Sonntag, 17. November 2019

17/11

Ein zartes Rosa am Himmel. Ein wunderbarer Morgen. Habe Louise Erdrich Der Gott am Ende der Straße ausgelesen, in den frühen Morgenstunden. Jetzt brodelt der Kaffee auf dem kleinen Herd. Es ist nicht mehr an Schlaf zu denken. Punxy und Caesarion schnurren auf der Bettdecke. Ich fühle mich wie eine Betrügerin, weil ich sie in ein paar Tagen wieder in die Kälte hinaussetzen werde. So ist es schon seit Jahren gewesen. Und immer sind sie bisher wiedergekommen. Was machen sie in der Zwischenzeit? Vielleicht haben sie ein zweites, ein drittes Zuhause, mehrere Namen? Ich werde es wohl nie wissen. Auf der Terrasse lungern jetzt auch wieder die Nachbarskatzen herum, die sich monentan selber überlassen sind. Kriegen von mir eine Handvoll Futter pro Schnauze, damit sie Ruhe geben. Ich und die Katzen. Es wird ganz zwangsläufig so. Was mich irgendwie auch wieder freut: dass das Schicksal des verschwundenen "Mülltonnenkaters" so viele beschäftigt. Viele haben mit mir darüber gesprochen: "Wo ist er hin?" "Was ist mit ihm passiert?" So viele Menschen haben ihm immer wieder Futter gebracht, ein Schälchen mit Wasser. Ein Mann kam jeden Tag auf seinem Moped aus den Bergen, um ihn zu füttern. Wir nannten ihn Murugan. Gestern dachte ich, als ich an den Mülltonnen vorüber radelte: Auch wenn du jetzt vielleicht tot bist, Murugan, dein Leben war nicht umsonst. Du hast die Herzen von vielen Menschen berührt. Ein spiegelverkehrter Zwilling von Murugan ist jetzt hier oben auch aufgetaucht. Offensichtlich ist er kastriert, macht aber einen wilden Eindruck.

Das Buch Der Gott am anderen Ende der Straße würde ich jetzt gerade am liebsten weit wegschleudern, wenn es nicht in meinem ebook-reader wäre. Es hinterlässt so ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Und dabei ist es gar nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Erdrich trifft die gruslige Süßlichkeit der selbstgerechten Handlanger der Macht auf den Kopf. Aber so darf ein Roman nicht enden, dachte ich, und uns so in die Leere hineinkatapultieren, in die Verzweiflung, in die Traurigkeit. Viele komische Fäden bleiben außerdem in der Luft hängen. Es ist der Nachteil der Tagebuchform, dass das Tagebuch nie den Menschen verlassen kann, der es schreibt. Er weiß nur über das Bescheid, was sich in seiner Nähe ereignet. Wie ist Cedars Tagebuch eigentlich zu uns, zu den Lesern, gelangt? Auch eine offene Frage. Was ich von dem Buch behalten will, ist die einfache Menschlichkeit der Widerstandskämpfer, die sich unter Einsatz ihres Lebens gegen die "Regeln" stellen. Ein Roman, der von Schwangerschaft handelt, von der Wirklichkeit des Frauenkörpers und von der unerklärlichen Brutalität der Geburt, diesen in der Literatur so geächteten Themen. Das jedenfalls schätze ich sehr.

Die Wahlen in Louisiana wurden offensichtlich für den demokratischen Kandidaten entschieden. Das ist der rosarote (hellblaue?) Hoffnungsschimmer des heutigen Tages. Und dass Pete Buttigieg in Iowa mit großem Abstand führt. Wäre er nicht homosexuell, wäre das gar kein Thema, er ist der beste, auch der unverbrauchteste, Kandidat der Demokraten, er verliert sich nicht in Einzelheiten, er strahlt eine Klarheit aus, eine moralische Geradlinigkeit, die das Land (die Welt?) jetzt braucht. Es gibt DOCH Hoffnung, immer und immer wieder.

(Abends)

Am Vormittag wechselte ich die hinteren Bremsklötze am Fahrrad, flickte ein Loch am Ellenbogen meiner Bluse, kontrollierte im Heizungskeller die Zeiteinstellungen, leerte den Komposteimer, schaute mir die Feuerstelle von gestern noch einmal an. Setzte mich eine Weile an den Schreibtisch und arbeitete.

Um die Mittagszeit machte ich mich auf den Weg. Ich wollte nach Vafios wandern. Nahm im Rucksack Brot, Käse, eine geschälte Karotte, ein Stück geschälte Gurke, eine Dose Bohnen in Tomatensoße und eine Flasche Wasser mit. Fuhr mit dem Fahrrad zur selben Stelle wie am letzten Sonntag. Ging zur kleinen Kapelle und machte in ihrem Inneren ein Foto der Ikone von der Madonna in Flammen, die P bei Giorgos in Auftrag gegeben hat. Sie haben beide das Bildmaterial verschlampt, das sie ihm schon geschickt hat, also musste ich ran. Setzte mich dann vor der Kapelle aufs Mäuerchen, aß in aller Ruhe meinen Proviant. Große Bohnen in Tomatensoße, getoastetes Weißbrot, Ladotiri, eine geschälte Mohrrübe. Brunnenwasser. Ging schließlich los, bergauf, Richtung Ligonas. Kam zuerst an zwei Olivenerntern vorbei. Der Mann sprach mich an. Wohin des Wegs? Vafios. "Aber hier geht es doch nicht nach Vafios." Man merkt, dass die meisten Griechen keine Wanderer sind. Ich erklärte, dass es einen Wanderweg über Ligonas gibt. Ah ja. Er klagte über die Wärme. Er ist es nicht gewöhnt, bei diesen Temperaturen Oliven zu ernten. Deshalb sitzt er jetzt auch da und ruht sich aus. Als ich mich schon verabschiedet habe und weiter gegangen bin, will er noch wissen, woher ich komme. Deutschland. Ah. Germanía. Er sagt etwas Zustimmendes, aber wegen mir müsste er das nicht tun.

Mache zuerst den gleichen Denkfehler wie letzte Woche und gehe ein Stück in die falsche Richtung. Begegne dann doch einem "Wanderer", einem zahnlos lächelnden, vor sich hin schlurfenden Griechen mit einer Plastiktüte in der Hand. Auch er findet nicht, dass man hier nach Vafios kommt. Schließlich bin ich auf der richtigen Spur, folge der rosa Sprühfarbe bergauf. Ich weiß, dass es gegen fünf Uhr anfängt zu dämmern, muss also meine Zeit gut einteilen. Ich will vor der Dämmerung wieder zurück bei meinem Fahrrad sein. Mache eine schnelle Skizze von der Aussicht über die Felsen bis hinunter zum Meer, später noch eine, das Spiel von Licht und Schatten auf meinem Wanderweg. Irgendwann komme ich an ein Gittertor, und denke noch, das kommt aber auch nicht oft vor, dass man einem richtigen gechmiedeten Tor einem richtigen Schloss begegnet. In meiner Begeisterung achte ich nicht auf die rosa Sprühfarbe und bin dann auf einer betonierten Straße. Der Wanderweg ist zwar in Sichtweite, aber unerreichbar hinter einem Drahtzaun. Zurückgehen mag ich auch nicht. Es ist so anstrengend, auf Beton bergauf zu gehen, ich weiß auch nicht, warum. Schließlich endet die Betonstraße, ich habe wieder Kontakt zur Erde, die rosa Sprühfarbe hat mich wieder.

Schließlich bin ich in Vafios. Keine Seele begegnet mir. Das Café der alten Frau ist geschlossen, die Fenster von innen mit Zeitungspapier verklebt. Noch ein Dorf, das einen langsamen Tod stirbt. Eine Katze beeilt sich, an mir vorbei zu kommen. Zwei müde Hunde drücken sich an einen Zaun am Dorfausgang und würdigen mich keines Blicks. Ich folge dem Wanderweg parallel zur Straße, als ich plötzlich ein Pferd sehe, das mitten auf dem Weg steht. Ich möchte nicht vorbei gehen, um das Tier nicht zu erschrecken. Es ist zwar angeleint, aber die Leine ist lang. Es sieht noch jung aus, und ich will weder, dass ihm, noch dass mir etwas passiert. Kehre um. Komme an einem traurigen Maultier vorbei, das hinter einem Zaun im trockenen Gras vor sich hinrupft. Ich habe noch ein Stück Karotte in meinem Rucksack. Das Maultier verschlingt sie mit großer Begeisterung und ist sofort scharf auf mehr. Ein paar Schritte weiter finde ich einen Quittenbaum und hebe eine Quitte vom Boden auf. Ein voller Erfolg, als ich sie dem Maultier vor die Nase lege.

Eine Wanderung ist immer eine wilde, überraschende Angelegenheit. Ich laufe ich durch einen dichten Wald wieder nach unten, während ich Erdklumpen vom Boden aufhebe und in meine Hosentaschen stecke, um sie später zu Pigmenten zu zerstoßen. Ich bin auf den Boden fixiert, finde rote, rosa, gelbe, braune, graue Erde. Nach einem der improvisierten Gatter mit Drahtverschluss bin ich auf plötzlich einer etwas weitläufigeren Lichtung und werde plötzlich unsicher, wie ich weiter gehen soll. So viele Pfade gehen von hier aus weg, typische Schafpfade, und die rosa Sprühmarkierung des "Lesvos Trail" ist plötzlich nicht mehr zu sehen. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal hier gewesen zu sein, muss aber irgendeinen Pfad, irgendeine Richtung wählen und laufe weiter. Als ich mich allmählich immer tiefer bücken muss, um durch das dornige Gebüsch zu kommen, ist mir klar, dass das nicht der Wanderweg sein kann. Wieder einmal bin ich der Schafsspur gefolgt. Ein Moment der Nervosität, da die Sonne schon deutlich tiefer gesunken ist. Ruhe bewahren! Ich kehre um, gehe nochmal bis zum Gatter, schaue mich um, aber ich kann keine Markierung sehen. Hier von der Dunkelheit überfallen zu werden, wäre ziemlich unangenehm. Der Weg ist uneben, man muss schon sehen, wo man die Füße hinsetzt. Ich folge einem Pfad, der vielversprechend wirkt, aber es ist mir bald klar, dass er auch nicht der richtige ist. Plötzlich sehe ich den Wanderweg auf der anderen Seite einer wackeligen Mauer, die mit Stacheldraht versehen ist. Ein wenig achtsames Klettern, dann stimmt wieder alles, und bald stehe ich bei meinem Fahrrad. Von jetzt an geht es schnell, ich kann das Rad rollen lassen.

Zuhause. Duschen. Eine Flasche Wasser, ein Glas Wein und an den Skizzen arbeiten. Mein heutiges Abendessen ist eine Gemüsesuppe mit Buchstabennudeln, mit Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, Weißkohl, Broccoli, einem Schuss Wein.

Übrigens habe ich heute endlich den Besitzer der Verrückten Farm, wie ich sie im Geheimen nenne, gesehen. Er sah ganz normal aus, ein älterer Mann mit weißem Haar und einem weißen Schnurrbart. Ich grüßte ihn, während ich vorüber radelte, er grüßte freundlich zurück, umringt von etwa neun Katzen. Ich weiß nicht, ob es mir jemals gelingen wird, diese Farm zu beschreiben. Die mit dicken Pinselstrichen gemalten Kreuze auf den Baumstämmen, Felsen, Mauern. Die Ställe zusammengenagelt und improvisiert, aber das sieht man hier ja überall. Hier hat sich jemand sein eigenes, chaotisches, abweisendes Reich geschaffen, im Staub zwischen Felsen, Schrott und Bäumen. Viele Tiere gehören mit dazu. Würde man es ein Gesamtkunstwerk nennen, kämen die Besucher hierher gepilgert. Der Mann sah glücklich aus. Vielleicht ist der Schlüssel zum Glück, dass man seinen verrücken Einfällen folgt, ein wenig von seinem Wahnsinn in die Welt entlässt.

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...