Sonntag, 24. November 2019

21/11

Der letzte Tag.

Großputz. Ich fange im Badezimmer an. Als ich den Klodeckel putze, bricht am Scharnier ein Stück ab. Ah, also muss ich auch noch einen Klodeckel kaufen. Ausgerechnet heute, wo sie zum Tierarzt soll, will Punxy nichts dringender als rausgehen. Sonst hat sie oft den Vormittag auf dem Bett verbracht. Nichts da. Ich öffne die Klappe nach oben, nach einer Weile verzieht sie sich unters Dach, liegt dort dann als beleidigte Leberwurst den restlichen Vormittag herum.

Alle Regale abwischen, die Bettwäsche wechseln, die Wäsche vorbereiten, die ich zur Waschmaschine bringen will, wenn Punxy im Käfig ist. Einen Haufen auf dem Bett machen. Alles, was ich mitnehmen muss, möchte. Ouzo, Haselüsse, Salz, Olivenöl, Granatapfellikör, Quittenbrot, Oliven, gekaufte und selber eingesalzene, die schon seit zwei Wochen im Baum hingen, in einer durchlöcherten Plastiktüte.

Dann ist es so weit. Mein Herz schlägt wieder mal zum Hals. Muss Punxy erst über die Leiter nach unten treiben, dann mit Futter bestechen. Sie riecht Lunte. Ist misstrauisch, weicht immer wieder vor mir zurück. Dem dicken Schafsjoghurt kann sie dann doch nicht widerstehen. Ich packe sie im Nacken. Die Box steht schon aufrecht und geöffnet da. Klappe zu. Gemaunze. Jetzt kann ich die Tür öffnen, zur Waschmaschine gehen, das Olivenöl in Halbliter-Plastikflaschen pumpen, die bei der Gepräckkontrolle kein Aufsehen erregen. Es ist seit einiger Zeit nicht mehr erlaubt, Olivenöl im eingecheckten Gepäck mitzunehmen - im Handgepäck erst recht nicht.

Fahre zum "Alte-Männer-Café", Giorgos sitzt schon da und gibt mir den Autoschlüssel. "Stell das Auto später vor mein Haus und lass den Schlüssel stecken, wenn ich nicht da bin."

Ich habe den kaputten Klodeckel mitgenommen. Liefere Punxy erst bei der Tierärztin ab, die gerade noch damit beschäftigt ist, Katzen zu sterilisieren. Als ich die Katzenbox auf dem Tisch vor der Praxis abstelle, schenkt Punxy mir durch die Gittertür einen Blick der tiefsten Verachtung. Vier oder fünf frisch operierte Katzen liegen schon in ihren Käfigen herum, noch im Betäubungsschlaf. Bei Karantonis kaufe ich einen neuen Klodeckel, von dem mir versichert wird, dass er auf alle Klos passt. Bin stolz auf meine Effektivität. Zurück zu Punxy, die von der Tierärztin inzwischen (liebevoll) als "Monster" betitelt wird. Die Lunge klingt besser. Myrsini bescheinigt eine 90%-ige Verbesserung. Wäre ich noch eine Woche hier, könnten wir abwarten, wie sie sich entwickelt. Da ich schon morgen fahre, bekommt sie eine weitere Antibiotika-Spritze. Ist das nicht gefährlich? Nein. Na gut, na dann. Ich habe eigentlich keine andere Wahl.

Zurück nach Molyvos. Punxy rennt sofort weg, wie der Blitz, als ich die Box öffne, noch unten beim Auto. Aber eine halbe Minute später sitzt sie schon wieder versöhnt auf der Terrasse und schleckt das Luxus-Katzenfutter, das Myrsini mir mitgegeben hat, aus dem Döschen in Katzenform.

Bringe das Auto zu Giorgos, gehe zu seinem Haus, aber er ist nicht da. Stecke den Schlüssel ins Zündschloss, wie vereinbart. Auf dem Weg nach unten zum Fahrrad begegnet er mir, mit Plastiktüten in der Hand. Er war beim Einkaufen. "Ich habe ein wenig getankt", sage ich ihm. Er wird wütend. "Nein! Aber warum?" "Weil es sich so für mich besser anfühlt. Dass musst du jetzt einfach akzeptieren." "Ich lade dich dafür heute Abend ein." Später wird er mich fragen, wo ich getankt habe. "Ah, bei der Tankstelle." Er zieht die Augenbrauen hoch. Es war die falsche. Er kann die Leute da nicht leiden. Rassisten. Gegen Flüchtlinge. Ok, gut, jetzt weiß ich es.

Der Klodeckel passt natürlich nicht, ist zu klein. Griechen stört so was vielleicht nicht, mich aber schon. Ich denke über eine Lösung nach. Das Geschäft hat schon geschlossen und macht heute auch nicht mehr auf.

Packen, aufräumen, den Boden kehren und wischen. Ich esse Reste: Spiegeleier mit Tomaten und Käse und geröstetes Brot.

Die ganze Zeit schlägt mir das Herz bis zum Hals. Habe ich denn wirklich genug getan? Gibt es etwas, das ich noch hätte tun können?

Abends mit Giorgos auf einen Abschiedstrunk. Bier für mich, Tsiporo für ihn. Er bestellt Souvlaki für uns beide. Er hat irgendwie schlechte Laune heute, zieht über alle möglichen Leute her. Der Mann von der Gyros-Bar z.B., der einem das Wechselgeld so langsam gibt. Der nur an Geld interessiert ist und seine Frau vernachlässigt. Die Männer hier im "Alte-Männer-Café", deren Ansichten ihn auf die Palme bringen. Er kann es nicht erwarten, in Rente zu gehen, auch wenn er kaum Rente bekommen wird. Aus Molyvos rauskommen. Durchatmen. Er erstickt hier. Nicht permanent woanders wohnen, nur immer mal wieder verreisen.

Er teilt seine Beobachtungen zu den verschiedenen Nationalitäten mit. Die Norweger mag er, sie kaufen viel und haben immer gute Laune. Überhaupt mag er die Skandinavier, aber die Schweden können hochnäsig sein. Die Dänen hingegen versteht er nicht wirklich - sie scheinen sich in einem anderen Universum zu befinden. Außerdem sind sie oft fett. Mir bescheinigt er übrigens auch, dass ich gierig bin, weil ich nach den Chips lange, die mit dem Bier gebracht worden sind. "Du magst Junkfood, was!?" - "Isst du denn nie Junkfood?" Er gibt zu, dass er in Athen manchmal zu KFC geht oder einen Hamburger isst. Aber sonst sieht er zu, sich gesund zu ernähren, isst selten Fleisch, nie Wurst oder Salami. Er geht zwei- bis dreimal in der Woche im Stadium gegenüber von seinem Haus laufen. "Fünfeinhalbmal" in der Woche macht er Gymnastik, sein eigenes Programm. Und Push-Ups. Die Holländer findet er oft laut. Die Türken benehmen sich auch hier, als wären sie in einem Bazar: "Was soll das kosten? Fünfzig Euro? Ich gebe dir 20." Er klärt sie dann darüber auf, dass sie in Griechenland sind. "Hier haben wir feste Preise. Auf 47 kann ich runtergehen, höchstens auf 45." Der türkische Kunde: "25!?" Er erlebt sie außerdem nicht als besonders zuverlässig. Wenn sie sagen, dass sie später noch einmal vorbeikommen, schreibt er sie ab. Die Engländer nennt er "phony" - viel Oberfläche, wenig dahinter. Die Amerikaner sind gut, sie lassen auch immer viel Geld in seinem Laden. Am liebsten sind ihm die Deutschen. Viele der deutschen Touristen sind seine Freunde geworden. Zuverlässig. Gebildet. Interessiert, freundlich.

Noch mal kommen wir auf die neue Flüchtlingslage zu sprechen. Ich erzähle von dem Boot, das ich gestern am Strand gesehen habe. Was er und sein Freund gestern über die Pläne der Regierung gesagt haben, stimmt nicht ganz, das habe ich inzwischen auch schon in den Nachrichten gelesen. Es sollen mehrere geschlossene Flüchtlingszentren errichtet werden, auf den bereits betroffenen Inseln. Die Flüchtlinge sollen darauf verteilt werden. "Prisons!" sagt er, immer wieder. Für ihn sind das Gefängnisse. Die Menschen dürfen nicht rausgehen, bis über ihren Antrag auf Asyl entschieden worden ist. Er verabscheut die neue Regierung.

Noch einmal erklärt er mir, warum er in diesem Café gerne verkehrt. Der Besitzer ist freundlich. Er bemüht sich um die Bevölkerung, nicht nur um die Touristen. Er stellt junge Leute aus dem Dorf ein. Ästhetisch spricht es mich nicht an, sagt Giorgos. Menschlich schon. Außerdem schickt der Besitzer einmal im Jahr seine Frau zum Einkaufen in Giorgos' Laden, dann lässt sie ein paar Hundert Euro da. So soll es sein. Leider haben die meisten Dorfbewohner nicht dieselbe Einstellung.

Ich habe ihm die Klodeckel mitgebracht, in einem Ikea-Rucksack. Ob er den falschen Klodeckel vielleicht umtauschen könnte und einen neuen in der richtigen Größe besorgen? Kein Problem. Er versteht die Situation sofort. Natürlich macht er das. "Ich habe keine Quittung bekommen." "Macht nichts."

Wir verabschieden uns. Ich wünsche ihm eine schöne Reise nach Rom. Dorthin fährt er in einigen Wochen, zum ersten Mal in seinem Leben. Seine türkische Freundin wird alles bezahlen, er könnte es sich nicht leisten. Wir umarmen uns. Ich lasse dich jetzt mit zwei Klodeckeln zurück, sage ich. Dann steige ich aufs Fahrrad.

Zurück beim Haus, sitze ich eine Weile davor, mache eine Skizze vom Olivenbaum im Dunkeln, von der beleuchteten Terrasse, der Eingangstür, dem Fahrrad neben dem Schuppen. Plötzlich fühle ich etwas wie einen inneren Frieden, bin ich einverstanden mit meiner bevorstehenden Abreise.

20/11

(Inzwischen bin ich schon zu Hause, möchte aber meine Skizzen von Lesbos noch vervollständigen.)

Ein zerfledderter Vormittag.

Nach dem Mittagessen treffe ich Giorgos im "Alte-Männer-Café". Er hat die Ikone dabei, ordentlich verpackt. Ich habe etwas Quittenbrot für ihn in Papier gewickelt. Er sitzt mit einem Freund an einem Tisch. Sie reden gerade über die Flüchtlinge. Wir ziehen hinaus ins Freie, damit Giorgos und ich eine rauchen können. "Ich rauche nur mit dir", sage ich. "Ah", sagt er, "ich weiß schon, wenn man nach Griechenland kommt, dann erwachen die Leidenschaften in einem, die Träume, die Phantasie. Es ist die Magie Griechenlands." Ich sage ihm, dass ich hier tatsächlich intensive, lebendige Träume habe, bloß kann ich mich nicht daran erinnern. Dann gehen wir wieder zu den Flüchtlingen über. Offensichtlich soll Moria in den nächsten Tagen geschlossen werden. Tausende von Flüchtlingen sollen ins zentrale Griechenland verfrachtet und in einer geschlossenen Anlage untergebracht werden. Diejenigen, die keine Papiere haben, sollen abgeschoben werden. Jedenfalls verstehe ich es so. Der Freund findet das richtig. In der neuen Anlage sollen 7000 Personen Platz haben. Aber momentan sind 19000 in Moria. Ich verstehe es nicht. Wie soll das alles praktisch aussehen? Giorgos erzählt seinem Freund die Beispielsgeschichte eines afghanischen Flüchtlings, um dem Argument, dass man alle Papierlosen abschieben soll, den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Der Vater des Jungen, der Imam war, wurde umgebracht, weil der Sohn aus Versehen ein paar Koranseiten verbrannt hat. Es droht dem jungen Mann der Tod, wenn er abgeschoben wird. Wie kann es sein, dass sich EU-Länder wie Ungarn und Rumänien weigern können, Flüchtlinge aufzunehmen? Irgendwas ist an der ganzen Sache schief. Erdogan spielt mit Europa, sagt der Freund. Wir müssen ihm gegenüber anders auftreten.

Als sein Freund gegangen ist, erzählt Giorgos, dass er gestern versucht hat, alle seine digitalen Bilder zu ordnen. Es hat ihn fertig gemacht. Richtige Bilder, die man in die Hand nehmen konnte, das war noch etwas anderes. Wir fotografieren heute so gedankenlos, ohne uns um die Bilder zu kümmern. Und überhaupt, die ganze digitale Kommunikation. Er erinnert sich noch an die Zeit des Briefeschreibens. Alles war mit Bedeutung aufgeladen: das Schreiben, das Warten, das Öffnen und Lesen. Heute schreibt man eine Mail oder eine Mitteilung, schickt sie ab, fertig. Er unterstreicht alles mit Gesten. Die jungen Leute können das nicht nachvollziehen, sie kennen diese Gefühle nicht mehr. Wir wissen noch, wie es sich anfühlt, in einem fremden Land aufs Postamt zu gehen und zu fragen, ob ein Brief "Poste Restante" angekommen ist. Wir kennen die Telefonzentralen, in denen man sich in eine der verrauchten Kabinen stellte, wenn man an der Reihe war, und dann hoffte, dass das Gespräch nicht zu teuer sein würde.

Ich gehe an den Strand, aber als ich den Rucksack öffne, sehe ich ein, dass ich meinen Badeanzug und das Handtuch zu Hause vergessen habe. Die Griechin mit der Schirmmütze ist grade im Wasser. Sie winkt mir zu. Ich rufe, ich habe meinen Badeanzug vergessen! Ohje! Sie sagt, geh einfach den Strand ein wenig weiter entlang, bis zur nächsten Dusche. Da kann niemand etwas sagen, wenn du ohne Badeanzug badest. Ich tue, wie sie gesagt hat. Als ich zu der nächsten Dusche komme, sehe ich ein schlappes Flüchtlingsboot an der Wasserkante schaukeln, wie ein gestrandeter Wal. Jemand hat den Motor abgenommen und gegen ein Sandmäuerchen gelehnt. Ich gehe neben dem Gummiboot ins Wasser, und als ich wieder rauskomme, ziehe ich meine Kleider an, ohne mich abzutrocknen. Das Wasser ist frisch. Ein magisches Licht liegt über dem Wasser. Ich möchte einen Orangenbaum malen, an dem ich auf dem Weg zum Strand im Hotelgarten vorbeigekommen bin. Vor ein paar Jahren habe ich hier tütenweise Orangen geerntet, die sonst nur auf den Boden fallen und verrotten. Sie duften gut, aber sie sind sauer und haben viele Kerne. Nur gut für Marmelade. Eine halbe Stunde sitze ich auf einer Steinstufe und male. Schwierig. Ich bin nicht zufrieden mit dem Ergebnis.

Sitze dann in der Dämmerung auf der Terrasse, mit einem Glas Wein und schaue zu, wie das Dorf allmählich in der Dunkelheit versinkt, wie die Lichter anfangen zu funkeln, wie die Burgbeleuchtung eingeschaltet wird und die Burg in der Dunkelheit leuchtet.

Später fahre ich noch einmal ins Dorf. Ich stelle das Fahrrad ab, gehe hoch zu Ranias Friseursalon. Das Licht ist an. Ich sehe durchs Fenster, dass sie auf ihrem Frisierstuhl sitzt und mit jemandem am Telefon spricht. Sie begrüßt mich herzlich: Küsschen auf die Wangen. Sie erzählt, dass ihre Mutter in den letzten Wochen im Krankenhaus war. Sie ist schwer krank, und es steht schlecht um sie. Ich weiß, dass die Mutter schon seit einiger Zeit Alzheimer hat. Jetzt sind andere Krankheiten dazu gekommen. Sie liegt inzwischen zu Hause im Bett, der 80jährige Vater kümmert sich um sie, wenn Rania in der Arbeit ist. Ein paar Monate hat sie vielleicht noch. Wie immer unterhalten wir uns in einem Mischmasch aus Griechisch und Englisch, mit Mimik und Gesten, manchmal verstehen wir einander überhaupt nicht, aber das macht gar nichts. Ich sage, du hast einen guten Beruf. Die Haare muss man sich auch in der Krise schneiden lassen. Zwar hat sie die Preise seit fast zehn Jahren noch nie erhöht, aber sie kann sich wenigstens einigermaßen auf ihr Einkommen verlassen. Sie sagt, sie kommt jeden Tag gern in ihren Salon. Sie hat einen winzigen Balkon, mit einer phantastischen Aussicht aufs Meer. Hier ist immer was los, sagt sie, hier kann ich atmen. In den Sommermonaten ist die Tür immer geöffnet, und jeder, der vorbeikommt, wechselt ein paar Worte mit ihr. Die Leute setzen sich vor ihren Laden, sie trinken zusammen Kaffee. Rania ist eine der wenigen verheirateten Frauen im Ort, die ihr eigenes Geschäft haben, nicht "nur" im Familienbetrieb mitarbeiten. Ihr Mann hat ein Restaurant, ein Sohn hat ein winziges Café, der andere Sohn hilft im Restaurant mit. Ich sage, das Beste an ihrem Beruf ist, dass die Menschen sich besser fühlen, wenn sie bei ihr gewesen sind. So wie ich heute. Sie verabschiedet mich mit herzlichen Worten, wie immer. Küsschen. Eine neue Kundin ist schon gekommen.

Esse im Gyros Grill einen Veggieburger, radle dann nach Hause. Müde. Ich habe schon den Tierarztbesuch für morgen vorbereitet. Der Käfig steht im Zimmer. Ich will nicht riskieren, dass Punxy am Vormittag verschwindet und dann den ganzen Tag wegbleibt, so wie heute. Also behalte ich sie im Haus. Das bedeutet, dass ich mit ihr eingesperrt sein werde, den ganzen Vormittag lang.

Mittwoch, 20. November 2019

19/11


Vormittag am Schreibtisch - Mittagessen in der Sonne.

Schaue bei Theodosos vorbei. Das Katzenfutter ist gekommen. Er fragt, wie ich es heimbringen will. Wieso? Mit dem Fahrrad natürlich. Ich muss ganz einfach zwei- oder dreimal hin- und herfahren. Er findet nicht, dass das eine gute Idee ist. Wir bringen das Futter vorbei, sagt er. Ich erkläre ihm den Weg, aber ich weiß auch, dass das Haus nicht zu finden ist, wenn ich nicht unten an der Abzweigung stehe und den Weg zeige. Wartezeit. Wie kann ich sie mir vertreiben? Ich habe nichts dabei, was mich ablenken könnte (sonst eigentlich immer), also hocke ich mich vor einem Sandhaufen hin und schaue den großen Ameisen zu, die dort geschäftig und schwerbeladen herumlaufen. Oje, denke ich. Sie bauen ihren Staat in einen Sandhaufen, der für die Baustelle nebenan gedacht ist. So viel Mühe und bereits zum Scheitern verurteilt. Beim Hochlaufen im feinkörnigen Sand rutschen viele von ihnen erstmal ab, nehmen dann nochmal Anlauf, versuchen es mit einer anderen Lauftechnik, schaffen es schließlich. So menschengleich. In der Wiese sehe ich eine Ameise eine Art Quast hinter sich her schleppen. Die Grashalme und Blätter und Unebenheiten sind riesige Hindernisse auf ihrem Weg. Sie hält immer wieder kurz inne, klettert drüber, kriecht drunter, geht drum herum. Weil sie den Quast mit den Hinterbeinen festhält, sieht sie aus, als hätte sie einen Bastrock an. Ich verliere sie aus dem Blick, als ich kurz woanders hinschaue. Überall wuselt es, überall ist Leben, überall sind Tiere mit ihrer Überlebensarbeit beschäftigt.

Schließlich kommt Theodosos' Helfer mit seinem Motorrad an. Es ist schwer behängt mit gefüllten Plastiktüten. Wahrscheinlich ist er gerade auf seiner allgemeinen Auslieferungsrunde. Wir packen die Katzenfuttersäcke auf die Terrasse, ich gebe ihm etwas Trinkgeld. Als er wieder losfährt, dreht er sich noch einmal um und schenkt mir ein Lächeln. Dann sagt er: "This is like paradise." Ich schaue mich um. Tatsächlich. Er hat Recht. Wie kommt es, dass man sich an das Schöne so schnell gewöhnt, dass man es nach einer Weile nicht mehr richtig sieht? Dass man es mit seinen Sorgen, seiner Unruhe auflädt. Das Ankommen ist immer ein magischer Moment. Dann stellt sich eine Art Alltag ein. Gegen Ende beginne ich meine Abreise zu fürchten und vergifte mir so auch Vieles. Während ich das schreibe, steht die Terrassentür offen. Vogelgezwitscher, ansonsten Stille. Komisch, sonst hört man oft Mopeds vorbeiknattern, Hunde bellen, eine Kirchenglocke läuten, einen Verkäufer durchs Megaphon sein Obst oder seine Fische anpreisen. Ich habe bei meinem jetzigen Aufenthalt so viel Neues gelernt - eines der wichtigsten Aha-Erlebnisse war, dass Theodosos' Helfer (noch weiß ich seinen Namen nicht), nicht nur hören, sondern auch sprechen kann, sogar auf Englisch. Als ich abends Ch., die hier seit zehn Jahren mehr oder weniger lebt, von dieser Begegnung erzähle, ist sie auch erstaunt. Sie hat ihn noch nie lächeln sehen.

Die Katzen machen ihre Runden. Zwei große Kater kommen mehrmals am Tag vorbeispaziert, inspizieren die Futterschalen. Manchmal tun sie so, als wären sie hungrig, manchmal sind sie wirklich hungrig. Der eine von ihnen, ein junger und unkastrierter roter Kater, den wir "Hamish" nennen, zeigt ein interessantes Verhalten, wenn ich ihn von der Terrasse vertreibe. Er lässt sich einfach auf die Seite fallen, spielt gelähmt, bringt mich damit jedesmal zum Lachen, gegen meinen Willen. Ich zupfe eine Zecke aus seinem Fell, er lässt mich machen, ist ganz zahm. Wo sind seine Menschen, bitte!?

Für den Nachmittag habe ich mir eine Zeichenrunde im Dorf vorgenommen. Vier Stationen à 15 Minuten. Als ich angekommen bin und meine Sachen aus dem Rucksack hole, entdecke ich, dass ich meinen schwarzen Konturenstift vergessen habe. Also bin ich völlig auf den dicken Pinsel und die Wasserfarben angewiesen. Erst bin ich wütend auf mich selber. Dann beschließe ich, es als Herausforderung zu sehen. Und tatsächlich macht es mir nach einer Weile Spaß, mit veränderten Voraussetzungen an die Bilder heranzugehen. Es ist außerdem eine neue und interessante Erfahrung für mich, mich einfach mitten im Gewimmel auf eine Steinstufe oder auf eine Bank zu setzen und mich dann auf ein Motiv zu konzentrieren, während das Leben um mich herum einfach weiterläuft. Niemand schaut mir neugierig über die Schulter, zum Glück. Männer jeden Alters fahren auf ihren Mopeds vorbei. Aus dem ehemaligen kommunalen Café im Hintergrund höre ich eine angeregte Diskussion. Männerstimmen. Sicher was Politisches. Bei meiner nächsten Station sind eine Männer- und eine Frauenstimme zu hören, Nachbarn, die sich auf der Straße begegnen und sich danach erkundigen, wie es so geht. Irgendwas an der Akustik lässt den Eindruck entstehen, als würde ich in einem Theater sitzen. Nur mit dem Unterschied, dass ich dem Schauspiel den Rücken zudrehe. Bei meiner letzten Station habe ich ein anderes Café im Rücken - mit eher jungem Publikum. Junge Frauen sitzen auf dem Balkon und unterhalten sich mit aufgeregten und etwas penetranten Stimmen - das uralte Thema des "er sagt - sie sagt". Es fängt an zu dämmern, und ich beeile mich, fertig zu werden. Auf dem Weg zum Fahrrad fährt Theodosos' Helfer an mir vorbei und hupt mir zu. Er hat noch einen letzten Sack geliefert und vor dem Haus auf den Tisch gelegt. Perfekt, sage ich und halte den Daumen hoch.

Abendessen mit Ch. im Alonia. Erst sitzen wir in der Dunkelheit auf der Terrasse, sie mit einem Glas Ouzo, ich mit einem Glas Weißwein, dann gehen wir zum Essen in den Gastraum. Fisch, Fava, Tzatziki, grüner Salat. Sie lädt mich ein. Zum Glück konnten wir die komische Auseinandersetzung vom letzten Mal hinter uns lassen. Ich achte darauf, Themen zu vermeiden oder im Sand verlaufen zu lassen, die uns wieder auf einen sinnlosen Konfliktkurs bringen könnten. Wir reden über die Flüchtlingssituation. Jetzt sind angeblich 19.000 Menschen im Lager in Moria, das für 6.000 Menschen errichtet worden ist. Wieso ist es nicht möglich, diese Situation innerhalb Europas auf eine menschliche Weise zu lösen? Offensichtlich sind in den letzten Tagen auch wieder Boote in Molyvos gelandet. Es gibt eine Kleiderstation im Hafen. Die Flüchtlinge versuchen vielleicht, das gute Wetter auszunützen. Es ist in den letzten Wochen fast windstill gewesen, und das bei sommerlichen Temperaturen. Dann reden wir über unsere Wohnungen in Schweden. Schließlich ein wenig Tratsch. Unweigerlich landen wir auch bei der Frage, wie Molyvos seine Lähmung abschütteln, neue Kräfte und Ideen finden könnte. Irgendwann verliebt sich Ch. in die Idee, dass ich eine Rolle in dieser Entwicklung spielen könnte. Sie lässt nicht mehr locker. Ich beschließe nach einer Weile, nur noch zu nicken, mich nicht gegen ihre Begeisterung zu stemmen, nachdem ich am Anfang vergeblich versucht habe ihr zu vermitteln, dass ich nicht der richtige Mensch bin für so was. "Ich kann eigentlich nichts, außer herumsitzen und schreiben, was niemand liest, und vielleicht ein wenig mit Leuten reden." Jedenfalls endet der Abend friedlich. Ich bin zum Glück zu Hause, kurz bevor die Wegbeleuchtung, die zum Haus führt, ausgeschaltet wird. Im Stockdunkeln ist es nämlich schwer, den Weg zu finden.

Dienstag, 19. November 2019

18/11


Es regnet. Ich packe am Morgen mein Regencape und fahre los. Ein fröhlicher Hund begleitet mich, der sich offensichtlich von seiner Kette losgerissen hat. Die Kette schleift neben ihm her, mit einem klirrenden Geräusch. Dann plötzlich hört das Geräusch auf. Anscheinend ist er dann doch "nach Hause" gelaufen.

Besuch bei der Bank, wo ich Geld abhebe. Ich bin auf lange Wartezeiten gefasst, habe ein Buch mit dabei und will mich schon auf einen der massiven Holzstühle setzen, komme aber nicht dazu. Heute ist offensichtlich nicht der Banktag der Griechen. Meine Nummer ist schon dran, wird von der digitalen Leuchttafel angezeigt. Man unterschreibt jetzt auf einer elektronischen Platte neben dem Schalter. Ich packe das Geld in mein Ledertäschchen, drücke auf den Knopf neben der Tür, der grün aufleuchtet, wenn die Tür entsperrt ist.

Bei Theodosos einkaufen (Yoghurt, Fetakäse, eine Gurke), dann nach Hause fahren, ein wenig arbeiten.

Ich treffe Giorgos im "Alte-Männer-Café", wir trinken Kaffee. Ich frage ihn, warum die Männer sich ausgerechnet in diesem Café treffen. Erstens, so sagt er, ist es praktisch. Alle kommen hier vorbei, man braucht nicht bergauf gehen, die Bank ist um die Ecke, der Supermarkt. Zweitens, es ist günstiger als die anderen Cafés im Dorf, wenigstens wenn man ein Grieche ist. Ich frage ihn wegen meines Erlebnisses am Morgen, ob es in Griechenland erlaubt ist, Hunde anzuketten. Es ist nicht mehr erlaubt, sagt er, nur für kurze Zeiten. Früher gab es die sogenannten "Tonnenhunde", Hunde, die ihr ganzes Leben angekettet verbracht haben. Damit ist jetzt Schluss. Die Polizei schert sich zwar nicht darum, aber es gibt eine Tierschutzorganisation, die man in solchen Fällen kontaktieren kann. Es ist auch verboten, die Beine von Pferden zusammenzubinden (so wie vermutlich auch von den Ziegen, denn ich habe keine Ziegen mit zusammengebundenen Beinen mehr gesehen). Mögen die Griechen Tiere?, frage ich. Ja, die meisten. Vieles hat sich auch geändert. Als er ein Junge war, war es noch üblich, dass die Jungs nach den Katzen traten, die ihnen begegneten. So hatten sie es gelernt. Er hat es schon damals nicht gemacht, aber es war nichts dabei. Die meisten Griechen haben ein Verständnis dafür, dass es eine gegenseitige Abhängigkeit gibt zwischen Tieren und Menschen.

Selber hat er 18 Katzen, die er füttert, um die er sich kümmert. Wenn er mal ein paar Tage weg ist, kommt sein Cousin und füttert die Katzen. Es kostet ihn 4 Euro am Tag, sagt er und seufzt.

Das Stadtbild, das er vor ein paar Tagen in einer nächtlichen Sitzung angefangen hat, ist jetzt fertig. Er zeigt mir ein Foto. Es gefällt mir, es ist klar und licht. Er hat schon einen Käufer, einen alten Freund in Deutschland. Wieder musste der Käufer seinen Preis in die Höhe treiben, weil er zu wenig verlangte.

Ob ich Lust auf einen Ausflug habe, fragt er, oder ob ich beschäftigt bin. Wir könnten nach Filia fahren, dort essen und in der Käsefabrik einkaufen. Na? Ich bin dabei, sage ich.

Erst fahren wir zum Eisenwarenhändler in Petra. Er braucht eine Neonröhre. Ich treibe mich im Laden herum, bei den Gartenwerkzeugen, schaue mir elektronische Waagen an, eine kleine Espressokanne, verschiedene Abdichtungspasten und Silikonspritzen. Er redet mit dem Besitzer über einen kleinen Traktor, der am Ausgang steht. Sie entdecken eine dicke Spinne am Lenker. Georgos gabelt sie mit der Neonröhre auf, der Besitzer geht damit vor die Tür und schüttelt sie, so dass die Spinne zu Boden fällt.
He! Hallo!, denke ich. Nicht hier, direkt vor dem Eingang!, aber ich sage nichts.
Du hättest sie zum Gebüsch bringen sollen, sagt Giorgos zu dem Mann. Vor der Tür kann jemand drauftreten.
Was meinst du damit?, sagt der Besitzer. Es ist eine Spinne!
[Die Wörter "gehen" und "Spinne" verstehe ich, den Rest schließe ich aus dem Kontext und der Körpersprache]
Da sie immer noch bei dem Traktor rumstehen, gehe ich hinaus, klaube die Spinne auf und bringe sie zum Gebüsch.
Giorgos hat es gesehen.
Diese Sache mit der Spinne, sagt er später im Auto, ist in meinen Augen bezeichnend für die Leute, die die ultrarechte Partei unterstützen. Es klingt vielleicht blöd, sagt er, aber ich finde, dass Leute, die politisch links stehen, sich allgemein menschlicher verhalten.

Wir fahren im Regen nach Filia. Er möchte mich auf ein Ouzo-Mittagessen einladen. Außerdem können wir dort ein paar Kilo Katzenfutter kaufen. Es ist etwas billiger als in Molyvos.

Wir sitzen in einer Taverne, die sonst nur mit vereinzelten Männern an ihren Tischen besetzt ist. Über der Tür läut ein Fernseher. Er bestellt Mezes: verschiedene Fischsorten, Tzatziki, Käsepasteten, gekochten Blumenkohl. Hinterher kriegen wir Joghurt mit eingelegten Kirschen und trinken jeder einen riesigen griechischen Kaffee.

Ich frage ihn zu Molyvos aus, zu Lesbos. Er erzählt von seiner Kindheit, von seiner Ausbildung und wie es eigentlich kam, dass er Ikonenmaler wurde.
Er erzählt von den Anfängen des Tourismus und von dem Kommunalpolitiker, der wollte, dass Molyvos sich von anderen Touristenorten abheben sollte. Hohe Hotelbauten waren verboten. Man versuchte, Berühmtheiten in den Ort zu locken, die dann die richtige Klientel mit sich ziehen würde. Es hat damals geklappt. Molyvos hatte seine Hochzeit. Sein Vater, der Bauer war, hat angefangen Eselstouren anzubieten. Er hatte selber einige Esel und mietete in der Saison einige mit dazu. Giorgos übernahm das nach einer Weile. Er machte Besorgungen für einen griechischen Schriftsteller, der im Sommer in Eftalou wohnte, und verdiente ziemlich gutes Geld. Seine Eltern hatten oft deutsche oder holländische Gäste, die Mutter bewirtete alle, es war ganz einfach Gastfreundschaft, kein Geschäft. Es entstanden Freundschaften. Als sein Vater bei einem Traktorunfall ein Bein verlor, brachten ihn ausländische Freunde zweimal nach Holland, wo einer eine leichte Prothese aus Aluminium bekam anstatt des schweren Modells, das man ihm in Griechenland verpasst hatte. Dann kamen der Massentourismus, die billigen Souvenirläden, die Charterflüge. Das Niveau sank. Die Bewohner des Ortes waren plötzlich mehr an schnellem Geld interessiert als an einer langfristigen und haltbaren Perspektive. Die griechische Krise vor einigen Jahren war ein harter Schlag für die meisten. Und dazu kamen die Flüchtlinge. Von höherer Stelle wollte man sie am liebsten unter den Teppich kehren, weil sie das Bild störten. Man wollte sie verstecken, unsichtbar machen. Er findet, man hätte damals anders handeln sollen. Lesbos hätte sich als gastfreundliche Insel ins Licht setzen sollen, man hätte eine Zusammenarbeit suchen können mit Medien. Auf diese Weise hätte man Lesbos weltbekannt machen können. Als der Papst nach Lesbos kam, waren die meisten der griechischen Inselbewohner empört. 'Was will der hier?' Eine falsche Einstellung, findet Georgos. Man hätte ihn mit Freundlichkeit empfangen sollen. Jetzt ist der All-Inclusive-Tourismus nach Lesbos gekommen. Billige Touristen, die ihre Urlaubswochen in einer Hotelburg verbringen. Wir brauchen so Leute wie dich, sagt er. Naja, ich bringe aber nicht viel Geld auf die Insel. Das macht nichts, sagt er. Es ist viel wert, dass du kommst. Wir brauchen gute Leute, die hierher kommen.

Ich mache ein paar Vorschläge - Festivals auf der Insel, Musik, Film, vielleicht junge Filmemacher einladen, Künstler. Warum nicht das Gleiche machen wie Ende der 60er Jahre und bekannte Künstler auf die Insel einladen? Er hat die Hoffnung verloren, sagt er. Die Griechen verstehen ihr eigenes Bestes nicht. Haben jetzt diese ultrarechte Regierung gewählt. Dann sagt er, dass Griechenland das bräuchte, was man damals "Tyrann" nannte. Ein Alleinherrscher, der das Gute der Menschen und des Landes im Sinn hat. Der Begriff ruft heute andere Assoziationen hervor. Natürlich ist ihm auch klar, dass das nicht geht.

Seine türkischen Bekannten sind neidisch auf Griechenland - 'wie kommt es, dass ihr in der EU sein dürft?' Seine türkische Freundin verdient ihr Geld mit Immobilien, hat mehrere Hotels. Die meisten Touristen dort sind selber Türken. Sie ist gut gestellt, fährt einen Audi 4, "ein tolles Auto". Und die Straßen in der Türkei haben ihn auch begeistert - es gibt dort ein gut ausgebautes Straßennetz.

Die Straßen in Filia sind voller Löcher und holprig, die Häuser in schlechtem Zustand - sobald die Sonne nicht scheint, kommt die Verwahrlosung durch. Wir kurven über die Landstraße, auf dem Weg zurück in seinem alten Seat. Die Käsefabrik hatte Mittagspause. "Wir lassen uns jetzt davon die Laune nicht verderben", sagt er. Er hat eine Kassette eingelegt, Bluesrock, er dreht die Lautstärke auf. Der junge Georgios. Er ist 65.

Mein Tag endet mit Schreiben und Zeichnen. Sitze auf dem Bett und mache Skizzen von den drei Katzen. Caesarion, Punxy, Cleo. Schwermut, gemischt mit Dankbarkeit.

Sonntag, 17. November 2019

17/11

Ein zartes Rosa am Himmel. Ein wunderbarer Morgen. Habe Louise Erdrich Der Gott am Ende der Straße ausgelesen, in den frühen Morgenstunden. Jetzt brodelt der Kaffee auf dem kleinen Herd. Es ist nicht mehr an Schlaf zu denken. Punxy und Caesarion schnurren auf der Bettdecke. Ich fühle mich wie eine Betrügerin, weil ich sie in ein paar Tagen wieder in die Kälte hinaussetzen werde. So ist es schon seit Jahren gewesen. Und immer sind sie bisher wiedergekommen. Was machen sie in der Zwischenzeit? Vielleicht haben sie ein zweites, ein drittes Zuhause, mehrere Namen? Ich werde es wohl nie wissen. Auf der Terrasse lungern jetzt auch wieder die Nachbarskatzen herum, die sich monentan selber überlassen sind. Kriegen von mir eine Handvoll Futter pro Schnauze, damit sie Ruhe geben. Ich und die Katzen. Es wird ganz zwangsläufig so. Was mich irgendwie auch wieder freut: dass das Schicksal des verschwundenen "Mülltonnenkaters" so viele beschäftigt. Viele haben mit mir darüber gesprochen: "Wo ist er hin?" "Was ist mit ihm passiert?" So viele Menschen haben ihm immer wieder Futter gebracht, ein Schälchen mit Wasser. Ein Mann kam jeden Tag auf seinem Moped aus den Bergen, um ihn zu füttern. Wir nannten ihn Murugan. Gestern dachte ich, als ich an den Mülltonnen vorüber radelte: Auch wenn du jetzt vielleicht tot bist, Murugan, dein Leben war nicht umsonst. Du hast die Herzen von vielen Menschen berührt. Ein spiegelverkehrter Zwilling von Murugan ist jetzt hier oben auch aufgetaucht. Offensichtlich ist er kastriert, macht aber einen wilden Eindruck.

Das Buch Der Gott am anderen Ende der Straße würde ich jetzt gerade am liebsten weit wegschleudern, wenn es nicht in meinem ebook-reader wäre. Es hinterlässt so ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Und dabei ist es gar nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Erdrich trifft die gruslige Süßlichkeit der selbstgerechten Handlanger der Macht auf den Kopf. Aber so darf ein Roman nicht enden, dachte ich, und uns so in die Leere hineinkatapultieren, in die Verzweiflung, in die Traurigkeit. Viele komische Fäden bleiben außerdem in der Luft hängen. Es ist der Nachteil der Tagebuchform, dass das Tagebuch nie den Menschen verlassen kann, der es schreibt. Er weiß nur über das Bescheid, was sich in seiner Nähe ereignet. Wie ist Cedars Tagebuch eigentlich zu uns, zu den Lesern, gelangt? Auch eine offene Frage. Was ich von dem Buch behalten will, ist die einfache Menschlichkeit der Widerstandskämpfer, die sich unter Einsatz ihres Lebens gegen die "Regeln" stellen. Ein Roman, der von Schwangerschaft handelt, von der Wirklichkeit des Frauenkörpers und von der unerklärlichen Brutalität der Geburt, diesen in der Literatur so geächteten Themen. Das jedenfalls schätze ich sehr.

Die Wahlen in Louisiana wurden offensichtlich für den demokratischen Kandidaten entschieden. Das ist der rosarote (hellblaue?) Hoffnungsschimmer des heutigen Tages. Und dass Pete Buttigieg in Iowa mit großem Abstand führt. Wäre er nicht homosexuell, wäre das gar kein Thema, er ist der beste, auch der unverbrauchteste, Kandidat der Demokraten, er verliert sich nicht in Einzelheiten, er strahlt eine Klarheit aus, eine moralische Geradlinigkeit, die das Land (die Welt?) jetzt braucht. Es gibt DOCH Hoffnung, immer und immer wieder.

(Abends)

Am Vormittag wechselte ich die hinteren Bremsklötze am Fahrrad, flickte ein Loch am Ellenbogen meiner Bluse, kontrollierte im Heizungskeller die Zeiteinstellungen, leerte den Komposteimer, schaute mir die Feuerstelle von gestern noch einmal an. Setzte mich eine Weile an den Schreibtisch und arbeitete.

Um die Mittagszeit machte ich mich auf den Weg. Ich wollte nach Vafios wandern. Nahm im Rucksack Brot, Käse, eine geschälte Karotte, ein Stück geschälte Gurke, eine Dose Bohnen in Tomatensoße und eine Flasche Wasser mit. Fuhr mit dem Fahrrad zur selben Stelle wie am letzten Sonntag. Ging zur kleinen Kapelle und machte in ihrem Inneren ein Foto der Ikone von der Madonna in Flammen, die P bei Giorgos in Auftrag gegeben hat. Sie haben beide das Bildmaterial verschlampt, das sie ihm schon geschickt hat, also musste ich ran. Setzte mich dann vor der Kapelle aufs Mäuerchen, aß in aller Ruhe meinen Proviant. Große Bohnen in Tomatensoße, getoastetes Weißbrot, Ladotiri, eine geschälte Mohrrübe. Brunnenwasser. Ging schließlich los, bergauf, Richtung Ligonas. Kam zuerst an zwei Olivenerntern vorbei. Der Mann sprach mich an. Wohin des Wegs? Vafios. "Aber hier geht es doch nicht nach Vafios." Man merkt, dass die meisten Griechen keine Wanderer sind. Ich erklärte, dass es einen Wanderweg über Ligonas gibt. Ah ja. Er klagte über die Wärme. Er ist es nicht gewöhnt, bei diesen Temperaturen Oliven zu ernten. Deshalb sitzt er jetzt auch da und ruht sich aus. Als ich mich schon verabschiedet habe und weiter gegangen bin, will er noch wissen, woher ich komme. Deutschland. Ah. Germanía. Er sagt etwas Zustimmendes, aber wegen mir müsste er das nicht tun.

Mache zuerst den gleichen Denkfehler wie letzte Woche und gehe ein Stück in die falsche Richtung. Begegne dann doch einem "Wanderer", einem zahnlos lächelnden, vor sich hin schlurfenden Griechen mit einer Plastiktüte in der Hand. Auch er findet nicht, dass man hier nach Vafios kommt. Schließlich bin ich auf der richtigen Spur, folge der rosa Sprühfarbe bergauf. Ich weiß, dass es gegen fünf Uhr anfängt zu dämmern, muss also meine Zeit gut einteilen. Ich will vor der Dämmerung wieder zurück bei meinem Fahrrad sein. Mache eine schnelle Skizze von der Aussicht über die Felsen bis hinunter zum Meer, später noch eine, das Spiel von Licht und Schatten auf meinem Wanderweg. Irgendwann komme ich an ein Gittertor, und denke noch, das kommt aber auch nicht oft vor, dass man einem richtigen gechmiedeten Tor einem richtigen Schloss begegnet. In meiner Begeisterung achte ich nicht auf die rosa Sprühfarbe und bin dann auf einer betonierten Straße. Der Wanderweg ist zwar in Sichtweite, aber unerreichbar hinter einem Drahtzaun. Zurückgehen mag ich auch nicht. Es ist so anstrengend, auf Beton bergauf zu gehen, ich weiß auch nicht, warum. Schließlich endet die Betonstraße, ich habe wieder Kontakt zur Erde, die rosa Sprühfarbe hat mich wieder.

Schließlich bin ich in Vafios. Keine Seele begegnet mir. Das Café der alten Frau ist geschlossen, die Fenster von innen mit Zeitungspapier verklebt. Noch ein Dorf, das einen langsamen Tod stirbt. Eine Katze beeilt sich, an mir vorbei zu kommen. Zwei müde Hunde drücken sich an einen Zaun am Dorfausgang und würdigen mich keines Blicks. Ich folge dem Wanderweg parallel zur Straße, als ich plötzlich ein Pferd sehe, das mitten auf dem Weg steht. Ich möchte nicht vorbei gehen, um das Tier nicht zu erschrecken. Es ist zwar angeleint, aber die Leine ist lang. Es sieht noch jung aus, und ich will weder, dass ihm, noch dass mir etwas passiert. Kehre um. Komme an einem traurigen Maultier vorbei, das hinter einem Zaun im trockenen Gras vor sich hinrupft. Ich habe noch ein Stück Karotte in meinem Rucksack. Das Maultier verschlingt sie mit großer Begeisterung und ist sofort scharf auf mehr. Ein paar Schritte weiter finde ich einen Quittenbaum und hebe eine Quitte vom Boden auf. Ein voller Erfolg, als ich sie dem Maultier vor die Nase lege.

Eine Wanderung ist immer eine wilde, überraschende Angelegenheit. Ich laufe ich durch einen dichten Wald wieder nach unten, während ich Erdklumpen vom Boden aufhebe und in meine Hosentaschen stecke, um sie später zu Pigmenten zu zerstoßen. Ich bin auf den Boden fixiert, finde rote, rosa, gelbe, braune, graue Erde. Nach einem der improvisierten Gatter mit Drahtverschluss bin ich auf plötzlich einer etwas weitläufigeren Lichtung und werde plötzlich unsicher, wie ich weiter gehen soll. So viele Pfade gehen von hier aus weg, typische Schafpfade, und die rosa Sprühmarkierung des "Lesvos Trail" ist plötzlich nicht mehr zu sehen. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal hier gewesen zu sein, muss aber irgendeinen Pfad, irgendeine Richtung wählen und laufe weiter. Als ich mich allmählich immer tiefer bücken muss, um durch das dornige Gebüsch zu kommen, ist mir klar, dass das nicht der Wanderweg sein kann. Wieder einmal bin ich der Schafsspur gefolgt. Ein Moment der Nervosität, da die Sonne schon deutlich tiefer gesunken ist. Ruhe bewahren! Ich kehre um, gehe nochmal bis zum Gatter, schaue mich um, aber ich kann keine Markierung sehen. Hier von der Dunkelheit überfallen zu werden, wäre ziemlich unangenehm. Der Weg ist uneben, man muss schon sehen, wo man die Füße hinsetzt. Ich folge einem Pfad, der vielversprechend wirkt, aber es ist mir bald klar, dass er auch nicht der richtige ist. Plötzlich sehe ich den Wanderweg auf der anderen Seite einer wackeligen Mauer, die mit Stacheldraht versehen ist. Ein wenig achtsames Klettern, dann stimmt wieder alles, und bald stehe ich bei meinem Fahrrad. Von jetzt an geht es schnell, ich kann das Rad rollen lassen.

Zuhause. Duschen. Eine Flasche Wasser, ein Glas Wein und an den Skizzen arbeiten. Mein heutiges Abendessen ist eine Gemüsesuppe mit Buchstabennudeln, mit Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, Weißkohl, Broccoli, einem Schuss Wein.

Übrigens habe ich heute endlich den Besitzer der Verrückten Farm, wie ich sie im Geheimen nenne, gesehen. Er sah ganz normal aus, ein älterer Mann mit weißem Haar und einem weißen Schnurrbart. Ich grüßte ihn, während ich vorüber radelte, er grüßte freundlich zurück, umringt von etwa neun Katzen. Ich weiß nicht, ob es mir jemals gelingen wird, diese Farm zu beschreiben. Die mit dicken Pinselstrichen gemalten Kreuze auf den Baumstämmen, Felsen, Mauern. Die Ställe zusammengenagelt und improvisiert, aber das sieht man hier ja überall. Hier hat sich jemand sein eigenes, chaotisches, abweisendes Reich geschaffen, im Staub zwischen Felsen, Schrott und Bäumen. Viele Tiere gehören mit dazu. Würde man es ein Gesamtkunstwerk nennen, kämen die Besucher hierher gepilgert. Der Mann sah glücklich aus. Vielleicht ist der Schlüssel zum Glück, dass man seinen verrücken Einfällen folgt, ein wenig von seinem Wahnsinn in die Welt entlässt.

Samstag, 16. November 2019

16/11

Ein Tag, an dem ich das Gefühl habe, nichts geschafft zu haben. In einem Tümpel von Schwermut. Vielleicht auch, weil meine Abreise näher rückt.

Morgens lief ich der Sonne nach, mit meiner Frühstückschale, meiner Kaffeetasse. Die ganze Anlage steht mir zur Verfügung. Las Louise Erdrich, Der Gott am Ende der Straße, in einer seltsamen Mischung aus Langeweile und Schrecken und dem Wunsch zu wissen, worum es in dem Buch eigentlich geht. Steckte eine Fuhre Wäsche in die Waschmaschine.

Der Vormittag verging dann damit, dass ich die Bremsklötze meines Fahrrads auswechselte. Es dauerte so lange mit den vorderen Klötzen, dass ich die hinteren erstmal sein ließ. Aber nachdem ich mit dem Fahrrad im Dorf gewesen bin, ist mir klar, dass ich nicht drum herum komme.

Freute mich, Punxy ganz oben im Baum zu entdecken. Sie hat seit gestern kein einziges Mal gehustet. Man könnte jetzt vergessen, dass sie schwer krank gewesen ist.

Hatte keine Pläne für den Tag, nur ein vages Gefühl der Angst, der Rastlosigkeit.

Steckte Julia in einen Einkaufsbeutel, den ich oben zuknotete und wog sie dann mit Hilfe der Gepäckwaage: 3,3 kg. Sie kämpfte gegen ihr Gefängnis, ich knotete den Beutel schnell wieder auf und beschloss, dass sie schwer genug ist für eine Entwurmungstablette, die ich ihr in der Welpenwurst verabreichte, ohne Probleme.

Fuhr ins Dorf, ging zu Theodosos, kaufte ein. Haferflocken, Broccoli, Avocado, eine Dose Bohnen in Tomatensoße, einen Liter Milch, Eier. Katzenfutter. Er fragte mich wieder einmal, wieviel Katzen wir haben. Vier, sagte ich, plus drei oder vier, die wir auch füttern, wenn sie vorbei kommen. Natürlich kommen sie jeden Tag vorbei.

Ging dann in einem Zustand der Orientierungslosigkeit zu Mary, obwohl ich es nicht geplant hatte. Der Balkon war bis auf den letzten Platz besetzt, was natürlich gut ist für sie. Trotzdem war ich etwas enttäuscht.

Setzte mich in den Gastraum und bestellte eine Hortapita. Als ich mich zur Mitte durchgegessen hatte, sah ich ein, dass sie im Inneren noch gefroren war. Mary nahm sie unter wortreichen Entschuldigungen zurück, steckte sie dann wohl noch einmal in die Mikrowelle. Ich aß sie ohne große Begeisterung. Heute hätte ich lieber mein Essen mit jemandem geteilt.

Als ein Tisch frei wurde, zog ich mit meinem Cappuccino auf den Balkon, machte eine Skizze von zwei jungen Frauen aus Holland, die am Nebentisch saßen. Die eine hatte im Nacken einen tätowierten Violinschlüssel und auf ihrer Wade einen dicken Buddha unter dem Bodhibaum. Fühlte mich wie eine Voyeurin, dabei wollte ich doch nur meine Fähigkeit üben, lebendige Menschen zu zeichnen.

Als ich zum Bezahlen zur Theke ging, redete ich mit Mary über ihre Fahrt nach Athen. Sie langte über ihren Kopf und holte eine kleine Flasche Ouzo aus dem Regal. "Das kannst du mal abends trinken und dabei an mich denken." Ich bedankte mich. "Ich denke aber auch ohne Ouzo an dich", sagte ich, was stimmt. Ging bergab, schwenkte meine kleine Ouzoflasche, eine Gruppe Touristen kam mir entgegen, beleibte Männer, die vom Bergaufgehen schwer schnauften und sich den Schweiß abwischten. Ich hoffte, sie würden bei Mary einkehren und viel essen.

Fuhr wieder nach Hause, ziellos. Dachte, ich könnte ebensogut auf der Terrasse bügeln. Ich habe es mir schon seit Tagen vorgenommen, aber immer wieder vor mir hergeschoben. Ich bügelte Geschirrtücher, Servietten, Taschentücher, Kopfkissenbezüge, eine Bluse, eine Hose. Währenddessen spielten sich in meiner Nähe alle möglichen Katzendramen ab.

Dann machte ich einen neuen Anlauf mit dem Verbrennen. Vielleicht eine geeignete Tätigkeit für den heutigen Tag. Heute war ich besser vorbereitet. Hatte Arbeitshandschuhe dabei und feste Schuhe an (nicht Flipflops wie letztes Mal). Ich goß einen Ring mit Wasser um die Feuerstelle, bevor ich etwas anzündete, und holte dann noch eine 10l-Kanne Wasser als Reserve, für den Notfall. Eine Gartenschere zum Kleinschneiden der größeren Teile. Das Brennzeug war feucht heute, und die Flammen schlugen nicht so hoch. Es flogen hin und wieder Funken, denen ich mit meinem Blick folgte. Gegen Ende wurde ich vom Ehrgeiz gepackt, ein größeres Holzstück dazu zu bringen, ganz zu verbrennen. Eine Aufgabe, der ich mich mit größter Konzentration widmete. Ich schürte und blies und schichtete um und dann wieder von vorne. Währenddessen wurde es wieder dunkel. Schließlich war ich zufrieden. Goß Wasser auf die Glut.

Yoga. Abendessen: Reste von gestern (Imam, Fava), dazu Salat und geröstetes Weißbrot. Julia hatte sich ins Haus geschummelt und folgte mir auf Schritt und Tritt, schmiegte sich an meine Beine, warf sich auf den Rücken usw. Das machte mir alles wieder mal schwer.

Abspülen, lesen. Es kostete mich eine riesige Überwindung, mich noch einmal an den Schreibtisch zu sitzen, das hier zu schreiben.

Es schlug mich heute auch mit aller Gewalt die Tatsache, dass ich ab Januar keine Arbeit mehr habe. Doch alle, denen ich davon erzähle, gratulieren mir, dass ich endlich gekündigt habe.



Freitag, 15. November 2019

15/11

Das Schlafen ist momentan eine schwere Arbeit. Ich kann zwar meine Träume am Tag nicht rekonstruieren, aber sie sind komplex und anstrengend wie das wirkliche Leben. Hin und wieder wache ich aus ihnen auf und erhole mich ein wenig.

Die Luft ist nach dem gestrigen Regen etwas kühler, aber nur etwas. Ich gehe den ganzen Tag mit einer ärmellosen Bluse herum.

Ich habe einen Beschluss gefasst und mache mich heute daran, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen: Organisiere jemanden, der die Katzen in den nächsten drei Monaten täglich füttert und bestelle bei Theodosos 20 kg Trockenfutter. Nachdem ich das gemacht habe, kann ich mich zum ersten Mal seit Tagen wieder freuen, kriege sogar eine Weile das Lächeln nicht mehr von meinem Gesicht weg. Zwar habe ich auch jetzt keine Lust, von hier wegzufahren, aber es zerreißt mir wenigstens nicht das Herz.

Schreibtischarbeit am Vormittag, dann nehme ich das Fahrrad ins Dorf. Radle am "Alten-Männer-Café" vorbei, wo ich Giorgos in ein Gespräch vertieft an einem der Tische sitzen sehe, aber ich habe nicht vor, mich jetzt aufhalten zu lassen.

Als ich auf dem Weg durch das Dorf an Marys Lokal vorbeilaufe, sehe ich zu meinem Erstaunen, dass sie geöffnet hat und an der Theke steht. "Wie lange bist du schon da?" "Zwei Wochen", sage ich, "aber jedes Mal wenn ich vorbei gekommen bin, war geschlossen". Sie sagt, dass sie jetzt noch zwei Abende geöffnet hat, dann fährt sie nach Athen, für ihre jährlichen Nachsorgeuntersuchungen. Sie bleibt einen Monat bei ihrer Schwester, wie jedes Jahr. Ist alles in Ordnung? Alles in Ordnung, es sind nur Routineuntersuchungen.

Ich gehe zur Burg, esse auf einer Bank in der Sonne ein Spinatpie, das ich mir in der Bäckerei gekauft habe, und mache eine Skizze. Ein Moped kommt den gepflasterten Weg hochgefahren. Es ist der Mann, der bei Theodosos im Supermarkt die Lebensmittel in die Regale verteilt. Ich habe die ganzen Jahre gedacht, dass er gehörlos ist, weil er nie reagierte, wenn ich ihn grüßte. Kaum hat er jetzt den Motor abgestellt, schaltet er ein Radio ein und geht mit zwei Plastiktüten zu einem Haus. Kommt noch einmal zurück, wieder mit laufendem Radio. Ich muss mein Bild dieses Mannes komplett ändern. Plötzlich denke ich, was für eine gute Idee, so zu tun, als würde man nicht hören, was andere sagen! Ich könnte sie kopieren.

Mein Versuch, die Burg zu besichtigen, wird von einer missmutigen Wärterin abgewehrt. "In einer Viertelstunde machen wir zu!" Ich trolle mich wieder und sehe sie gleich darauf mit einem vollbärtigen Mann die Burganlage verlassen, eine Plastiktüte mit Fischen in der Hand. Das Tor wird abgeschlossen. Ende eines sicherlich recht ereignislosen Arbeitstags.

Trinke bei Mary einen Cappuccino. Sitze auf dem Balkon und lese. Das Meer glitzert in der Sonne. Mary kommt und stützt sich auf die Balkonumrandung. Ich sage etwas über das Wetter und die phantastische Aussicht. Aber Mary steckt in ihrer Sorge fest. Es kommen zu wenig Gäste. Sie muss das Restaurant ein paar Abende in der Woche aufmachen, um etwas Geld hereinzubekommen, auch wenn fast niemand kommt. Die wenigen Tagestouristen gehen meistens im Hafen essen. Ich würde das ja auch tun, sagt sie. Viel Essen muss sie wegwerfen. Sie ist allmählich zu müde, schafft es nicht mehr. Könntest du in Rente gehen?, frage ich. Ach nein. Sie würde keine Rente bekommen.

Ich kann mich noch an ihren Enthusiasmus erinnern, als sie dieses große Lokal gemietet hat und ausmalen hat lassen. Von acht oder zehn Sitzplätzen hat sie sich auf vielleicht vierzig oder sechzig erweitert. Aber nur bei seltenen Gelegenheiten ist das Lokal voll und nur im Sommer. Es liegt auch an den Preisen. Wegen der hohen Miete musste sie die Preise anheben, worauf die Griechen weggeblieben sind. Das große Restaurant verlangt viel Vorbereitung. Wenn sie schon aufmacht, muss sie sich ja darauf einstellen, dass Gäste kommen.

Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich nur einen Cappuccino trinke, aber sie ist herzlich wie immer.

Beeile mich, nach Hause zu kommen und werfe meine Badekleider in den Fahrradkorb, damit ich noch vor dem Sonnenuntergang eine Runde schwimmen kann. Das Licht von der untergehenden Sonne, der Dunst am Horizont. Ein paar kleine Fischerboote sind schon unterwegs. Ich sitze noch ein wenig auf einer Holzbohle, beschäftige mich mit meiner Skizze.

Abendessen: Imam und Fava, dazu gemischter Salat, etwas Retsina.

Erst halbneun, und schon so müde. 

Donnerstag, 14. November 2019

14/11

Bewölkt.

Am Morgen Video-Gespräch mit A: Er erzählt von der Ankunft in Athen. Sie fuhren mit einer Taxifahrerin von Piräus zum Platz Omonia, von dem sie wussten, dass es eine Art Sammelplatz für Flüchtlinge war. A plauderte mit der Frau. Sein Reisegefährte Siad war völlig außer sich. Eine Frau am Steuer eines Taxis! Willkommen in Europa, sagte Anas.

Ich sitze auf der Terrasse, während wir reden. Währenddessen hellt es auf. Die Sonne kommt hervor.

Mache mir einen Tagesplan. Muss Struktur in diesen Tag bringen, arbeiten, ohne nach links oder rechts zu schauen.

Ein Videogespräch mit meiner Mutter, meinem Bruder. Meine Mutter erzählt mir wieder, dass sie aufs Gesicht gefallen ist. Ich weiß, sage ich. (Es war schon im Sommer.) Es ist mir aber nichts geblieben, sagt sie. So ein Glück, sage ich. Sie hat Dusel gehabt, sagt mein Bruder. Sie waren wieder im Versorgungsamt beim Essen. Wenn du kommst, gehen wir auch dorthin, sagt meine Mutter. Auf jeden Fall, sage ich. Sie zeigen mir ihren neuen Stock, mein Bruder hält ihn vor die Handykamera. Ich bewundere ihn. Aber meine Mutter ist schon wieder ungeduldig, will das Gespräch beenden.

Wäsche waschen, Wasser holen, Müll wegbringen, die Feuerstelle von gestern ein wenig säubern. Dann drei Stunden Arbeit am Text.

Fahre abends doch ins Dorf, weil ich Spülmittel brauche. Hier oben ist es stockdunkel. Im Dorf eine Art Wärme. Die alten Männer, die sich an verschiedenen Orten sammeln. Nie die Frauen. Restaurants, die geöffnet sind, aber keine Gäste haben. Noch nicht, ich bin früh dran.

Esse eine Fischsuppe im Hafen. Ich bekomme eine Schüssel Gemüsesuppe und einen Teller mit grätigem Fisch, den ich selber in die Suppe tun soll. Fieselig. Ein Schälchen mit Oliven mit Koriander. Gutes, frisches Weißbrot, mit dem ich dann die Suppenschüssel auswische. Der Besitzer sitzt an einem Tisch und raucht, scrollt auf seinem Handy, holt dann ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnet es. Als würde ich in seinem Wohnzimmer sitzen. Die Fischgräten gibt er in eine Plastiktüte und legt diese dann in den Kühlschrank. Für die Katzen?, frage ich und denke an die vielen Katzen, die hier im Hafen herumlaufen. Ja, aber für die Katze zu Hause. Er schaltet den Fernseher ein. Irgendwo ein Busunfall mit 14 Toten. Ich verstehe nichts. Die Karrikatur von Würde: Erdogan mit seiner Frau trifft auf Trump mit seiner Frau. Dieses Muster hat sich noch nicht überlebt. An den Wänden der Hafentaverne: ausgebleichte Fotos aus einer Zeit, in der es allen noch besser ging. Griechische Lebensfreude, in schwarzweiß.

Ich bezahle und gehe, komme an einem griechischen Vater mit seinen Kindern vorbei, die gerade an einem Zaun eine kleine Straßenkatze füttern und über sie sprechen. Diese kleinen Gesten der Freundlichkeit berühren mich.

Ein Mensch mit Stirnlampe begegnet mir auf der dunklen Landstraße, seine Lampe blendet mich so, dass ich nichts mehr sehe. Ich schlingere. Er sagt was. "Ich sehe nichts, aber auch nichts!", sage ich. Er entschuldigt sich. Dann biege ich auf den Sandweg ein. Weiche den Pfützen aus, die meine Fahrradlampe als Spiegel zeigt. Die Zeitschaltuhr hat die Wegbeleuchtung zum Haus eingeschaltet. Schiebe das letzte Stück. Aus dem dunklen Gebüsch kommen die Katzen.

Ich denke über das Alleinsein nach und warum ich es mag.


Mittwoch, 13. November 2019

13/11

Bewölkt.

Arbeite vormittags am Schreibtisch, bin aber angespannt, wegen des bevorstehenden Tierarztbesuchs.

Stromabbruch, als ich gerade Kaffee koche. Hole den kleinen Gaskocher aus dem Oberschrank, den wir uns für diese Fälle angeschafft haben, und koche dann in aller Ruhe weiter.

Rochade mit Giorgos bei der Olivenpresse. Ich nehme sein Auto, er nimmt mein Fahrrad (und beschwert sich hinterher, dass die Bremsen nicht funktionieren).

Stecke Punxy in die Box und fahre mit ihr nach Petra, aber die Tierärztin ist noch nicht da, sie ist in Mytilini von einem Notfall aufgehalten worden. Mache eine kleine Skizze von dem unansehnlichen Vorplatz. Ein winziger Hund mit Beinschienen kommt mit seinem Frauchen auf dem Moped an. Er steckt in einer Umhängetasche, eingepackt in einen gestrickten Kapuzenpullover. Die Vorderbeine stehen ab, wie Streichhölzer. Zwei Wochen war er in der Klinik und muss jetzt noch einen Monat seine Schienen tragen. Er kriegt neue Verbände und wimmert vor Schmerzen. Ein großer Schäferhund, der auf einem Bein hinkt, kommt mit seinem (auch hinkenden) Frauchen an.

Die Tierärztin sieht sofort, dass Punxy eine Lungenentzündung hat, noch bevor sie ihre Lunge abhört. Wir reden über den Namen der Katze. "Warum heißt sie so?" "Weil sie so crazy ist und so wild. Ein kleines Monster. Oder ein Clown." Punxy kriegt eine Antibiotikaspritze mit Langzeitwirkung und eine Vitaminspritze, starrt mich vorwurfsvoll aus ihren riesigen Augen an.

Kaffeetrinken mit Giorgos. Ich habe Hunger und bestelle mir einen Toast mit Pommes Frites. Er regt sich darüber auf, was ich für einen Mist esse. In Deutschland isst man so was vielleicht, oder in Schweden. Wir essen keinen solchen Mist. Ich sage, ich habe einen Riesenhunger, ich brauche Seelenfutter und werde jetzt jeden einzelnen Bissen genießen. Er entschließt sich dann offensichtlich, meinen Fehltritt zu ignorieren und sagt nicht einmal etwas, als ich Ketchup auf meinen Teller drücke und die Pommes Frites hineintunke. Hinterher bezahlt er mein unsägliches Essen sogar, ungeachtet meiner Proteste.

Ein Freund von ihm setzt sich zu uns, ein junger Mann mit einem kleinen Sohn, Polizist. Wir reden ein bisschen über Griechenland. Warum haben die Griechen solche Probleme damit, Gesetze einzuhalten? Nicht ich habe die Frage gestellt, sondern die zwei Männer. Wieso ist es in Griechenland nicht möglich, bestimmte Regeln durchzusetzen? Warum ignorieren die Griechen sie einfach? Wie weit in der Geschichte muss man zurückgehen, um darauf eine Antwort zu finden? Die beiden Männer haben auch keine Antwort. Ich will sagen, dass viele Deutschen gerade das an Griechenland mögen. Eine romantische, unrealistische Liebe. Ich sage es aber nicht, fürchte, sie würden es nicht verstehen.

Giorgos erzählt, dass er in der Nacht einen kreativen Schub hatte. Um Mitternacht habe er sich zum Arbeiten hingesetzt und dann bis vier Uhr gearbeitet. Er zeigt mir das Ergebnis auf dem Handy. Ein stilisiertes Stadtbild in klaren Formen und Farben. Schön. Es gefällt mir. Auch heute will er schnell wieder an die Arbeit gehen. Er hat in der Olivenpresse schon viel zu viel Zeit verloren.

Ein wenig bei Theodosos einkaufen, wie fast jeden Tag. Bei ihm fühlt man sich immer willkommen. Er ist persönlich, ohne einem zu nahe zu treten. Erzählt, dass er gestern nacht um elf mit dem Fahrrad nach Petra gefahren ist. Ich bin erstaunt, was die Leute hier in der Nacht so alles treiben.

Er fragt mich, ob ich die Tierärzin in Petra nicht teuer finde. Die Leute reden. Er hat einmal 200€ für die Behandlung eines verletzten Hundes bezahlt, den sie dann doch nicht retten konnte. Ich finde die Preise fair und die Behandlung gut, sage ich (wenn auch immer noch "griechisch" in dem Sinn, dass Operationssaal und Verkaufsraum eins sind und die frisch operierten Tiere in ihren Käfigen vor den Verkaufsregalen herumliegen). Ich erzähle ihm auch, was Tierarztbehandlungen in Schweden kosten, und er nickt nachdenklich.

Hinterher denke ich, wenn die Griechen einander mehr Geld gönnen würden, dann würde sich die hoffnungslose Lage vielleicht auch ändern. So vieles findet unter der Hand statt. So viel Geld wechselt den Besitzer, ohne dass es irgendwo registriert wird. Steuern treiben zwar Preise in die Höhe, aber am Ende würden alle auch wieder davon profitieren. Mit Steuergeldern könnte vielleicht die heiße Quelle in Eftalou gerettet werden, dann wäre das Restaurant, das daneben liegt, vielleicht nicht von der Schließung bedroht. Das wiederum würde vielleicht Touristen davon abhalten, die Insel sich selber zu überlassen. Vielleicht können Griechen nicht so denken, weil sie zu viel Korruption erlebt haben. In Schweden kenne ich niemanden, der etwas gegen die hohen Steuern oder hohe Preise sagen würde. Aber Schweden ist nicht Griechenland. Es geht nicht, diese Dinge über einen Kamm zu scheren. Ich würde mich in Griechenland nicht wohl fühlen, wenn es genauso wäre wie Schweden. Gerade die informelle Ebene kann ich genießen. Die Menschlichkeit, der persönliche Umgang miteinander. Natürlich gibt es hier auch viel Bosheit, viel Geschwätz, sogar Hass. Leute im Dorf, die sich aktiv für die Flüchtlinge engagierten, wurden mit Hasskampagnen zum Umzug "gezwungen".

Später mache ich mich im Garten daran, den Haufen mit Gartenabfall zu verbrennen. Das Zeug ist so trocken und leicht, dass ich zwischendurch fast Panik kriege, obwohl es windstill ist. Ich mache einen Ring aus Wasser um die Feuerstelle und lege nur kleine Portionen auf, die gleich hohe Flammen schlagen. Mit einem Rechen helfe ich nach, dass die Feuerstelle kompakt bleibt. Als es schon dunkel ist, mache ich Schluss, verteile die Glut, gieße Wasser darauf, bis alles gelöscht ist. Es ist immer noch ein großer Haufen von dem Abfall übrig. Ich stelle fest, dass es mir schwer fällt, dem Sog des Feuers zu widerstehen. Obwohl ich mir zwischendurch immer wieder sage, dass ich besser aufhören sollte, weil es zu riskant ist, gehe ich dann doch wieder zu dem Haufen mit dem Gartenabfall und hole neues Futter fürs Feuer. Das Herzklopfen.

Von Myrsini habe ich eine Fleischwurst im Plastikmantel (eigentlich für Hundewelpen) bekommen, um den Katzen die Anti-Wurm-Tabletten leichter verabreichen zu können. Sie machen sich heißhungrig darüber her.

Ich koche noch einmal eine Portion Quittenpaste, um die Quitten nicht verkommen zu lassen, die ich gepflückt habe. Das beste Ergebnis bisher. Setze einen Granatapfellikör an, mit den Granatäpfeln, die ich letzten Freitag geschenkt bekommen habe und einem Metaxarest, den ich im Schrank gefunden habe, wahrscheinlich von einem Sommergast.

Male die Skizze vom Tierarztbesuch aus, verfremde sie aber und verwende leuchtende Farben (die Wirklichkeit war grau).

Esse Fava (noch von gestern), im Ofen geröstete Kartoffeln un einen riesigen Salat mit Feta.

Müde. Morgen wünsche ich mir einen ruhigen Tag.

Dienstag, 12. November 2019

12/11

Steuererklärung auf der Terrasse. Ich krame unter dem Dach einen alten Zeichenblock hervor, auf dem ich die Quittungen festtackere. Lege Steine aufs Papier, damit sie nicht wegfliegen. Es geht schnell, ich unterschreibe elektronisch, schicke sie ab, überweise das Geld, sammle dann alle Papiere zusammen und lege sie in meinen Koffer.

Rufe endlich bei der Tierärztin Myrsini an, nachdem Punxy in der Früh wieder auf den Teppich gekotzt hat. "Komm morgen um 13 Uhr vorbei, dann schaue ich sie mir an."

Kaffeetrinken mit Giorgos im Café am Dorfeingang. Das "Alte-Männer-Café", obwohl es vor ein paar Jahren als ein Café mit einem großen Sortiment Gesundheitstees und Kuchen geöffnet hat. Er sagt, das Jahr ist schlecht gewesen. Wenige Touristen, und sie kaufen weniger, außer den Norwegern. Die kaufen. Die Türken gehen vor allem in die Restaurants. Er sagt, sein Geld reicht noch bis Weihnachten. Dann muss er sich irgendetwas einfallen lassen. Er malt mehr Ikonen jetzt, verkauft sie aber viel zu billig. Ich muss ihn fast zwingen, für eine Ikone 300€ zu nehmen statt 200€. Dafür will er mich dann zum Essen einladen. Das Stück Land mit den Olivenbäumen, das er letztes Jahr noch verkaufen wollte, hat er jetzt doch nicht verkauft. Man hat ihm die Hälfte des Preises geboten, den er haben wollte. Jetzt lässt er einen Albaner die Oliven ernten und teilt die Ernte mit ihm. Sein Öl verkauft er dann an die Olivenpresse, da kriegt er 1,50€ für einen Liter. Er hat vor, das Haus seiner Mutter, die letztes Jahr gestorben ist, als Airbnb herzurichten, bloß fehlt ihm das Geld für die Renovierung. Er stellt es sich aber schön vor. Ein bisschen wie "Wohnen am Bauernhof". Er hat auch vor, ein Atelier einzurichten, in dem er Touristen empfangen kann. Vielleicht Kurse geben. Ich möchte ihn auf Tournee in Deutschland schicken, "Ikonenmalerei für Anfänger", und er sagt nicht nein, aber das muss man auch erstmal in die Wege leiten.

Er zeigt mir einige von seinen neueren Arbeiten auf dem Handy. Eine Skulptur erinnert mich an Picassos Bullenkopf. Und tatsächlich erzählt er, dass er in Izmir gerade eine Picasso-Ausstellung gesehen hat, u.a. den Bullenkopf. Am meisten haben ihm die kleinen Zeichnungen gefallen, "Müll" aus Picassos Atelier, die ein Freund vom Boden aufklaubte. Er fragt mich, ob ich Tagebuch schreibe. Ja. Erzählt dann von dem Tagebuch seines Vaters. Er habe nur die reinen Fakten notiert. Die Arbeit des Tages. Käufe. Das Wetter. Aber das sei heute interessant zu lesen. Giorgos hat im Sommer einen französischen Archäologen kennengelernt. Der sammelt Tagebücher von ganz normalen Menschen zu Forschungszwecken. Alltagsgeschichtsschreibung. Tagebucharchäologie.

Wir reden über unsere Zähne. Er braucht eine neue Brücke, das wird 1700-2000€ kosten. Er könnte es in der Türkei billiger machen, hat aber hier einen Zahnarzt, der sehr genau ist und gründlich. Die Brücke wird den Rest seines Lebens halten, wenn er sie dort machen lässt. Dann beschreibt er, wie es in der Zahnarztpraxis aussieht: schmutzig, überall laufen und liegen Katzen und Hunde herum. "Mit anderen Worten", sage ich, "erst musst du die Behandlung überleben. Dann werden die Zähne ewig halten." Er lacht.

Er schlägt vor, dass er mich morgen zur Tierärztin bringen könnte. Oder ich kann sein Auto leihen.

Bevor ich gehe, lässt er noch seine Wut auf Angela Merkel raus, die "nur die reichen Syrier" wollte, dann habe sie die Grenzen geschlossen. Ich melde Zweifel an. Aber er ist nicht gut auf die deutsche Kanzlerin zu sprechen.

Mache einem kurzen Abstecher zu Theodosos, bei dem ich zwei Kilo Zucker und Zitronensäure für die Quittenpaste kaufe, die ich heute machen will. Er sagt mir, dass er die Quitten einfach so isst, roh, das schmeckt ihm am besten. Er schneidet mit einem imaginären Messer ein imaginäres Stück Quitte ab und führt es zum Mund. Ich sage, dass ich es probieren werde.

Dann gehe ich an den Strand. Heute schwimme ich zweimal, dazwischen mache ich eine Skizze von den Steinen, über die das Wasser spült. Insekten nagen an meinen Fesseln, Ameisen krabbeln in meine Hosenbeine. Ich habe mich schon blutig gekratzt.

Eine Griechin mit Schirmmütze kommt und legt ihre Badekleider auf das Mäuerchen. Wir reden kurz darüber, wie wunderbar das Wetter heute ist, und das Wasser: perfekt zum Schwimmen. Ein Jogger läuft in kurzen Hosen vorbei. Sonst ist es menschenleer. Die gespenstische Hotelanlage mit dem bombastischen, jetzt verkommenen, Garten.

Auf dem Rückweg stecke ich wieder eine Mandel in die Hosentasche. Kein Mensch erntet hier. Kalamata-Oliven, Orangen in rauen Mengen. Ich sammle ein paar Oliven auf, werfe sie aber dann wieder weg. Manchmal habe ich keine Lust, mir noch mehr Arbeit aufzuhalsen.

Zuhause beginne ich mit der langwierigen Arbeit für die Quittenpaste. Georgos schreibt, dass er jetzt noch rausgeht zum Laufen. Er schickt ein Bild von der Ikone, "für deine Träume".

Es ist schon lange dunkel.

Die Quittenpaste köchelt vor sich hin.

Montag, 11. November 2019

11/11

1. Der Kopf voll und leer gleichzeitig. Zu viel geschrieben, korrigiert, geschrieben. Der Körper auf dem Stuhl zusammengesackt. Nur die Hände auf der Tastatur lebendig. Das eine Auge, das verschmiert sieht. Die Schmerzen am Hals von den Insektenstichen oder - bissen.

2. Die Erinnerung an die Stunde am Meer. Das Bad im kühlen Wasser. Ich hätte weiter schwimmen können, aber die Vernunft ließ mich umkehren. Später saß ich auf dem Mäuerchen, führte den Stift über das Papier, das Auge wanderte hin und her zwischen dem Papier und dem, was ich zeichnete. Ein tropfnasser Hund näherte sich. Ich sah das Halsband und war gleich erleichtert. Er erschrak über eine jähe Bewegung von mir. Ich versuchte ihn zu beruhigen, er fasste etwas Vertrauen. Dann kam sein Mensch, seine Menschin, eine junge Frau. Ein Lächeln, das die Besitzerin wechselt. Ein scheußlich vermurkstes Gespräch mit Ch. mittags in einer Taverne, das ich gerne ganz und gar von mir abgewaschen hätte im Meereswasser. Alles kam einfach nur falsch raus, kam falsch an. Ich sammelte Mandeln auf, auf dem Weg zum Fahrrad. Es wurde schon dunkel. Pflückte die trotz der Dämmerung noch leuchtend gelben Quitten vom Baum des Gemüsebauern, der jetzt zu alt ist, um sich um sein Land zu kümmern. Früher bin ich zu seinem Pfeifen und Singen aufgewacht. Und zum Wasserfall der Schafsglocken. Auf der ehemaligen Schafswiese steht jetzt eine seltsame, hässliche Hausburg. Besitzer aus England.

3. Der Fuchs kam am Abend, machte Geräusche auf der Terrasse, die die Katzen aufmerken ließen. Ich öffnete die Terrassentür, sah ihn davonhuschen. Er knabberte am Katzenfutter, das ich ein paar Schritte vom Haus weg für den rothaarigen Kater hingelegt hatte. Es ist immer magisch, schön und ein wenig beunruhigend, wenn der Fuchs sich hier herumtreibt. Ist es immer der gleiche, oder wechseln sie einander ab? Die tiefe Nacht. Natürlich bin ich (fast) immer traurig. Es gehört dazu.

Sonntag, 10. November 2019

9-10/11


Zwei ertragreiche Tage: Gestern mit U zur Olivenpresse. Während wir warten, mache ich eine Skizze von den Olivensäcken, die vor der Presse in der Schlange liegen. Wir dürfen uns dazwischen drängen, mit unseren popeligen 160 kg Oliven. Der Chef sagt das. Der Gabelstapelfahrer ist aber sauer auf uns (oder auf den Chef) und kippt demonstrativ erstmal andere Fuhren in den Trichter. Zuckt mit den Schultern, als U protestiert. Dahergelaufenes Pack, sagt seine Körpersprache.

In der warmen olivenölschweren Luft der Halle. Ohrenbetäubender Lärm. In Schweden müsste man Gehörschutz tragen, von Gesetz wegen. Wir sitzen auf der "Wartebank" und unterhalten uns von Mund zu Ohr. Immer wieder grüßt U Bekannte, macht Small Talk. Eine Griechin packt ein Stück Weißbrot aus und hält es feierlich unter den Olivenölstrahl. "Göttlich", teilt uns ihre Mimik mit. Der "Chemiker" tropft ein paar Tropfen von einer blauen Chemikalie in ein Reagenzglas, mischt sie mit ein paar Tropfen von unserem frischen Olivenöl. Die Säure liegt bei 1, lässt er uns wissen. U sagt, die meisten haben eine Säure um die 1,8. Wir waren gründlich beim Rausklauben der Zweige. Musterschüler.

Die 48 kg von Ps und meinem Baum ergaben 12 Liter. Mit diesem Gefühl des Reichtums und einem Kanister nach Hause kommen. Mache mich, nach einem Mittagessen, das aus Eiern, Salat und in Olivenöl geröstetem Brot besteht, an den Schuppen. Klettere aufs Dach. Dichte die Fugen mit grauem Silikon ab. Eine Drecksarbeit.

Das Buch von Colson Whitehead ist jetzt ausgelesen. Melancholie, ein Gefühl des Verlorenseins, weil es mir nicht richtig vorkommt, jetzt einfach nahtlos etwas anderes zu lesen.

Punxy hat eine Entwurmungstablette in einem Stück Souvlaki bekommen. Ich hoffe, dass ihr Zustand sich bald bessert. Der Gedanke, am Montag ein Auto zu mieten und mit ihr zum Tierarzt zu fahren, muntert mich nicht gerade auf.

Abends wie immer eine Viertelstunde Griechisch gelernt. Auch am Morgen, während der Espressokocher auf dem Herd steht.

                                                                             ---

Heute nach einer Vormittagsskizze eine Wanderung gemacht. Erst mit dem Fahrrad zum Reservoir, dann weiter gegangen. Es war heiß. Schafgatter öffnen, schließen. Darüber klettern. Es sind meistens Armierungsgitter, mit einem Stück Seil oder mit Draht zusammengebunden.

Verlief mich auf dem Weg durchs Tal von Ligona. Was aussah wie ein Wanderweg, war ein Schafspfad, der sich dann zu Hunderten von Schafspfaden verzweigte. Teilweise ging ich fast auf allen Vieren, fühlte mich selber wie ein Schaf, steil den Berg hoch, kam aber dann in eine Sackgasse, musste wieder zurück gehen. Die Schafe hielten im Grasen inne und schauten mich unbewegt an. Ich kletterte weiter, kroch, hielt mich an Ästen fest.

Endlich ein Weg, den ich wiedererkenne. Die Schafe drehen ihre Köpfe in meine Richtung. Als ich näher komme, rennen sie (nach einer kurzen Denkpause) in Staubwolken davon. Widderschädel mit gedrehten Hörnern, an den Zaun gezurrt, wahrscheinlich als Schutz gegen das Böse oder als Warnung an die unrechtmäßigen Eindringlinge.

Petri. Die Taverne, in der ich etwas essen und mit A skypen wollte, ist geschlossen. Nicht nur geschlossen, sondern weg. An der Stelle gähnt ein Loch. Ein Mann, der daneben ein Auto mit Feuerholz entlädt, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander, als ich frage, warum. Das Geld. Es reichte nicht.

Überall das Gleiche: Die Touristen bleiben weg. Erst wegen der Krise, dann wegen den Flüchtlingen. Die Charterunternehmen haben Konkurs gemacht, die Flüge sind zu ungünstigen Zeiten, auch teurer geworden. Dieses Gefühl der Auswegslosigkeit. So viele wichtige Ziele (für Einheimische und Touristen), die plötzlich geschlossen sind.

Die Frau mit dem Weißbrot in der Olivenpresse sagte, sie könne die Jammerei nicht mehr ausstehen. Sobald jemand anfängt zu jammern, geht sie.

Ich setze mich auf eine Mauer und skype mit A. Er sitzt noch im Morgenmantel auf dem Bett und isst Frühstück. Wir reden über seine Ankunft auf Kos. Über seine Angst, von den Schleppern reingelegt zu werden. Sie mussten sich selber in Izmir Gummireifen und Schwimmwesten kaufen. Als er dann in Bodrum im Gummiboot saß, war plötzlich alle Angst wie weggeblasen.

Es ist unbequem, ohne feste Unterlage mitzuschreiben. Manchmal drehe ich das Telefon um und zeige A die Aussicht. Ein kleiner Hund liegt mitten auf der Straße und ruht sich aus. A lacht. Vom Bellen hat er darauf geschlossen, dass der Hund viel größer ist.

Auf dem Rückweg folge ich der Markierung. Balanciere über die Felsen. Laufe vorbei an Walnussbäumen, Quittenbäumen. Eine alte Kulturlandschaft, jetzt Wald. Setze mich zweimal, um eine kurze Skizze zu machen.

Dann das Fahrrad aufgabeln, nach Hause rollen.

Dusche, Abendessen, Wein, Abspülen. Diese Notizen.

Freitag, 8. November 2019

7-8/11

Gestern fuhr ich nach dem Mittagessen mit dem Fahrrad nach Petra. Der halbe Weg bergauf, der halbe Weg bergab. Die Sonne schien. Das Meer blendete. Kaufte im Eisenwarenladen Holzbeize für den Schuppen und eine Silikonmasse zum Abdichten der Dachpappenfugen.

Strich, wieder zu Hause, den halben Schuppen.

Dann Olivenernte. Wir waren zu neunt. Sieben Frauen und zwei Männer. Eine schöne Arbeit. Alle waren konzentriert bei der Sache. Fünf Bäume in zweieinhalb Stunden. P und mein eigener Baum ergab fast drei Säcke. Als wir fertig waren, war es dunkel und ich aß die Reste des Essens, das ich mir hatte einpacken lassen, als ich mit Ch Mittwoch Abend im Alonia aß. Heißhungrig. Fisch, Aubergine, Tzatziki, Rote-Bete-Salat, Grünzeug. Wein dazu. Brot aus dem Gefrierfach, in der Pfanne geröstet.

Vormittagsarbeit am Schreibtisch. Wenig begeistert von dem, was ich schreibe. Aber jetzt mach ich das, was ich angefangen habe, fertig, bevor ich mit etwas Neuem anfange.

Malte abends zwei zittrige Orangen und eine Quitte und war erstaunt, dass so viele Leute auf Instagram ein Herzchen anklickten. Las weiter in Colson Whiteheads "The Underground Railroad", gefesselt, schockiert, tieftraurig.

                                                            -----------

Heute früh ging ich auf dem Grundstück herum und sammelte verstreute Oliven auf, die gestern neben das Netz gefallen waren. Klaubte dann die heruntergefallenen Zweige auf und stopfte sie in Plastiksäcke. Begann mit der Wäsche. Alle meine Nachbarn sind inzwischen nach Hause gefahren.

Es war Taxiarchis-Feiertag, und viele Geschäfte im Dorf hatten geschlossen. Ich fand einen kleinen Lebensmittelladen, der offen hatte, kaufte auf Griechisch ein: Schafsyoghurt, Eier, Katzenfutter. Der alte Besitzer (Vater des jetzigen Besitzers) schenkte mir noch zwei Granatäpfel obendrauf.

Im Platanaki trank ich einen frisch gepressten Orangensaft und wartete darauf, dass es Zeit wurde, A anzurufen. Eine Frau saß mit einem Hund auf dem Schoß neben mir. Erst war ich gerührt. Als sie ihn auf dem Boden absetzte, sah ich, dass er total fett war. So ist es. Unsere Liebe schadet oft genauso viel wie unsere Gleichgültigkeit.

Gespräch mit A über den Tag seiner Abreise aus Syrien. Er erzählt auch, dass es L nicht gut geht - es ist ihm schwindlig und er wäre gestern fast ohnmächtig geworden. A fühlt sich sehr wohl bei seiner neuen Arbeit im Krankenhaus. Ich komme jetzt gut zurecht, erzählt er. Stolz sagt er, dass er in ein paar Tagen "After Work" hat. Sein erstes eigenes "After Work", seit er in Schweden ist.

Gehe eine Runde im Dorf, kaufe ein Spinatpie in der Bäckerei (auf Griechisch) und mache dann eine sehr schnelle Skizze von dem türkischen Brunnen und vom Bäckerei-Eingang. Katzen streichen vorbei und hoffen, dass ich was zu fressen für sie habe, aber es ist nur die Blechschachtel mit den Aquarellfarben.

Dann, wieder zu Hause, den Schuppen fertig gestrichen. Zwei weitere Ladungen Wäsche gewaschen. Orangen geerntet. Gelesen.

Ich suche unter dem Dach nach Entwurmungstabletten für die Katzen, finde aber nur eine einzige. Punxy macht mir Sorgen, weil sie immer wieder komisch hustet. Vielleicht muss ich am Montag mit ihr zur Tierärztin, wenigstens anrufen.


Mittwoch, 6. November 2019

5/11

Endlich früher aufgestanden, mich früher an die Arbeit gemacht. Aber nicht zufrieden damit, sondern bedrückt. Warum lande ich beim Schreiben immer wieder in dieser Schwere?

Mittagessen im Freien: Linsen, Couscous mit Gemüse, Salat mit Avocado. Die Sonne scheint.

Ich schaufle die heruntergefallenen Oliven auf. Fege die Treppe.

Mache mich auf den Weg zum Meer. Das Eisentor, das zum Strand führt, ist geschlossen. Ich gehe durch die Hotelanlage vom Hotel Delphinia. Suche mir einen guten Platz zum Zeichnen und setze mich auf meine Jacke. Es wird ein Panoramabild vom Strand und Meer. Drei Regentropfen fallen aufs Papier, dann hört es wieder auf zu regnen.

Hinterher Kaffeetrinken mit U und T im Café Platanaki. Sie haben seit fünfzehn Jahren das Apartement neben unserem. Eigentlich wirken sie bedrückt und wenig enthusiastisch, bewegen sich selten von ihrem kleinen Grundstück weg. Wir reden darüber, wie das Dorf sich in den letzten Jahren verändert hat. Es gibt in der letzten Zeit nur mehr und mehr Verfall, Schließungen. Leute ziehen weg. Ein Gefühl der Lähmung. Ich denke laut, dass eine andere Art von Tourismus nötig wäre. Die Leute da abholen, wo sie sind. Öko-Urlaub. Urlaub in Familien. Griechisch kochen. Besuche bei Schafbauern. Wie macht man Feta-Käse? Ich rede von meinen Ideen "Frühstück in der Natur" und "Kaffee mit Aussicht" (mit deutschen Kuchen). Wir tauen dann doch auf, sitzen lange da, unterhalten uns gut.

Der Besitzer sagt: "Ich mache um 17 Uhr zu. Aber ihr könnt bleiben, so lange ihr wollt. Wenn ihr wollt, bis morgen früh."
"Ja, aber dann musst du das Fenster zumachen, weil es zieht", sagt U.
Es ist lustig, weil wir draußen sitzen und vom Wind durchgeblasen werden.

Kleinigkeiten reichen, damit ich unruhig werde. Ein Zeitungsartikel in der SZ über Hartz-IV-Empfänger in Deutschland, denen die Zuwendungen gekürzt werden, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Was kann man dagegen haben? Ja, schon, aber wie kann man rechtfertigen, dass man Menschen ins Nichts fallen lässt?

Ich esse Reste vom Mittagessen, als ich wieder zu Hause bin. Ganz unerklärlich müde. Schon vor acht Uhr lege ich mich ins Bett und schlafe ein. Wache dann um Mitternacht wieder auf, lese in "Underground Railroad" von Colson Whitehead, das in der Zeit spielt, in der Sklavenhandel in den Südstaaten der USA noch an der Tagesordnung war. Erschütternd und traurig. Ich bin aber auch glücklich über jemanden, der so gut schreiben kann, der die Menschen so zum Leben erwecken kann.

Ich habe lange geglaubt, dass die Geschichtsschreibung immer Gerechtigkeit übt.  Ich glaube es immer noch. Aber man muss einen langen Atem haben. Und nicht alle wollen es dann wissen.

Montag, 4. November 2019

4/11

Giannis kommt am Morgen mit seiner Motorsäge, um den Baum auf dem Nachbargrundstück zu beschneiden, der aussieht, als würde er nicht mehr lange leben. Wenn an den Schnittstellen im Frühling nichts mehr nachwächst, muss er ganz gefällt werden.

Die Nachbarinnen U und T stehen daneben und sehen unglücklich aus, auch wegen dem logistischen Problem, das die abgeschnittenen Äste jetzt darstellen.

Stelle im Keller gemeinsam mit B die Zeitschaltuhr für die Heizung ein.

B und I reisen morgen ab. Sie lassen mir ihre Lebensmittel hier und auch das Gift, mit dem ich die Insekten besprühen soll, die momentan das Haus invadieren. Ich darf ihre Apfelsinen vom Baum pflücken und essen.

Bald bin ich ganz alleine hier.

Es ist Regen angesagt für heute. Es ist bewölkt und windig. Eine seltsame drückende Wärme. Am frühen Morgen bereits 20 Grad. Kurz kommen am frühen Nachmittag dicke Regentropfen vom Himmel, dann ist es wieder vorbei. Jetzt sind gerade einige lange Donnerschläge zu hören gewesem. Es blitzt. Etwas steht kurz vor dem Ausbruch, aber es passiert nicht. Vielleicht ist deshalb meine Stimmung heute so gedrückt.

Gehe mittags zu Ignatius zum Essen, nach meiner Arbeit. Wie erwartet, sitzt auch Ch. dort, vor einem Glas Wein, ein Buch in der Hand. Ich setze mich zu ihr, bestelle kleine frittierte Fische, einen gemischten Salat, ein Glas Wein, Wasser.

Ch. redet viel, wie immer, über Gott und die Welt. Als hätte jemand einen Stöpsel gezogen. Ich höre zu, während ich die kleinen Fische mit den Fingern esse, die Köpfe abzupfe, das Fleisch abziehe, das Rückgrat entferne, meine fettigen Finger hin und wieder an einer Serviette abwische, um einen Schluck von meinem Wein zu trinken oder etwas Salat zu essen.

Als ich mit dem Essen fertig bin, schickt einer der Gäste zwei weitere Gläser Wein an unseren Tisch. Ich bin es nicht gewöhnt, so viel zu trinken, kann den Wein aber auch nicht stehen lassen, es wäre unhöflich. Wir dürfen auch ein Stück von dem Riesenpilz probieren, den der Mann heute früh im Wald gefunden und den die Tavernenbesitzerin und Köchin jetzt für ihn und seine Freunde frittiert hat. Er schmeckt delikat, ist zart und weich.

Gehe zu Theodosos einkaufen. Er fragt mich, wie es mit meinem Griechisch aussieht. Ich arbeite dran, sage ich. Ich kaufe Milch, Haferflocken, Zutaten für griechischen Salat, Wein und Wasser. Hinterher habe ich das Gefühl, dass ich zu laut geredet habe, dass er vielleicht gemerkt hat, dass ich mitten am Tag zu viel getrunken habe.

Eine Zeichnung vom Olivenbaum, dann von den griechischen Hausschuhen.

Hole mit der Taschenlampe Wasser im Kanister vom Brunnen der Nachbarn.

Mache mir einen Kakao, um meine Stimmung etwas zu heben.

Es dauert ewig, all das hier aufzuschreiben.

Sonntag, 3. November 2019

Griechische Skizzen November 2019

1/11

Ankunft auf Lesbos. Ein Rudel Straßenhunde begrüßt die neu angekommene Fähre.

So viele schlecht gelaunte Gesichter begegnen mir an diesem sonnigen Morgen.

Frühstück im Café Panellino. Omelette und Nescafé. Ich mache meine erste Skizze: Cafébesucher.

Dann ziehe ich meinen Rollkoffer zum Busbahnhof und kaufe mir eine Fahrkarte.

Die so wohlbekannte Fahrt über die Insel. Ich verliere mich in meinem Handy, lese ein paar Seiten in meinem Buch, schaue nur hin und wieder zerstreut aus dem Fenster.

Ich frage mich, wie die Insel ausgesehen hat, als die ersten Menschen dorthin kamen. Waren die Olivenbäume schon da? Wie hat man entdeckt, was man mit den bitteren Früchten alles anstellen kann? Und woher kamen die Schafe? Hat man sie hierher gebracht? Woher kommen Schafe überhaupt? Könnte man die Zeit zurückdrehen, nur für einen kurzen Augenblick, um zu verstehen! Wer hat das erste Haus gebaut? Und wo, wie?

Und könnte ich verstehen, was die Leute im Bus einander zurufen, was sie in ihr Handy reden. Wenn ich etwas auf Griechisch sage, antwortet man mir auf Englisch. Oder ich muss selber nach einem Satz zu Englisch wechseln.

Gehe im kleinen Lebensmittelladen am Dorfeingang ein paar Lebensmittel einkaufen. Tomate, Gurke, Zwiebeln, ein Päckchen Fetakäse, Oliven, eine Flasche Wasser, Milch. Ziehe den Koffer zum Haus. Die Sonne scheint. Es ist warm.

Mache mir Kaffee mit warmer Milch. Die Katzen trudeln ein. Ich schütte Futter in ihre Schalen. Packe meine Sachen aus und verteile sie in Schränken, auf dem Bett. Mache mir einen griechischen Salat und trinke ein Glas Retsina mit Sodawasser dazu.

Gehe nicht ins Dorf. Abends esse ich ein paar Cracker aus dem Schrank mit Käse, den P im Kühlschrank zurückgelassen hat. Lese in meinem Buch, auf dem Bett ausgestreckt.

2/11

Hole mein Fahrrad aus dem Schuppen. Ganz eingewebt von Spinnweben, die Reifen fast platt. Schiebe es zur Tankstelle zum Aufpumpen.

Als ich am Café mit der Plastikplane vorbeiradle, sehe ich Yorgos und Giorgos. Wir winken, ich stelle mein Fahrrad ab, setze mich zu ihnen, bestelle eine Tasse Kaffee. Worüber soll man reden? Giorgos freut sich sichtlich, aber das macht das Reden nicht leichter. Yorgos sagt, dass er gleich noch zum Schwimmen geht. "In Schweden bin ich schon seit einem Monat mit Winterjacke und Handschuhen herumgelaufen", sage ich. Wir lachen. Giorgos blättert mein Skizzenbuch durch und gibt mir ein "Daumen hoch". Yorgos ist mit dem Renovieren seiner Pension kein Stück weiter gekommen in diesem Jahr. Jetzt erntet er seine Oliven. Das dauert, wenn man allein ist. Giorgos sagt, dass die Ikone für F schon fast fertig ist. In drei Tagen kann ich sie abholen. Auf seinem Handy sucht er ein Foto, das er von seinen eingelegten grünen Oliven gemacht hat. Er erklärt mir, wie man dabei vorgeht: Oliven zerquetschen, dann ein paar Tage wässern (das Wasser jeden Tag wechseln!), schließlich salzen. Essen. Yorgos verabschiedet sich und legt zwei Euro für meinen Kaffee auf den Tisch. "Nächstes Mal zahle ich", sagt Giorgos. "Melde dich", sagt er, als wir uns bei meinem Fahrrad trennen. Er fährt jetzt erst einmal ein paar Tage in die Türkei, zu seiner Freundin.

Ich gehe zur Burg, um einen Kaffee zu trinken, aber das Café Byzantinos ist geschlossen. Setze mich auf eine Mauer und nehme mein Skizzenbuch aus dem Rucksack. Eine Gruppe laut schnatternder türkischer Touristen kommt die Straße hoch. Der Reiseführer stellt sich neben mich und schaut mir beim Zeichnen über die Schulter. "Ich bin Amateurin", sage ich entschuldigend. Er sagt etwas Aufmunterndes und wendet sich dann seiner Gruppe zu. Sie schnattern einfach weiter. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand seinen Ausführungen zuhört.

Gehe durchs Dorf hinunter, im Gewusel der türkischen Touristen, die herumschauen, Bilder mit den Handys machen, jetzt auch Fragen an ihren Reiseleiter richten, der sie geduldig beantwortet. Einer von ihnen klettert auf eine niedrige Mauer und pflückt Mandeln von einem Baum, der mir bisher noch nie aufgefallen ist. Die anderen knacken sie mithilfe von aufgeklaubten Steinen und essen sie an Ort und Stelle. Ich bekomme eine geschälte Mandel zum Probieren.

3/11

Spaziergang. Hinter der Tankstelle rechts, über das ausgetrocknete Flussbett, dann auf einem schmalen Weg zwischen Grundstücken. Olivenhaine, bellende Hunde, wiehernde Pferde.

Die Sonne scheint. Ich habe ein langärmliges T-Shirt und eine Leinenhose an, aber es ist mir zu warm.

Olivenernte. Es ist immer die gesamte Familie daran beteiligt. Die Männer schlagen die Oliven herunter. Die Frauen klauben die Blätter und Zweige weg und füllen die Säcke.

(Denke gerade daran, dass ich morgen Wasser holen muss.)

Muss über ein paar provisorische Wegabsperrungen steigen bzw. den Draht aufbiegen, der sie festhält, und sie dann wieder befestigen. Vorbei an privaten Müllhalden, einer Schafshütte. Zäune aus rostigen Bettgestellen. Zusammengenagelte Wände. Upcycling auf griechische Art. Überall, wo man sie in Ruhe lässt, bekommt die Natur wieder die Oberhand. Es sprießt und wächst und wuchert.

Ich laufe am Grundstück der albanischen Familie vorbei, die seit Jahren hier am Straßenrand einen Gemüsestand hat. Die Gemüsebeete von damals habens sich zu einem regelrechten Bauernhof gemausert, mit Ziegen, Kühen, Hühnern. Zu einem Haus reicht es aber offensichtlich noch nicht. Die ganze Familie lebt immer noch im Wohnwagen. Ich mag nicht dran denken, welches Schicksal den Kälbern blüht, die sie in einem kleinen Auslauf halten.

Der leuchtend blaue Meerstreifen. Ausgestorbene Hotelanlagen. Irgendwann einmal gebaut, um Touristenträume zu erfüllen. Aber wer will heute noch so Urlaub machen? Außer All-Inclusive-Touristen, denke ich böse.

Das Restaurant von Eftalou ist geschlossen, die Plastikwände sind herunter gelassen, der Schornstein ist eingepackt. Die Katzen scharen sich um die Müllcontainer.

Auch die heiße Quelle ist heute nicht in Betrieb, aber ein paar griechische Badegäste haben die Eisentür aus den Angeln gehoben und liegen in dem Becken mit dem heißen Wasser. Ich ziehe mich um. Dusche kalt unter der Dusche im Freien, lege mich dann in das warme Wasser. Balanciere über die Steine zum Meer, schwimme hinaus.

Ein griechisches Paar geht. Jetzt teile ich das Badehaus mit zwei Männern. Komisch, wie man sich als Frau an den Argwohn gewöhnt, selbst wenn er völlig aus der Luft gegriffen ist. Dreimal tauche ich in das heiße Becken, dreimal gehe ich ins Meer. Dann ziehe ich mich um. Die Männer sind inzwischen schon gegangen, ich schäme mich wegen meinen Gedanken.

Der Verfall, die Verwahrlosung: Weiße Schimmelkissen an den Wänden, die feuchte Farbe blättert ab. Die Tür geht nicht mehr zu schließen. Das verwitterte, morsche Holz. Darüber hat man leuchtend blauen Lack gepinselt. Die Dichtungswolle um den Türrahmen liegt bloß, quillt vor. Wenn man es sich selbst überlässt, dauert es nicht lang, bevor es von der Natur in ihre Arme genommen wird. Plötzlich das innere Bild: Das Badehaus fällt in sich zusammen. Ein Haufen Steine, ein paar verfaulende Holzlatten bleiben übrig. Reste, die von Menschenhand zeugen. Ein paar Badeschuhe, eine Badehose aus Synthetikmaterial. Eine zerbrochene Matte aus Plastik. Ein paar Sonnenliegen. Nur das Wasser sprudelt immer noch heiß aus dem Inneren der Erde, wie seit Tausenden von Jahren.

Die schwarzweiße Katze, die schon seit Jahren zu diesem Platz gehört, begleitet mich, als ich gehe. Den ganzen Winter ist sie sich selber überlassen. Wenn sie Glück hat, kommt jemand einmal am Tag und füttert sie. Wir gehen ein Stück zusammen. Irgendwann bleibt sie stehen, neben einem Müllcontainer, der vielleicht das Ende von ihrem Revier markiert. Nach einer Weile drehe ich mich nach ihr um. Sie sitzt immer noch da und schaut mir nach. Keine Ahnung, was in einem Katzenkopf vor sich geht.

Auf dem Sandweg begegne ich einem Rudel Schafen, die hier ausschwärmen dürfen, von ihrem Menschen begleitet. Eines stellt sich auf zwei Hinterbeine, pflückt Blätter von einem Baum. Sie drehen um, als ich komme, laufen in einer Staubwolke vor mir her, in den Sonnenuntergang hinein.

Als ich heimkomme, ist es schon dunkel. Ich hänge die Badekleider auf. Mache mir etwas zu essen. Setze mich auf die Terrasse, an einen der blauen Tische. Trinke etwas Retsina mit Sodawasser. Füge der Skizze, die ich der heißen Quelle gemacht habe, noch ein paar Pinselstriche hinzu.

Freitag, 25. Oktober 2019

Freitag

Warum habe ich so oft Probleme mit dem Einschlafen, wenn ich weiß, dass ich am nächsten Tag früh aufstehen muss?

Las im Bett in Richard Sennetts Buch "Der flexible Mensch".

Fiel zum zweiten Mal diese Woche.

1) (vor ein paar Tagen) Hob etwas vom Boden auf und schob dabei den Stuhl beiseite, auf dem ich gerade gesessen hatte. Dann versuchte ich, mich auf eben diesen Stuhl zu setzen, er stand aber nicht mehr da. Landete mit voller Wucht auf dem Boden.

2) (heute) Trug Ls Rollstuhl mit seinem Rucksack die Treppe hinunter und verpasste den letzten Treppenabsatz. Fiel vornüber und prellte mir mein Knie, als ich auf dem harten Steinboden aufkam.



Mittwoch, 23. Oktober 2019

Mittwoch

Ich rufe in der Röntgenabteilung des Krankenhauses an und frage, ob ich schon einen Termin für mein cbct-Röntgen bekommen habe, das die Zahnchirurgin für mich angeordnet hat. Als ich sagen will, wann ich in Urlaub fahre, bringe ich die Daten völlig durcheinander. Erst sage ich sie richtig, werde dann unsicher, korrigiere mich, versuche mich zu orientieren. Ich weiß plötzlich nicht einmal, welcher Tag heute ist, fange mich aber dann schnell wieder. Glücklicherweise bekomme ich noch einen Termin für nächste Woche.

Zu P sagte ich vorgestern am Telefon: "Jetzt ist ja bald Sommer".

Eine leichte Unruhe liegt im Raum. Ist was los mit mir?

Ein Nachbar spricht mich durch mein geöffnetes Küchenfenster an. Ob ich auch so viele Silberfischchen in meiner Wohnung habe. Er kann sich vor Silberfischchen gar nicht mehr retten. Er staubsaugt jetzt jeden Tag, aber es reicht nicht. Bei mir sind keine Silberfischchen, sage ich, und im selben Moment fühle ich mich schuldig, als hätte ich soeben gelogen.

Kurze Zeit später möchte er mir noch etwas sagen: Die eine Waschmaschine im Keller klickt beim Waschen, als würde sie sich ständig ein- und ausschalten. Außerdem riecht seine Wäsche komisch. Ich gehe zum Waschkeller und schalte die Waschmaschine probeweise ein, kann aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Ich stecke meinen Kopf in die Waschtrommel und schnuppere. Es riecht ganz normal, finde ich.

Manchmal kommt es mir vor, als würde ich mich in einem seltsamen Film befinden. Dazu gehört auch, dass die Nase meines Nachbarn ganz eingepflastert war.

Dienstag, 22. Oktober 2019

Dienstag

Jeden Morgen schaue ich als Erstes nach, ob Trump immer noch sein Amt ausüben darf. Ein deprimierender Tagesanfang, seit drei Jahren schon.

Aß heute im Ko Thai zu Mittag. Es war wie immer sehr gut. Ich hatte mein Handy zuhause gelassen und mein Buch vergessen und wurde plötzlich mit meiner Rastlosigkeit konfrontiert. Las die Speisekarte dreimal. Schaute aus dem Fenster auf einen großen Parkplatz. Eine Frau mit aufgespritzten Lippen. Ihr Freund, der sie mit einer Hand vor sich herschob. In der anderen hielt er eine Zigarette.

Brachte zuvor endlich die von meiner Küchenrenovierung von vor zwei Jahren übrig gebliebenen Kacheln weg, außerdem einen kleinen Gitarrenverstärker, einen Fahrradhelm, ein paar ausrangierte Brillen.

Sprach mit K am Telefon. Ich versuchte ganz ehrlich zu sein, und sie antwortete auch mit Ehrlichkeit. Wir haben uns verletzbar füreinander gemacht. Sie weiß jetzt, wer ihr Vater war. Leider lebt er seit vier Jahren schon nicht mehr, aber sie fährt zum Jahreswechsel nach Las Palmas, um etwas mehr über ihn herauszufinden.

Habe heute wieder alles schleifen lassen, aber wenigstens ein wenig Griechisch und Portugiesisch gelernt und dann eine Lektion meines Zeichenkurses absolviert. Figuren gezeichnet: geschwungene Linien, Kreise, Eier, freie Formen. Ich zeichnete ein Porträt von Johannes Kepler, benützte meine Erdpigmentfarben und war sehr zufrieden mit dem Resultat.

Holte ein Buch aus der Bibliothek ab. Designing Regenerative Cultures von Daniel Christian Wahl.

Abends ging ich ins Aikido, fühlte mich aber schwach und hungrig. Ich sprach hinterher lange mit J, der jetzt offiziell eine Arbeit als Architekt sucht. Seine Sanftheit und die Geschmeidigkeit in seinem Aikido. Ich mag ihn sehr. Es ist mir unmöglich, mir vorzustellen, dass er jemals wütend wird.




Sonntag, 20. Oktober 2019

Sonntag allein

Am Vormittag flickte ich meine alte Levis. Sie hat schon viele Flicken und hat jetzt noch einen bekommen. Hinten war ein neues Loch. Ich nähte ein Stück Stoff von innen dagegen, mit Stichen in Spiralform. Dann veröffentlichte ich ein Bild von meiner geflickten Jeans auf Instagram. Immer wieder schaute ich im Laufe des Tages nach, wie viele Leute ein Herzchen angeklickt haben. Die geflickte Jeans war ein Renner. Jetzt, am Abend habe ich schon fast 50 Herzchen, aus aller Welt. Mein Tageserfolg.

Ich fuhr mit meiner neugeflickten Jeans in die Kunsthalle und schaute mir eine Ausstellung von Michael Rakowitz an (der aus einer irakisch-jüdischen Familie stammt und in New York lebt): The Invisible Enemy Should Not Exist. Als ich in der Buchhandlung ein wenig zerstreut in Büchern blätterte, durchfuhr mich plötzlich eine Einsicht, wie vieles ich nicht getan oder gesagt habe, aus Angst vor der Reaktion (Ablehnung) anderer. Deshalb bin ich auch immer am liebsten alleine gewesen. Um dieser Unruhe/Angst zu entgehen. Mein Leben: ein Resultat meiner Vermeidungsstrategie. Und jetzt kommt mir vor, dass ich endgültig in einer Sackgasse gelandet bin. Ich habe keine Ahnung, was aus mir werden soll.

Ich setzte mich in die Kaffeebar am Möllevångstorget. Eigentlich wollte ich in meinem Buch lesen („The Overstory“), fühlte mich aber rastlos und vom Gespräch am Nachbartisch abgelenkt. Ich konnte partout nicht ausmachen, welche Sprache sie sprachen. Erst dachte ich Italienisch, dann Spanisch. Vielleicht war es Rumänisch. Eine Frau, zwei Männer. Die Männer redeten, die Frau schwieg.

Wieder zuhause, flickte ich noch eine Jeans und hörte einen Podcast. Es ging um das Böse, ein seltsamer, unmoderner Begriff, aber am Ende des Podcasts musste ich eingestehen, dass ich oft bewusst auf die dunklen Impulse in mir höre. Dass ich mein Leben nicht selten mit meiner Arroganz vergifte. Dass ich mich vor mir selber rechtfertige, die Schuld auf andere schiebe, oder ganz einfach die Wahrheit ein wenig frisiere, um so besser dazustehen. Kann ich die Wahrheit sagen? Was passiert, wenn ich es tue?

Ich nahm das Fahrrad und fuhr in den Garten, wo ich mit der Arbeit weitermachte, die ich vor ein paar Tagen angefangen habe: den Efeu beschneiden. Ich kletterte mit der Gartenschere auf eine wacklige Leiter und dachte kurz, wenn mir etwas passiert, findet mich hier niemand. Das Telefon hatte ich bewusst zu Hause gelassen. Die Arbeit tat mir gut. Ich war zufrieden, als ich wieder nach Hause fuhr.

Machte eine Chilipaste, Kochte Spaghetti, aß sie mit Pesto und Vegohack. Dazu gekochter Mangold, noch vom Vorjahr aus dem Gefrierschrank. Trank ein leichtes Budweiser. Beschloss, mich nicht um eine Arbeit zu bewerben, die ich mit ziemlicher Sicherheit sowieso nicht kriegen würde.


.


Freitag, 13. September 2019

Alte Tagebücher, wieder gelesen

Du kannst dich nicht an Begriffen festhalten. Sie sind wie ein Turm, der jederzeit in sich zusammenfallen kann. Du kannst dich nicht an einem Selbst festhalten, von dem du glaubst, dass es wünschenswert ist. Das Gleichgewicht meines Lebens beruht auf dem Raum, in dem ich ungestört sein kann. Warum benötigen die meisten anderen diesen Raum scheinbar nicht? Ist mein Versuch, durch das Schreiben zu einer größeren Klarheit zu kommen, der Versuch, mein Scheitern in der bürgerlichen Gesellschaft zu verschleiern? Jeder andere scheint die Füße fester am Boden zu haben. Nur meine eigene Füße wollen nicht haften. Stell keinen Kopf über deinen eigenen, füge deinem Leben nichts Zusätzliches hinzu. Seit Jahren kämpfe ich mit den selben Problemen und scheine nicht voran zu kommen. An einem Tag vermisse ich an meiner Sprache die Ruhe und Ausgeglichenheit, die Weisheit, die ich gerne erreichen möchte. Dann wieder ist sie mir zu wenig ungestüm und wild. Der Weg führt am Rand vorbei, geht nie durch die Mitte. Der Weg droht immer wieder im Nichts zu verlaufen. Nichts Besonderes. Ich sitze am Schreibtisch und höre, wie die Vögel singen. 

(...)

Er ziehe es vor, sich in Bildern oder in langem Schweigen auszudrücken als Worte zu suchen für das, was er sehe oder denke. Was für Bilder, fragte ich. Es ist mir egal, sagte er. Hauptsache, sie entstehen schnell, so wie ein Frosch von Stein zu Stein hüpft. Das selbe gelte für das Schweigen, das nicht einmal in den Lidschlag eines Menschen hineinpasse. Du hältst also nichts von langer und disziplierter Arbeit, von jahrelangen Bemühungen, an deren Ende der Erfolg steht, fragte ich ihn. Die Bemühungen sind nur ein Schein, sagte er. Das Wesentliche geschieht im Bruchteil einer Sekunde. Die Bemühungen sind leer und voll, wie du willst. Sie sind die Qual, das eigentliche Nichts unseres Lebens. Kannst du diese Leere verstehen? Er schaute mich lange an, aber ich sagte nichts. Ein Vogel landete auf dem Fensterbrett und scharrte mit den Füßen. 
Ich fragte ihn, ob er gerne reise. Er wand sich ein wenig. Er sei wohl hier und da gewesen. Eigentlich reise er ungern. Der Gedanke, die vertraute Umgebung zu verlassen, erfülle ihn mit Unbehagen, und desto mehr, je älter er werde. 
Wenn er der Meinung war, er habe jetzt genug gesagt, stand er auf und ging. Am Anfang fand ich sein Verhalten merkwürdig, unhöflich sogar. Nach einiger Zeit begriff ich, welche Freiheit er mir dadurch schenkte. 
(Berlin 1993)

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...