Donnerstag, 25. Februar 2016

Big Mind

Erst als er aufstand und den Raum verließ, konnte man sehen, wie klein er war. Da sein Oberkörper außerdem ein wenig nach vorne gekrümmt war, reichte er mir nur bis zur Brust. Er sagte, wovor haben wir Angst? Vor dem Tod? Ich vertraue darauf, dass ich leben werde, sagte er. Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: Bis ich sterbe. Wie kann man sich am besten vor der Angst schützen? Indem man hinter sie tritt, sagte er und lächelte so, dass man einige Zahnlücken sah. Er sagte, bitte streiten Sie mit mir. Ich bin nicht hier, um Sie zu unterrichten. Ich bin hier, um etwas mit Ihnen zu teilen. Als ich todkrank war, sagte er, empfand ich keine Angst. Andere hatten Angst um mich. Aber ich lachte.

Mittwoch, 24. Februar 2016

Im Tagebuch gefunden

"Malmö ist eine Art Ausnahmezustand - es eignet sich vor allem dazu, dass man von dort wieder wegfährt." (2011)

Dienstag, 23. Februar 2016

Splitter aus dem Herzbuckelland



"Auf ein Bier" gehen - diese Art der zerstreuten, tratschenden Unterhaltung sagt mir nicht mehr zu, und das Bier tut mir auch nicht gut, ebensowenig die Nüsse, die ich manisch aus der kleinen Schale auf dem Tisch fische. "Einfach nur schreiben" fällt mir wieder schwer. Käse und Butter stehen noch neben dem Spülbecken - ich lasse sie da stehen, räume sie nicht weg. Das Fenster darf offen bleiben, es zieht kalt von dort her. Meine Schulter - die Gegend um das Schulterblatt: der Flügel, der nie gewachsen ist - quält mich, und ich lasse mich den ganzen Tag quälen, anstatt mich nur 5 Minuten auf den Rücken zu legen.


Der Wecker, der mich sanft wecken sollte, lässt mich aufschrecken, als ich die Helligkeit durch die Augenlider wahrnehme - habe ich in den Tag hineingeschlafen?


Wo willst du sein? Woanders, immer woanders. Nicht hier, in mir.

Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Frau mit dem dunkelblauen Rollkragenpullover

Ein paar Jahre später rief sie dann noch einmal an. Eine fremde Stimme antwortete ihr, stellte seltsame, gleichgültige Fragen. Sie trafen sich in München in einem griechischen Lokal. Die Leidenschaft war stumm, abgestumpft, es gab kaum etwas, worüber sie reden konnten. Sie dachte an den Morgen nach der ersten Nacht, die Busfahrt zum Flughafen im Morgengrauen und wieder zurück, Bs Kopf auf ihrer Schulter, der rosa Streifen am Himmel, die Telefonnummer, die in ihrer Hosentasche brannte, als sie zurück zum Hotel kam und die anderen Gäste im Frühstücksraum gleichmütig begrüßte. Der Tag war schwebend, wie durchsichtig, nach der schlaflosen Nacht.
Ein paar Wochen später fuhren sie mit dem Zug nach Venedig, wohnten in einer Pension auf dem Lido. 'Bin ich das wirklich gewesen', fragt sie sich jetzt. 'Auf dem Foto trage ich ein kariertes Flanellhemd, schwarze Männerschuhe, einen grünen Mantel mit Kapuze - ich erkenne mich gar nicht wieder. Später waren wir in Genua, aber nur kurz, da sie es dort nicht aushielt. Nicht einmal ein Restaurant konnten wir betreten: alles empfand sie als bedrohlich. Es gab so viele Dinge, die sie nicht ertrug. In Ravenna waren wir nur eine Nacht. Wir schauten uns die Mosaike nicht an, wegen denen wir eigentlich gekommen waren, weil sie so schnell wie möglich wieder von dort wegkommen wollte. Die Stadt sei dunkel, greife sie an. Es gibt ein Foto von ihr, das ich am Bahnhof einer kleinen Stadt von ihr machte: Sie saß auf einer Bank, den Kopf in den Kragen ihrer Lammfelljacke gezogen, schaute vor sich hin, ins Leere. Oft ging ich an den Abenden allein hinaus, stellte mich in einer Bar an die Theke, trank einen Kaffee oder ein kleines Glas Rotwein und malte mir aus, dass ich dort lebte, in einer Stadt in Italien. Ich war die Frau, die wenig sprach, die man überall grüsste, die mit einem dunkelblauen Rollkragenpullover durch die Straßen ging.'
Jetzt schaut sie nach ihrem Namen, gibt ihre Adresse ins Suchfeld ein, aber eine solche Person existiert nicht mehr in München, und andere, die den selben Namen haben, sind viel jünger, leben ausserdem ganz woanders. 'Sie schickte mich weg, sie war nicht die Erste und nicht die Letzte. Sie bestellte mir ein Taxi, und als ich mich darauf zuging, hielt dahinter ein zweites Taxi. Durch das Rückfenster sah ich, wie ihr Mann aus dem Taxi ausstieg und den Schlüssel aus seiner Jackentasche fischte. Ich hatte ihn nur auf Fotos gesehen, die sie mir gezeigt hatte. Ich weiss nicht, wie er hiess, sonst könnte ich nach ihm suchen, ich könnte ihn anrufen, nach ihr fragen, ich könnte sagen, 'ich bin eine Freundin, es ist aber schon lange her.'

Montag, 8. Februar 2016

Was vorkommen soll

Folgendes, so denke ich, soll vorkommen:

Mit Zeitungspapier verklebte Fenster.
Ein Schwarm von Fledermäusen, der in der Nacht durch das offene Fenster ins Zimmer fliegt.
Jemand, der in der Nacht ins Bett pinkelt.
Etwas das "süß" ist (putzig, liebenswert).
Ein tibetisches Kloster, das Thema des mehrjährigen Rückzugs.
Jemand, der eine blaue Windjacke trägt.
Die Sendung "Big Brother" und der Film "Aliens".
Ein Faltblatt in einer Kirche, auf dem das Leben einer Heiligen gerühmt wird.
Ein Imker (und Insekten im Allgemeinen).
Ein Spiegel, in dem man sein wahres Gesicht sehen kann.
Eine mit Fröschen übersäte Landstraße.
Eine große, mit Parfüm gefüllte Wasserpistole.
Eine neonfarbene Kirche aus Sperrholz, die in einem großen Raum im Kreis herumfährt.
Freundlichkeit.

Freitag, 5. Februar 2016

Aus den Augenwinkeln beobachtet

Der rumänische Bettler mit der Pelzmütze, der vor dem Supermarkt mit Schaufel und Besen ein bisschen sauber macht.

Montag, 1. Februar 2016

Ein weiteres Ritual (ohne Vorwarnung)



Ein weiteres wichtiges Ritual ist mein Morgenkaffee.

Ich mahle die Bohnen mit einer alten Handmühle, löffle den Kaffee aus dem Auffangschub in eine meiner Espressokannen, die ich schon mit Wasser gefüllt habe und dann zuschraube und auf den Herd stelle. Jeder Handgriff ist wichtig. Das zischende und gurgelnde Geräusch, wenn der Kaffee langsam durch das Rohr in die Kanne fließt, der Geruch, der sich in der Wohnung verbreitet (während ich andere Morgenhandgriffe mache), dieser wohlige, glückverheißende Morgengeruch. Dann wärme ich die Milch auf der abgeschalteten Herdplatte in einem stählernen Aufschäumer (bloß nicht wärmer als ca. 60 Grad Celsius!). Der Kaffeebecher, ein weißer hoher Becher ohne Henkel, ist schon ein wenig angeschlagen. Manchmal streue ich Kakao auf den fertigen Kaffee, manchmal Zimt, manchmal Kardamum aus meiner Kardamummühle.

Die Katze sitzt inzwischen schon auf dem Küchentisch und wartet auf ihre tägliche mikroskopische Milchportion (piepst dabei wie ein Vogel, ihr Milchbettel-Laut).

Der erste Schluck Kaffee, das Tasten der Zunge, die Abschätzung durch die Geschmacksknospen - wie ist er heute gelungen? -, die Kaffeewärme, die sich über die Speiseröhre und den Magen im ganzen Körper verbreitet, der kleine Anschubser, das Jubeln in irgendwelchen Regionen. Dieses Kaffeeglück.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...