Freitag, 3. Juli 2020

2. Juli -

2020/07/02 10:18

Dieser ganze Juli liegt leer und unbeschrieben vor mir. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, weiterhin hier zu sein, außer, dass es auch keinen Grund dafür gäbe, in Schweden zu sein. Was soll ich also tun? Irgendwo gibt es ja immer noch den Gedanken, dass all das sich "rentieren" soll. Es soll etwas "dabei herauskommen". Hirnrissig eigentlich. Wann hat dieses Denken sich in unsere Leben eingeschlichen? Ich habe meine Tagesroutinen (Schreiben, Malen, Meditieren, Yoga, Griechisch, Gartenarbeit).

Die Nachbarn sind angekommen, in guter Gesundheit und Urlaubsstimmung. I wollte mich gestern umarmen. "Wir sind gesund", sagte sie. "Lieber nicht, sicherheitshalber", sagte ich und wich etwas zurück. Wie kann sie das sagen, nachdem sie gerade aus dem Flugzeug gestiegen ist? Heute kommt der erste Charterflug aus Holland, sagte mir die Frau im Gyros-Imbiss, wo ich gestern mein erstes (und einziges) Gyros im Pita gekauft habe. Ich sehe ein, dass ich jetzt meine eigenen Corona-Regeln aufstellen muss. Dass ich wieder vorsichtiger sein muss, wenn ich Lebensmittel einkaufen gehe. Dass ich mir die Hände wieder öfter waschen muss, mich gegen den Sog der Normalität wehren muss. Dass ich geschlossene Räume meiden muss. Ich möchte meine Heimreise jetzt nicht gefährden. Ich möchte auch meine Gesundheit nicht gefährden und damit die Gesundheit der anderen. Immer noch verstehen Leute nicht, dass man mit der Maske nicht in erster Linie sich selber schützt, sondern die anderen. Ungefähr zwei Tage nach dem Lockdown waren Masken im Dorf yu sehen, jetzt sieht man keine mehr.

Begegnungen:

Jenifer, Illustratorin, Malerin, etwa Mitte siebzig, die vor ihrem Mann in Australien mit zwei Töchtern nach Griechenland zu "Onkel und Tante" geflüchtet ist und in Athen einen griechischen Fischer kennengelernt hat, mit dem sie im Lauf der Zeit drei weitere Töchter hatte. Inzwischen lebt sie schon seit vierzig Jahren in Molyvos. "Ich bin hier hängen geblieben", sagt sie. Mit dem Fischer war sie ein paar Jahre in Sansibar, hat dort viel gemalt, Ausstellungen gemacht, auch Bilder verkauft (u.a. an den schwedischen König), während er den Bewohnern der Insel die Technik des Lichtfischens beibringen sollte, was er auch mit Erfolg getan hat. Leider sind sie zu früh wieder nach Molyvos zurückgekehrt. Auch auf den griechischen Mann, der seit ein paar Jahren tot ist, ist sie nicht gut zu sprechen. "He was an idiot." Es ging um irgendeine Familienangelegenheit. Sie fühlte sich mit fünf Kindern in einem winzigen Haus im Hafen eingesperrt, während seine Schwester (ihrer Version zufolge) dank seinem Geld in einem geräumigen Haus wohnte. Das Haus, in dem sie jetzt lebt, ist an einer Anhöhe gelegen, der Weg dorthin ist steil in der Hitze, die Aussicht über das Meer atemberaubend. "Jeden Abend dieser Sonnenuntergang", sagt sie und verdreht die Augen. Ob ich vielleicht einen Hund haben möchte. Sie hat drei. Einer davon ist ihr zugelaufen, und seit einem Jahr versucht sie vergeblich, ein neues Zuhause für ihn zu finden. Das Haus hat sie "selber gebaut". Die Griechen konnten nicht verstehen, dass sie eine raue Steinwand im Inneren des Hauses haben wollte. Das Dach ist hoch, und an den Wänden hängen ihre eigenen Bilder. Auf dem Sofatisch Kataloge von Van Gogh und Hockney. Sie stellt grüne Oliven auf den Tisch, die sie auf Vorrat "bei Lidl" in Mytilini kauft, wir trinken Wein mit Sodawasser und Eis. Ich bin heißhungrig und stopfe mir eine Olive nach der anderen in den Mund - aber wie kann man diese nichtssagenden Lidl-Oliven kaufen, wenn man auf Lesbos wohnt? Ich hole meinen Behälter mit den dicken grünen Oliven, die ich in Petra gekauft habe und stelle sie auf den Tisch, zum Vergleich. Sie findet sie zu bitter. Wir gehen in ihr Atelier. Sonnenuntergänge, Fischerboote im Meer, ihre Töchter. Vor ein paar Tagen hat sie einen Baum an ihre Wand im Wohnzimmer gemalt und mehrere Bäume auf den Wandschrank im Schlafzimmer. Was für eine Technik? Kohle und Haarspray. Wir blättern den Hockney-Katalog durch. Ich kriege eine große Lust auf Farbe.

Einige Monate hatte sie ein irakisches Flüchtlingspaar im Haus. Sie habe da erst verstanden, dass viele Geschichten der Bibel im Koran fast identisch auch vorkommen. Ihre Tochter Melinda ist die Gründerin der NGO "starfish", die sich seit 2015 für die Flüchtlinge auf Lesbos engagiert. Im September 2015 war ihr Restaurant "The Captain's Table" im Hafen der zentrale Treffpunkt für die Volontäre aus aller Welt.

Alles strahlt zusammen. Mein "Tadzio von Lesbos", wie ich sie im Geheimen nenne, ist Jenifers Enkelin. Sie tritt im Herbst einen Studienplatz für Fotografie in Edinburgh an. Ich saß vor einigen Wochen mit ihrer Großmutter und ihrer Mutter (Melinda) auf dem Balkon einer Bar, und sie schaute kurz vorbei und grüßte höflich und wohlerzogen, so wie man die Bekannten der Mutter und Großmutter halt so grüßt. Als ich sie am nächsten Tag am Meer sah, hatte sie unsere Begegnung offensichtlich schon wieder vergessen.

Abends, auf meinem Weg vom Meer nach Hause, fuhr ich mit dem Fahrrad an Giannis vorbei, der gerade mit seinem Moped in Richtung Dorf unterwegs war, kleinen weißen (coiffierten) Hund seiner Frau auf dem Arm. Wir hielten beide an und kehrten um. Er holte ein paar Aprikosen aus der Plastiktüte, die an seinem Lenker hing und gab sie mir. Kannst du mal kommen und dir den Garten anschauen? Er ist in Deutschland aufgewachsen, wir reden Deutsch. Ich komme mal vorbei. Vormittags. Du bist vormittags zu Hause? Oft, aber nicht immer. Ok. So vereinbart man in Griechenland einen Termin.


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