Mittwoch, 20. November 2019

19/11


Vormittag am Schreibtisch - Mittagessen in der Sonne.

Schaue bei Theodosos vorbei. Das Katzenfutter ist gekommen. Er fragt, wie ich es heimbringen will. Wieso? Mit dem Fahrrad natürlich. Ich muss ganz einfach zwei- oder dreimal hin- und herfahren. Er findet nicht, dass das eine gute Idee ist. Wir bringen das Futter vorbei, sagt er. Ich erkläre ihm den Weg, aber ich weiß auch, dass das Haus nicht zu finden ist, wenn ich nicht unten an der Abzweigung stehe und den Weg zeige. Wartezeit. Wie kann ich sie mir vertreiben? Ich habe nichts dabei, was mich ablenken könnte (sonst eigentlich immer), also hocke ich mich vor einem Sandhaufen hin und schaue den großen Ameisen zu, die dort geschäftig und schwerbeladen herumlaufen. Oje, denke ich. Sie bauen ihren Staat in einen Sandhaufen, der für die Baustelle nebenan gedacht ist. So viel Mühe und bereits zum Scheitern verurteilt. Beim Hochlaufen im feinkörnigen Sand rutschen viele von ihnen erstmal ab, nehmen dann nochmal Anlauf, versuchen es mit einer anderen Lauftechnik, schaffen es schließlich. So menschengleich. In der Wiese sehe ich eine Ameise eine Art Quast hinter sich her schleppen. Die Grashalme und Blätter und Unebenheiten sind riesige Hindernisse auf ihrem Weg. Sie hält immer wieder kurz inne, klettert drüber, kriecht drunter, geht drum herum. Weil sie den Quast mit den Hinterbeinen festhält, sieht sie aus, als hätte sie einen Bastrock an. Ich verliere sie aus dem Blick, als ich kurz woanders hinschaue. Überall wuselt es, überall ist Leben, überall sind Tiere mit ihrer Überlebensarbeit beschäftigt.

Schließlich kommt Theodosos' Helfer mit seinem Motorrad an. Es ist schwer behängt mit gefüllten Plastiktüten. Wahrscheinlich ist er gerade auf seiner allgemeinen Auslieferungsrunde. Wir packen die Katzenfuttersäcke auf die Terrasse, ich gebe ihm etwas Trinkgeld. Als er wieder losfährt, dreht er sich noch einmal um und schenkt mir ein Lächeln. Dann sagt er: "This is like paradise." Ich schaue mich um. Tatsächlich. Er hat Recht. Wie kommt es, dass man sich an das Schöne so schnell gewöhnt, dass man es nach einer Weile nicht mehr richtig sieht? Dass man es mit seinen Sorgen, seiner Unruhe auflädt. Das Ankommen ist immer ein magischer Moment. Dann stellt sich eine Art Alltag ein. Gegen Ende beginne ich meine Abreise zu fürchten und vergifte mir so auch Vieles. Während ich das schreibe, steht die Terrassentür offen. Vogelgezwitscher, ansonsten Stille. Komisch, sonst hört man oft Mopeds vorbeiknattern, Hunde bellen, eine Kirchenglocke läuten, einen Verkäufer durchs Megaphon sein Obst oder seine Fische anpreisen. Ich habe bei meinem jetzigen Aufenthalt so viel Neues gelernt - eines der wichtigsten Aha-Erlebnisse war, dass Theodosos' Helfer (noch weiß ich seinen Namen nicht), nicht nur hören, sondern auch sprechen kann, sogar auf Englisch. Als ich abends Ch., die hier seit zehn Jahren mehr oder weniger lebt, von dieser Begegnung erzähle, ist sie auch erstaunt. Sie hat ihn noch nie lächeln sehen.

Die Katzen machen ihre Runden. Zwei große Kater kommen mehrmals am Tag vorbeispaziert, inspizieren die Futterschalen. Manchmal tun sie so, als wären sie hungrig, manchmal sind sie wirklich hungrig. Der eine von ihnen, ein junger und unkastrierter roter Kater, den wir "Hamish" nennen, zeigt ein interessantes Verhalten, wenn ich ihn von der Terrasse vertreibe. Er lässt sich einfach auf die Seite fallen, spielt gelähmt, bringt mich damit jedesmal zum Lachen, gegen meinen Willen. Ich zupfe eine Zecke aus seinem Fell, er lässt mich machen, ist ganz zahm. Wo sind seine Menschen, bitte!?

Für den Nachmittag habe ich mir eine Zeichenrunde im Dorf vorgenommen. Vier Stationen à 15 Minuten. Als ich angekommen bin und meine Sachen aus dem Rucksack hole, entdecke ich, dass ich meinen schwarzen Konturenstift vergessen habe. Also bin ich völlig auf den dicken Pinsel und die Wasserfarben angewiesen. Erst bin ich wütend auf mich selber. Dann beschließe ich, es als Herausforderung zu sehen. Und tatsächlich macht es mir nach einer Weile Spaß, mit veränderten Voraussetzungen an die Bilder heranzugehen. Es ist außerdem eine neue und interessante Erfahrung für mich, mich einfach mitten im Gewimmel auf eine Steinstufe oder auf eine Bank zu setzen und mich dann auf ein Motiv zu konzentrieren, während das Leben um mich herum einfach weiterläuft. Niemand schaut mir neugierig über die Schulter, zum Glück. Männer jeden Alters fahren auf ihren Mopeds vorbei. Aus dem ehemaligen kommunalen Café im Hintergrund höre ich eine angeregte Diskussion. Männerstimmen. Sicher was Politisches. Bei meiner nächsten Station sind eine Männer- und eine Frauenstimme zu hören, Nachbarn, die sich auf der Straße begegnen und sich danach erkundigen, wie es so geht. Irgendwas an der Akustik lässt den Eindruck entstehen, als würde ich in einem Theater sitzen. Nur mit dem Unterschied, dass ich dem Schauspiel den Rücken zudrehe. Bei meiner letzten Station habe ich ein anderes Café im Rücken - mit eher jungem Publikum. Junge Frauen sitzen auf dem Balkon und unterhalten sich mit aufgeregten und etwas penetranten Stimmen - das uralte Thema des "er sagt - sie sagt". Es fängt an zu dämmern, und ich beeile mich, fertig zu werden. Auf dem Weg zum Fahrrad fährt Theodosos' Helfer an mir vorbei und hupt mir zu. Er hat noch einen letzten Sack geliefert und vor dem Haus auf den Tisch gelegt. Perfekt, sage ich und halte den Daumen hoch.

Abendessen mit Ch. im Alonia. Erst sitzen wir in der Dunkelheit auf der Terrasse, sie mit einem Glas Ouzo, ich mit einem Glas Weißwein, dann gehen wir zum Essen in den Gastraum. Fisch, Fava, Tzatziki, grüner Salat. Sie lädt mich ein. Zum Glück konnten wir die komische Auseinandersetzung vom letzten Mal hinter uns lassen. Ich achte darauf, Themen zu vermeiden oder im Sand verlaufen zu lassen, die uns wieder auf einen sinnlosen Konfliktkurs bringen könnten. Wir reden über die Flüchtlingssituation. Jetzt sind angeblich 19.000 Menschen im Lager in Moria, das für 6.000 Menschen errichtet worden ist. Wieso ist es nicht möglich, diese Situation innerhalb Europas auf eine menschliche Weise zu lösen? Offensichtlich sind in den letzten Tagen auch wieder Boote in Molyvos gelandet. Es gibt eine Kleiderstation im Hafen. Die Flüchtlinge versuchen vielleicht, das gute Wetter auszunützen. Es ist in den letzten Wochen fast windstill gewesen, und das bei sommerlichen Temperaturen. Dann reden wir über unsere Wohnungen in Schweden. Schließlich ein wenig Tratsch. Unweigerlich landen wir auch bei der Frage, wie Molyvos seine Lähmung abschütteln, neue Kräfte und Ideen finden könnte. Irgendwann verliebt sich Ch. in die Idee, dass ich eine Rolle in dieser Entwicklung spielen könnte. Sie lässt nicht mehr locker. Ich beschließe nach einer Weile, nur noch zu nicken, mich nicht gegen ihre Begeisterung zu stemmen, nachdem ich am Anfang vergeblich versucht habe ihr zu vermitteln, dass ich nicht der richtige Mensch bin für so was. "Ich kann eigentlich nichts, außer herumsitzen und schreiben, was niemand liest, und vielleicht ein wenig mit Leuten reden." Jedenfalls endet der Abend friedlich. Ich bin zum Glück zu Hause, kurz bevor die Wegbeleuchtung, die zum Haus führt, ausgeschaltet wird. Im Stockdunkeln ist es nämlich schwer, den Weg zu finden.

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