich fühle mich als große Wohltäterin. Gehe weiter zu Giorgos' Laden. Eine Gruppe von Männern steht davor. Darunter auch der Keramiker. Laute Stimmen. Ich sehe an den Augen des Keramikers, dass er wütend auf Giorgos ist, als er auf ihn einredet. Und Giorgos hält dagegen, mit seinem tiefen Bass. Ich verstehe, dass es um Islam geht. Jemand sagt "Pakistan". Es ist leicht, sich die Argumente dahinter auszudenken. Die Gruppe zerstreut sich. Ich gehe mit Giorgos in seinen Laden.

Irgendwie ist es, als würde mir der Boden heute unter den Füssen weggezogen. Der Keramiker hat also auch Angst, dass die Anwesenheit von Menschen, die einer anderen Kultur angehören, hier alles kaputtmachen wird. Kann ich jetzt noch in seinen Laden gehen? Kann ich jetzt noch Becher bei ihm bestellen? Das Dorf scheint mir plötzlich vergiftet, hasserfüllt, auch wenn der Hass sich nicht gegen mich richtet. Mary sagte, sie versucht den Dorfbewohner klarzumachen, dass die Touristen, die nach Molyvos kommen, keine bornierten Idioten sind, sondern denkende, weltoffene Menschen. Dass der Faschismus dem Tourismus mehr schadet als die Flüchtlinge. Ah, es ist alles so falsch, so verkehrt.

Giorgos zeigt mir seine neuen Sachen. Mit einer kindlichen Begeisterung lässt er sich über die kleinen Holzesel aus, die er diesen Winter gemacht hat. Er hat blauweiß gestreifte Stoffbeutel über ihren Rücken gehängt, gefüllt mit Oregano. Einige große, detailreiche Häuser. Wieviel kann ich dafür nehmen? 250 Euro? Auf jeden Fall! Boote in allen Größen, manche dreidimensional. Alles aus Müll gemacht, sagt er, "rubbish". Er hat auch noch einige der kleineren Boote, die er aus dem Material der Flüchtlingsboote und Rettungswesten hergestellt hat, mit der Aufschrift "Hope". Auch wegen ihnen ist er angefeindet worden. Ich bin links, sagt er, kein Kommunist, aber links, weil ich der Ansicht bin, dass die linke Politik in der Regel menschlicher ist.

Als ich mich zum Gehen anschicke, fragt er, was ich zu Mittag essen werde. Keine Ahnung, sage ich. Er hat eine Idee. Wir können auf einen Ouzo nach Petra fahren. In zwanzig Minuten vor dem Schulhaus? Er will sein Auto holen. Ok.

Schließlich kommt doch mit dem Motorrad an. Geht das? Natürlich. Wir brausen über die Küstenstraße. Er stellt das Motorrad ab, wir setzen uns wieder an einen der Tische bei Katarina, essen Mezedes (ich esse doppelt so viel wie er) und trinken ein kleines Fläschchen Ouzo. Reden über Gott und die Welt. Er bekommt eine Mitteilung von seiner türkischen Freundin und scrollt auf seinem Telefon. Ah, sie hat ein paar Kilo zugenommen! sagt er. Die Türken lieben Süßigkeiten und Butter! Wegen den Corona-Beschränkungen haben sie sich seit Monaten nicht sehen können. Er erzählt auch, dass Erdogan die Hagia Sofia in eine Moschee verwandeln will. Wir erinnern uns beide unabhängig voneinander an das ehrfürchtige Erlebnis beim Betreten dieses Kirchenbaus. Als ich dort war, lag die Furcht vor Bombenanschlägen in der Luft. In welchen Zeiten leben wir eigentlich? Und wie wird es in ein paar Jahren sein? Gestern fühlte ich mich nicht besonders hoffnungsvoll.

Wir gehen noch zu einer Lottostelle und kaufen uns jeder ein Los. Leider kein Hauptgewinn. Brausen nach Molyvos. Er bringt mich zu meinem Fahrrad, das vor dem Schulhaus steht, und sagt: Fahr nicht zu schnell! Wir sehen uns!



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