Donnerstag, 31. Januar 2013

Der Teller

Der Teller machte eigentlich nichts. Er stand einfach nur herum.
Er musste beim Friseur nie zugeben, dass er sich nur einen Trockenschnitt leisten konnte, er kämpfte nicht gegen Übergewicht. Er hatte keine Schlafschwierigkeiten und kannte auch keine Reue, z.B. aufgrund der Tatsache, dass er nie einen Doktortitel erlangt hatte usw.
Flach, weiß, rund, kühl. So war der Teller. Er war außerdem aus feinem Haus.
Und jetzt werfen wir ihn aus 1,50 m Höhe zu Boden.


Mittwoch, 23. Januar 2013

Du musst dein Leben ändern

"denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht"

 

Archaïscher Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Rainer Maria Rilke

Donnerstag, 17. Januar 2013

Fragmentarische finnische Erinnerungen

In Finnland wohnte ich in einer kleinen Wohnung, Parterre. Ich hatte ein Zimmer, eine kleine Küche und ein Bad, das ich jetzt völlig vergessen habe. Wie sah das Badezimmer aus? In den acht Monaten, die ich dort wohnte, wurde außerdem die Fassade renoviert, und die Fenster waren mit einer Plastikplane geschützt. Ich hatte ein Bett und einen Tisch. Ich hatte einen finnischen Schlüssel. Es gab einen Waschkeller, und ich war in wenigen Minuten im Wald. An den Abenden ging ich anfangs häufig hinaus und lief eine Runde, mit einem pinkfarbenen Sweatshirt. Aber was für eine Hose hatte ich? Was für Schuhe?

Einige Schwarzweißfotos sind von der Zeit noch übrig. Die Dunkelheit, der Schnee. Ich setzte mich in eine Pizzeria, von der ich jetzt erinnere, dass sie sehr viel hellblau enthielt, hellblaue Vorhänge, hellblaue Tischdecken, und aß eine finnische Pizza, mit Emmentaler-Käse. Ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt war ein Café, in dem ich oft saß, Kaffee trank, eine Zimtschnecke aß und las. Ich erinnere mich z.B. daran, dass ich Goethes "Dichtung und Wahrheit" las, mit einer Begeisterung, die mich selber erstaunte.

Wo kaufte ich eigentlich meine Lebensmittel ein? Ich kann mich nicht an einen Lebensmittelladen erinnern, weder daran, wie er von außen, noch, wie er von innen aussah. Ich erinnere mich an das staatliche Alkoholgeschäft, das eingerichtet war wie eine altmodische Apotheke.

Ich erinnere mich an all die Leute mit ihren Trainingsanzügen.

Es gab einen Second-Hand-Laden, in dem ich mir einige scheußliche Blusen kaufte, die ich nie trug.

Es gab ein Kino, das ich nie besuchte, weil dort nur amerikanische Erfolgsfilme liefen. Ich hatte einen kleinen Schwarzweißfernseher von einem Lehrer geliehen bekommen, kann mich aber nicht erinnern, dass ich etwas darauf sah. Das einzige, woran ich mich erinnere, sind Bilder vom Golfkrieg. Es war das Jahr 1990/91.

An den Wochenenden fuhr ich häufig nach Helsinki und setzte mich in den Wagen, in dem die Bildschirme von der Decke herunterhingen, auf denen Videos gezeigt wurden. Ich las die Untertitel, um mein Finnisch zu verbessern.

Es dauerte eine gute Stunde, um nach Helsinki zu kommen. Oft fuhr ich erst am Montag morgen zurück. Ich fuhr mit dem Fahrrad zu den verschiedenen Schulen, oder ich lief zu Fuß. Viele der Lehrerinnen, mit denen ich zu tun hatte, waren alleinstehend, einige von ihnen feierten gerade ihren fünfzigsten Geburtstag, als ich dort war. Ich empfand Mitleid mit ihnen, fühlte mich überlegen, wegen meiner Jugend (ich war neunundzwanzig).

Ich lief durch den Wald, erinnere ich mich, zu einer Schule, die, wie ich später erfuhr, einen schlechten Ruf hatte, weil dort die "schlechteren" Schüler waren. Es lag Schnee. Es lag eigentlich den ganzen Winter lang Schnee.

Gerade geschah es mir, dass ich einen Traum von Lahti mit dem wirklichen Lahti vermischte. Ich muss also von Lahti geträumt haben. Wenn ich von meiner Wohnung geradeaus ging, kam ich zum großen Platz, von dem ich jetzt nicht mehr viel weiß. Ich habe Bilder gemacht, sie sind die einzigen Erinnerungen. In Helsinki war ich auf Jazzkonzerten und in der Konzerthalle, ich habe den Mann Klavier spielen gehört, der später der Kulturminister werden sollte (Claes Andersson).

Ich besuchte alle Kunstmuseen, entdecke Helen Schjerfbeck, Ellen Theslaff und Outi Heiskanen und fuhr mit der orangefarbenen U-Bahn und der grünen Tram durch die Stadt.

Mein erster Besuch in dem polnischen Café in der alten Villa am Rand von Helsinki, mit den getrockneten Rosen im Eingangsraum, den silbernen Teeglashaltern, dem Samovar, der Himbeermarmelade, die man in den Tee löffelte, der Vanillesahne, den Zimtschnecken, die größer waren als ein Dessertteller, dem Pianisten, der am Flügel saß und spielte. (Mein Gefühl von totalem, grenzenlosem Glück und Erstaunen.)

Ich weiß noch, dass ich einmal Spaghetti Bolognese kochte. Dass ich einen schwarzen Rollkragenpullover hatte und eine grüne Hose, und eine rote Brille. Dass ich sehr dünn war. Dass ich mir am ersten Tag einen Teller und eine Tasse und eine kleine Schale kaufte. Ich kaufte mir eine braune Baskenmütze. Zwei Handtücher. Bettwäsche. Einen gebrauchten Wollmantel, den ich jahrelang liebte. Die Handtücher und die Bettwäsche habe ich heute noch.

Ich hatte meinen Wortprozessor mit, ein klobiges Teil, ein Zwischending zwischen elektrischer Schreibmaschine und Computer, bei dem man Texte auf Diskette speichern konnte. Ich wünschte manchmal, ich hätte immer noch so ein Teil, das nur eine einzige Sache kann: schreiben. Der Bildschirm war winzig, und die Schrift war grün auf schwarzem Grund.

In meiner Wohnung hatte ich auch ein Telefon. Am Anfang steckte ich es an den Abenden immer aus, um zu verhindern, dass ich auf einen Anruf wartete, der sowieso nicht kam.

Mittwoch, 16. Januar 2013

Während ich die schwedische Reichstagsdebatte am Radio anhöre









 




Ich habe mich ja mein halbes Leben leiten lassen von Figuren wie Proust (der sich einschloss, die Vorhänge zuzog, die Wände mit Kork tapezierte), Wittgenstein (der sich auf eine Insel zurückzog und dann ins Dorfschullehrerdasein), von Kafka (der früh starb und in einer Art Lebensverweigerung lebte, in einer Angestellten-Unsichtbarkeit), von Pessoa (der zeitlebens in Pensionen verharrte), es haben mich die Geschichten fasziniert von Einsiedlern in ihren Höhlen, von Menschen, die drei oder sieben oder dreizehn Jahre in Isolation und Abgeschiedenheit lebten.

Montag, 14. Januar 2013

Wet leaves


Ich will den Dreck, den Schlamm, den Geruch von vermoderndem Laub, die aufgesprungene Haut an den Händen, die Kälte im Gesicht, den Schmerz in der linken Hüfte, all das Vergehen und Altern um mich herum, all diese Zeugnisse der Vergeblichkeit, die wehmütigen Körper, die schonungslose Ehrlichkeit der Zeit, das Ungeschminkte.

In einem Gespräch gestern sagte ich: "Ich möchte immer beweglicher werden. In jeder Hinsicht. Geistig, körperlich, geographisch, in meinem Schreiben, in meinem Fühlen. Das ist vielleicht das einzige Ziel, das ich habe."

Sonntag, 13. Januar 2013

13.1.2013

In der digitalen Welt gibt es kein Altern, kein Verblühen, kein Welken. Es gibt kein Zerfallen, kein Verfaulen, keinen Gestank, keinen Staub. Es gibt nicht einmal ungewaschene Haare.

Mittwoch, 9. Januar 2013

Tagestuschbild

Tagestuschbild.


Zeichne es schnell auf


Die Pfützen, denen du ausweichst im Dunkeln


Dieser undurchdringliche spiegelnasse Tag


Du sitzt im Verhör,
beide Hände über den Ohren
Du singst ein monotones Lied:
tadam tadam
um deine eigene Stimme
nicht zu hören


("Es war ein Tag,
an dem die Worte
durch die Ritzen in meinem Kopf fielen")


Warte, das Unerwartete wird schon passieren,
es passiert immer dann, wenn du dir sicher bist,
dass das Warten unerträglich geworden ist.


Sonntag, 6. Januar 2013

David Hockney und die Einsamkeit

"Fühlen Sie sich manchmal einsam?", fragte der Filmemacher den Maler David Hockney.

"Ja", antwortete David Hockney, "aber ich rechne auch damit. Deshalb macht es mir nicht so viel aus."


Einer von David Hockneys Dackeln

Das Haus, in dem ich wohne

Meine Nachbarn sind u.a.: ein Grieche, von dem ich nicht weiß, was er hier macht, der aber häufig laut griechische Musik hört und immer freundlich lacht, wenn ich ihm begegne, eine Russin Mitte Vierzig mit gefärbtem Haar, die eigentlich Violonistin ist, aber gerade hier lebt, um sich um ihre alte und kranke Mutter zu kümmern, eine serbische Großfamilie, die vor kurzem Nachwuchs bekommen hat. Hier wohnt auch Rasmus, der dänische Lehrer, der im Sommer mit dem Motorrad zum Nordkap fährt. Mein alleinstehender finnischer Nachbar hat einen großen Nasenring und zwei kleine entzückende Kinder, Wand an Wand mit mir wohnt eine Chinesin, die in Kopenhagen arbeitet und seit einiger Zeit mit ihrer 17jährigen Tochter zusammenlebt, die aus China gekommen ist, wo sie lange Zeit bei den Großeltern gewohnt hat. Es gibt auch Schweden hier, z.B. Jenny, die früher mal Gymnasiallehrerin war, dann aber versucht hat Schriftstellerin zu werden und jetzt gerade bei Starbucks am Flughafen Kopenhagen arbeitet, wo sie offensichtlich Karriere macht. Im Keller spielen ein paar alte Männer fast jeden Tag Billard, und der Ire Barry hat dort eine Fahrradwerkstatt, in der er die Fahrräder aller Hausbewohner umsonst repariert. Meine Katzen können über eine selbstgebaute Katzentreppe in den Hof, und wenn die alten Billardmänner vorüberlaufen, dann reden sie ein paar nette Worte mit ihnen.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...