Sonntag, 5. Januar 2020

Das neue Jahr. Ausmisten

Im neuen Jahr wollte ich ausmisten. Bücher vor allem, aber auch anderes. CDs. Elektronische Geräte. Möbel. Meine Gedanken. Das ganze Leben. Ich schreibe "wollte", dabei hat das neue Jahr gerade erst angefangen. Es ist noch nicht einmal fünf Tage alt, kommt mir aber schon älter vor.

Ich bin krank ins neue Jahr ("Jahrzehnt", sagen andere) gerutscht. Lag in den Stunden vor Mitternacht auf dem Bett und war nicht einmal in der Lage, die Augen aufzumachen, als P vor dem Fenster stand und das Feuerwerk betrachtete. Es sei ein ungewöhnlich langes und schönes Feuerwerk gewesen, sagte sie, und das ist seltsam, weil nämlich in diesem Jahr Anstrengungen getroffen wurden, das Silvester-Feuerwerk in der Stadt zu begrenzen. In anderen, wohlhabenderen Stadtvierteln ist das auch gelungen (jedenfalls haben andere uns das erzählt), aber nicht in dem Viertel, wo wir wohnen und wo die Leute wenig Geld haben. Das ist ein seltsamer Widerspruch, aber eigentlich ganz einleuchtend. 

P sagt, es ist nicht komisch, dass ich krank geworden bin. Es ist, als hätte das anstrengende Jahr 2019 beschlossen, sich nicht ohne Widerstand zu ergeben, als müsste es sich noch als Krankheit hinüberziehen in das neue Jahr. Als könne es sich auch nicht mit dieser Erkältung begnügen, die bei mir immer in Form eines Schnupfens auftritt, den P schon seit Jahren (Jahrzehnten) meinen "Springbrunnenschnupfen" nennt, was eigentlich der Fürchterlichkeit dieses Schnupfens überhaupt nicht gerecht wird. Es kam dann noch mehr dazu. Ich musste mit einer Kieferentzündung zur Zahnärztin, und mein Kater verweigerte das Futter und musste in die Tierklinik, aus der er gestern mehr tot als lebendig zurück kam, jedenfalls kam es mir so vor. Ich habe in den ersten vier Tagen dieses "neuen Jahres" bereits mehr geweint als sonst in einem ganzen Jahr. 

Dass ich Ausmisten wollte (und will), liegt daran, dass ich mich von meinen Büchern zunehmend gefangen fühle, unterdrückt. Als würden diese Bücher, die in meinem Bücherregal stehen und die eigentlich auch das Ergebnis eines ständigen Ausmistens sind, mich an irgendetwas hindern. Natürlich ist das Unsinn. Bücher hindern mich an nichts. Ich habe (aufgrund eines ständigen Ausmistens) nur Bücher in meinem Bücherregal, die ich gerne gelesen habe oder die ich gerne lesen würde. Aber genau das war das Problem: Bücher, die ich schon seit Jahren lesen will, stehen als stummer Vorwurf in meinem Bücherregal, und je mehr sie mich vorwurfsvoll anglotzen, desto mehr Widerstand entwickle ich dagegen, sie aus der Wand der Bücher herauszulösen und tatsächlich zu öffnen und zu lesen. Die ungelesenen Bücher sind auch ein Vorwand geworden, eine Art Pseudo-Identität. Sie zeigen die, die ich gerne sein würde: eine Frau, die belesen ist, gebildet, die vor schwerer Kost nicht zurückschreckt, die sich ohne Furcht durch die schwierigsten Bücher kämpft, gegen alle Widerstände und Verführungsversuche von Seiten der seichteren Unterhaltungsindustrie. Vielleicht bin ich diesem Jemand früher einmal näher gewesen als heute, vielleicht ist das Maß aber auch voll. Ich liebe es, Bücher zu kaufen, wenn ich auf Reisen bin. Ich kaufe Bücher im Internet, bestelle Bücher, nehme sie mit nach Hause, als eine Art Erweiterung meiner Person, meiner Identität, meines "Ich"-Seins. Aber weil ich schon so viele ungelesene Bücher zu Hause habe, sind auch die neuen Bücher schwach auf der Brust.

Es fiel mir auch in den letzten Tagen auf, dass ich einen großen Teil des Jahres 2019 mit dem Versuch verbracht habe, mich in die Gehirnwindungen eines größenwahnsinnigen (großspurigen, pompösen) Narzissten hineinzudenken, der im Moment die Weltgeschichte dazu bringt, sich um ihn zu drehen. Nicht weil es mir Vergnügen gemacht hat, sonderen weil ich hoffte, die Weltgeschichte würde ihn abschütteln, was sie aber bislang nicht getan hat. Warum auch. Er ist nur die Beule, die aufgebrochen ist und jetzt ihr eitriges Inneres offenlegt.



(Fortsetzung folgt)




  

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