Montag, 30. März 2020

Corona-Virus-Alltag auf Lesbos XXII (30.März)


08:05   

Gestern Abend habe ich den Kühlschrank zum Abtauen ausgeschaltet und geöffnet, und obwohl ich mich bemühte, das Eis aus dem Eisfach wegzubekommen, war es immer noch am Tröpfeln und Knacksen, als ich mich schon zum Schlafengehen anschickte. Da war es schon nach Mitternacht (Zeitumstellung).

Sitze im Bett, während ich das hier auf meinem Pomera schreibe und mich dranmache, meinen Blog zu aktualisieren. Die Espressokanne brodelt am Herd. Ich habe eine Wolldecke über Bettdecke gelegt. Am Morgen ist es noch kalt. Die Sonne scheint aber schon, und die Vögel zwitschern.

Gestern: Gespräch mit der Familie auf Zoom. Zimmer und Bad geputzt, die Teppiche ausgeschüttelt. Mit U und I geredet (nicht gleichzeitig). Bot ihnen an, ein Bild von einem Motiv ihrer Wahl zu malen, als Dank dafür, dass ich den Teepavillon benützen kann. U erzählt, dass sie sich Lebensmittel von einem Laden im Dorf schicken lassen. Sie kennt den Dorftratsch, weiß, was passiert. Vangelis versucht, den Virus mit Musik zu vertreiben. Mit Maro, der Besitzerin des Lebensmittelladens, hat sie einen Hasapikos getanzt, Maro hinter der Theke, U zwischen den Regalen. U sehnt sich nach ihren Kindern und Enkelkindern.

I erzählt, dass der massive Ausbruch in Italien auf Fußballspiel in Milano mit 5000 Zuschauern zurückzuverfolgen ist. Außerdem liegt es vielleicht daran, so sage ich, dass bei den Italienern der Familienkontakt enger ist als in anderen europäischen Ländern. Später, beim Familiengespräch, ergänzt David, dass Italiener eine größere Körperlichkeit  haben. Marco flicht noch von hinten ein, dass es in der Lombardei große Textilfabriken gibt, die in chinesischem Besitz sind. Es ist gut denkbar, dass der Virus dort über chinesische Angestellte relativ früh anlangte.

Schaue mir den Bericht eines Covid-19-Überlebenden an, ein  Mann zwischen dreißig und vierzig. Er spricht von der Einsamkeit als Patient, davon, dass er lernen musste, Geduld zu haben. Drei Tage lang wurde er künstlich beatmet. Er sagt, das kann man sich nicht vorstellen. Die Zeit vergeht nicht, wenn man in dieser Maschine ist. Und jetzt? Er wird von nun an die kleinen Dinge des Lebens schätzen. In einem anderen Filme (alles auf der Homepage vom Guardian) sind Zusammenschnitte von Appellen italienischer Bürgermeister an ihre Bürger zu sehen. Teilweise laufen sie durch die Orte und schicken die Leute von der Straße nach Hause. „Geht nach Hause und spielt auf euren GameBoys!“ „Hier dürft ihr nicht Tischtennis spielen!“ Sie reden sich teilweise in Rage - "Wenn ihr die Friseuse nach Hause kommen lasst, dann kriegt ihr außer dem Haarspray auch den Coronavirus ins Haar!!" "Idioten!!" schreit einer, mit Verzweiflung in der Stimme.  

Das Lager in Moria müsste spätestens jetzt aufgelöst, die Menschen auf verschiedene europäische Länder verteilt werden, wo sie in Wohnverhältnissen untergebracht werden, in denen es möglich ist, Abstand zu halten. Dort könnte man sie erst einige Wochen in Quarantäne belassen, diejenigen testen, die Symptome zeigen, dann eine Normalisierung ihres Lebens einleiten.  I  sagt, die Journalisten sitzen wie Hyänen vor dem Lager und warten auf eine Hiobsbotschaft. Sie erzählt auch mit Resignation in der Stimme, dass man den Leuten dort jetzt beibringt, wie man sich die Hände richtig wäscht. Ich sage, ich habe das aber auch erst lernen müssen, von einem Video im Internet, wie man das richtig macht. Ja, sagt sie, so hat sie das nicht gemeint. Aber wenn fünftausend Menschen sich einen Wasserhahn teilen, wie sollen sie sich dann andauernd die Hände waschen? Wie soll das gehen?

Corona-Alltag auf Lesbos XXI - (29.März)


09:17

Umstellung Sommerzeit. Endlich scheint die Sonne wieder.

Ich "blätterte" heute durch die Fotos auf meinem iPhone und versuchte zu rekapitulieren, wann wir zum ersten Mal etwas vom Corona-Virus gehört haben. Als ich zu den Bildern von den Römischen Bädern in Bath kam, konnte ich mich an meine leichte Unruhe erinnern, als wir einer chinesischen Reisegruppe begegneten, und auch daran, wie ich mich innerlich deshalb zurechtwies. Wir bemühten uns zu dem Zeitpunkt (es war Ende Januar) nicht um besondere Sicherheitsvorkehrungen, was unser eigenes Verhalten anging. Kurze Zeit später, so erinnere ich mich, erzählte ich einigen anderen Teilnehmern auf dem großen Tanzworkshop in England, was ich in der Zeitung gelesen oder am Fernsehen gesehen hatte: dass ein Mundschutz nicht gegen Ansteckung hilft, dass man sich statt dessen öfter die Hände waschen sollte und, im Fall einer Erkältung, in die Armbeuge husten und niesen. Viele Leute niesten und husteten auf diesem Workshop (u.a. ich). Da dachten wir aber noch, dass der Corona-Virus für uns keine größere Bedeutung haben und unseren Alltag nicht wirklich berühren würde - außer in Form von erschreckenden Bildern in den Medien, wie bei Sars oder Ebola. Es war nicht auszudenken.

Lockdown in Indien. Ein indischer Arbeiter, der durch die Krise seine Arbeit und damit auch seine Unterkunft verloren hat, sagt, er hat mehr Angst vor dem Verhungern als vor dem Coronavirus. Tausende von armen Indern sind jetzt auf der Straße, auf dem Weg zu ihren Herkunftsorten, weil sie in der Stadt, wo sie eigentlich ihr Glück machen wollten nicht mehr überleben können.

Die reichen Europäer, so liest man jetzt auch, begeben sich in ihre Sommerdomizile, auf der Flucht vor dem Virus. Nun ja, es weckt verständlicherweise Gefühle.  



Coronavirus-Alltag auf Lesbos XX (28.März)


Ein eiskalter Tag, der kälteste seit meiner Ankunft. Sogar zum Putzen war es zu kalt (Teppiche nach draußen bringen, ausschütteln etc.). Aus einem Spaziergang wurde auch nichts. Ich habe die falschen Kleider mitgenommen, schon vor über drei Wochen.

Mein Tanzworkshop im Internet stößt auf großes Interesse.  Ich habe schon zwanzig Anmeldungen.

Meine Bilder auf Instagram sind momentan auch hoch im Kurs. Hab meinen zweiten repost von urban_sketchers gekriegt. Mein Bild von der Aussicht vom Haus hat dadurch über 1000 Likes bekommen. Ich habe irgendwie eine Aufgabe gefunden - detailreiche und wirklichkeitsnahe Illustrationen. Die Arbeit an den Skizzen absorbiert mich - kaum merke ich, wie die Stunden vergehen.

War nur einige Male kurz im Pavillon, wegen der Kälte - las Nachrichten, betreute die Haikugruppe. Die USA haben jetzt die meisten Corona-Fälle auf der Welt. Trump erwägt, die Epizentren des Ausbruchs (v.a. New York) unter "Quarantäne" zu stellen, v.a. damit die Leute nicht von dort woandershin fliehen, nach Florida z.B. Allgemeiner Aufschrei.

Renne immer mal wieder auf dem Weg zum Pavillon und zurück, um meine Kondition etwas zu verbessern und auch, damit mir wärmer wird. Am Vormittag Yin-Yoga. Die Klappe zur Dachkammer blieb auch heute zu. Es ist zu kalt gewesen. Dafür machte ich den extra Heizkörper am Nachmittag wieder für einige Stunden an.

Las weiter in Michael Ondaatjes Buch "Kriegslicht". Immer noch vermisse ich die Behaglichkeit meiner China-Krimis. Dieses Buch ist unheilvoller, zieht mich tiefer hinein, es beunruhigt mich mehr. Worum es eigentlich geht, ist nicht ganz klar. Das Erwachsenwerden eines Jungen in der Nachkriegszeit in London, nachdem seine Eltern ihn und seine Schwester in der Obhut eines "Mieters" (sie nennen ihn „Falter“) zurückgelassen haben, der halbkriminelle und halbseidene Menschen ins Haus bringt. Starke, schöne, suggestive Szenen. Interessante Charaktere. Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal so ein gutes Buch gelesen habe, aber gute Bücher beunruhigen mich auch. Selten denke ich bei einem Buch, "so gut werde ich nie schreiben können". Hier schon, bei fast jedem Satz. Es geht nicht nur um die Sprache, sondern auch um die Wahrnehmung.

Schon wieder zu spät, und eigentlich eine Stunde später, weil in einer Minute die Zeit umgestellt wird.

23:59



Coronavirus-Alltag auf Lesbos XIX (27.März)



Es regnet still, kaum merklich, und ich sitze mit dem Pomera und einem Glas verdünntem Ouzo auf dem Bett.  Punxy und Caesarion streichen hinter meinem Rücken hin und her. Neben mir liegt das aufgeschlagene Skizzenbuch, mit einem Aquarellbild vom Blick aus dem Fenster. Seit einigen Tagen sitze ich abends immer am Schreibtisch und zeichne vom IPad ab. Das ist beruhigend. Ich lande in einem Flow. Die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke. In der Regel bin ich hinterher zufrieden, erfüllt. Ich tue dann eine Weile nichts anderes als das Skizzenbuch aufschlagen, das Bild betrachten, mit der Hand darüber streichen. Ich muss mich oft zusammenreißen, nicht zu viel daran herumzubessern. Früher habe ich fast jedes Bild so verdorben. Inzwischen habe ich auf Instagram meinen ersten kleinen Erfolg zu verzeichnen: Ein „repost“ auf urban_sketchers hat mir innerhalb kürzester Zeit über 500 „likes“ eingebracht.

Auch mein A-Text wächst, gedeiht. Ich gehe ihn immer wieder durch, verbessere Formulierungen, ergänze die Fakten von unseren WhatsApp-Terminen. Es sind inzwischen 160 Seiten. A ist überzeugt davon, dass wir auf über 200 Seiten kommen werden. Trotzdem wurde ich heute mal wieder von der Befürchtung gepackt, dass die ganze Arbeit umsonst sein könnte.

Immer wieder Katzenkämpfe auf der Terrasse. Das ständige Auf-der-Hut-Sein, der Kampf um das Futter, um das Revier. Unverdrossen kommen sie am nächsten Tag wieder zurück. Eine ganz spezielle Intelligenz. Und wo ich auch bin, Bibi taucht nach kurzer Zeit neben mir auf und miaut ununterbrochen. Nichts besänftigt ihn. Weder Futter noch Streicheleinheiten.

Nach dem vierten Krimi von Xialong Qiu lese ich jetzt ein literarisch anspruchsvolleres Buch von Michael Ondaatje: „Kriegslicht“. Und jedes Mal wenn ich zum Tolino greife, freue ich mich auf das behagliche Lesegefühl, das die Krimis bei mir hervorgerufen haben und in dem ich in den letzten Wochen gelebt habe und bin dann etwas enttäuscht, dass ich mich auf etwas anderes einlassen muss.

Der Ouzo versetzt mich in ein angenehm wolkiges Gefühl.

Gestern habe ich bei U und I vorbeigeschaut. I lag gerade in einem  Sonnenstuhl vor dem Haus, eingemümmelt in einen Daunenschlafsack, und las einen Eric Ambler-Krimi. Es fiel mir immer wieder auf, dass sie nach etwas fragte, was ich bereits ein paar Augenblicke zuvor gesagt hatte. Hinterher dachte ich, dass sie vielleicht schwer hört. Ich zeigte ihr den Herzsutra-Tanz, den ich am Nachmittag im Teepavillon geübt hatte und den ich jetzt an drei Terminen übers Internet anderen beibringen will. Ich war irgendwie in übermütiger Stimmung, weil es mir gelungen ist, so viele Internetkurse auf die Füße zu stellen, innerhalb dieser kurzen Zeit. Zwar verdiene ich wirklich verschwindend wenig Geld damit, aber für das Essen auf der Insel in den Wochen, die ich noch hier bin, wird es reichen. So habe ich immer gedacht. Und immer hat es gereicht.

I erzählte mir, dass jetzt für Bewegungen auf der Insel Passierscheine erforderlich sind, die man im Internet herunterladen kann und dann ausdrucken und ausfüllen muss. Dort muss man seine Bewegung eintragen, was man für ein Ziel hat, wie lange es dauern wird. Aber das kann doch nicht für einen Besuch im Lebensmittelladen gelten, frage ich. Sie glaubt doch. (Uschi korrigiert das später) Wenn man ohne Passierschein angehalten wird, zahlt man 150 Euro. Das ist hier viel Geld - die Leute halten sich also auch daran. Spaziergänge allein oder zu zweit sind offensichtlich erlaubt. Das ist gut zu wissen - ich habe mich in der vergangenen Woche nicht vom Gelände wegbewegt. Hinterher gehe ich mit meinen Abfallbeuteln zur Straße und werfe sie in einen Container. Ich fühle mich wie ein Kranker, der nach einer längeren Zeit wieder hinausgehen kann. Dabei habe ich überhaupt nicht unter dieser Begrenzung gelitten. Ich habe sehr viel gearbeitet und die Tage waren mir fast zu kurz. Inzwischen habe ich eine gute Routine am Morgen, mit einer Portion Griechisch zum Frühstück, das aus Honigbroten und Kaffee mit Milch besteht. Dann gehe ich oft erst zum Pavillon und schaue meine Instagram-Veränderungen nach, lese Nachrichten. Hinterher unters Dach und meditieren, heute aber nicht, weil es viel zu kalt war. Die Klappe blieb zu. Am Nachmittag musste ich sogar eine Weile den extra Heizkörper einschalten.

Gegen Mittag esse ich dann ein zweites Frühstück: Porridge mit Rosinen, Nüssen, Apfel, Honig und Joghurt. Zwischen vier und fünf esse ich warm, heute: Nudeln mit Linsen und Knoblauch, darüber geriebener Ladotiri und dazu mein gemischter Krautsalat, den ich liebe (Rotkohl-Weißkohl-Oliven). Abends esse ich ein paar Brote mit Käse und entweder Gurke, die aber jetzt aus ist oder wie heute etwas Krautsalat.

Am Abend Internetsitzung mit dem Vorstand unserer Wohngenossenschaft. U hustet und ist krankgeschrieben. V erzählt, dass ihr Mann J auch krankgeschrieben ist. Sie sind beide in der Risikogruppe, er als Mann, Raucher und Überlebender eines Herzinfarkts, sie wegen ihrer Autoimmunerkrankung. Es gibt nicht vieles zu besprechen. Eigentlich geht es hauptsächlich darum, wie wir die bevorstehende Jahresversammlung Ende April handhaben sollen. Verschieben? Aufs Internet verlegen? Bei gutem Wetter im Freien, mit Sicherheitsabstand? Wir entscheiden uns für die letzte Variante, persönlich hätte ich Variante eins gewählt. Ich werde da noch nicht zurück sein, sage ich. P sagt, wir können einen IPad auf den Tisch stellen, so dass du dabei sein kannst.

Manchmal denke ich, dass das hier vielleicht die beste Zeit meines Lebens ist. Vielleicht war ich nie so zufrieden und ausgeglichen, so sehr bei mir selber. Endlich der Pflicht entledigt, hinauszugehen in die Welt. Ich möchte gar nicht daran denken, dass ich irgendwann wieder zurück nach Schweden fahren muss. Eine Episode mit einer schwedischen Kursteilnehmerin heute hat mich wieder mit meinem altbekannten Groll gegen das Land und seine Leute erfüllt. Ich habe auch kein Verständnis dafür, dass Schweden mit den Sicherheitsbestimmungen so weit hinterherhinkt. Heute erst wurden Versammlungen von Gruppen über 50 Personen verboten. Ich denke hin und wieder, es liegt vielleicht daran, dass das Land von Krisen und Kriegen zu lange verschont geblieben ist. Man ist nicht an diese Art von Ernstfall gewöhnt und tut so, als würde die Bedrohung weggehen, wenn man nicht hinschaut oder allein aus dem Grund, weil in Schweden alles besser ist als anderswo.

Am Wochenende putzen und einen längeren Spaziergang machen. Das Gefrierfach auftauen. Am Montag muss ich Lebensmittel kaufen.

Es ist spät, genauer gesagt 23:46.



Coronavirus-Alltag auf Lesbos XVIII (25.März)


Träumte heute Nacht: Ich war „irgendwo“ (wie so oft in meinen Träumen). Begegnete einer Gruppe in einem Minibus und fragte, ob ich bei ihnen mitfahren könnte. Ich setzte mich neben den Mann in der ersten Reihe und wir fingen an, uns zu unterhalten. Da fiel mir plötzlich die Sache mit dem Virus ein. Es war sehr unvorsichtig von mir gewesen, in diesen Bus zu steigen. Aber wie würde ich jetzt aus der Situation wieder rauskommen, ohne unhöflich zu wirken?

Wachte aus dem Traum auf, der mein erster Alptraum mit Corona-Bezug war. Ich war gestern in voller Kleidung und bei voller Beleuchtung auf dem Bett eingeschlafen, völlig unfähig aufzustehen und mich fürs Schlafengehen fertigzumachen. Nach mehr als einer Stunde zwang ich mich dann dazu. Putzte die Zähne, zog meine Nachtkleider an. Zog die Überdecke ab, kroch unter die Bettdecke. Am Morgen dann schien es mir völlig unmöglich, aus dem Schlaf wieder aufzuwachen. Ich lag wie erschlagen im Bett.

Las eine Beschreibung des Alltags einer Frau, deren Mann an Coronavirus erkrankt ist. Die 16jährige Tochter ist von der Schule beurlaubt und kommt nach Hause. Die Frau schläft schon auf dem Fußboden in einem separaten Zimmer. Der Mann hat sein eigenes Badezimmer, in das er sich schleppt. Der Alltag des Reinigens, Waschens, Desinfizierens, Händewaschens. Völlig unvorstellbar.

In New York verdoppeln sich momentan die Coronafälle in dreitägigem Rhythmus. Trotzdem will Trump an Ostern die Einschränkungen wieder aufheben - Todesfälle in Kauf nehmen, um die Wirtschaft zu retten. Kann niemand diesen Mann ganz einfach an seiner Krawatte wegführen? Verdummung der Dummen durch einen Dummen - und die Welt ist dazu verdammt zuzusehen.

Prinz Charles hat sich angesteckt. Und wahrscheinlich hat er selber auch andere angesteckt. In Großbritannien werden Freiwillige für den NHS gesucht. 170.000 haben sich innerhalb kürzester Zeit angemeldet. Eine Supermarkt-Angestellte in Italien ist jetzt am Virus gestorben.

Mein Haiku-Kurs ist im Gange. 9 Teilnehmer. Ganz über Erwartung.  

Denke über einen Tanzworkshop übers Internet nach. "Herz-Sutra"-Tanz.

Der körperliche Abstand zwischen Anna und mir wächst weiter. Jetzt winken wir uns nur aus weiter Ferne zu, recken die Daumen in die Höhe. Aus dem Dorf wird über die Lautsprecher griechische Musik gespielt - vielleicht zur Aufmunterung der Bewohner. Sie muntert jedenfalls mich auf.

Es geht immer noch ein kalter Wind - zum Mittagessen ging ich aufs Nachbargrundstück und setzte mich vor das Haus, geschützt gegen den Wind durch eine kleine Mauer. Las ein paar Seiten in meinem chinesischen Krimi. Ich saß in einem Sonnenfleck. Entspannend.

Den Nachmittag unter dem Dach verbracht, mit dem A-Text. Dann Mittagessen: dicke Bohnen in Tomatensoße, Schafskäse, Krautsalat von gestern. Mein chinesischer Krimi verschwand vom Tolino und ich musste eine umständliche Aktion starten. Lief mehrmals zwischen Teepavillon und Haus hin und her. Restart mit Hilfe eines Nagels aus dem Werkzeugkasten. Schließlich das Buch erneut ausgeliehen und draufgeladen. Dann war alles wieder gut. Es wurde unangenehm kalt plötzlich. Ein eiskalter Wind.

Begann mit einem Sketch, musste aber unterbrechen, weil ich mehrere Termine hatte. Ein Vortrag und Workshop über "Sacred Space" mit Artie Wu, der aber ständig einfror, nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen Teilnehmern. Schade, denn ich mag seinen Stil. Unterbrach den Vortrag und schaute mir einige Videos mit Tips zum Malen mit Wasserfarbe auf Youtube an, um die Zeit zu überbrücken, bis es Zeit war für meinen Mahamudra-Kurs. Dann der Kurs, der eine halbe Stunde später anfing als angekündigt und mich sehr ermüdete. Bei mir ist es ja außerdem eine Stunde später als in Schweden. Ich hatte zwei Hosen übereinander und war in eine Decke und einen Schal eingehüllt.

Jetzt wieder zu Hause, habe Knäckebrot mit Käse gegessen und einen Schluck Whisky getrunken. Schmerzen im Handgelenk, irgendeine Entzündung.

Schluss für heute. 23:17



Coronavirus-Alltag auf Lesbos XVII (24.März)


20:22

Ein Tag ohne Aufzeichnungen.

Jetzt zwei Tage im "Büro" verbracht. Gestern Textgespräch mit A und Arbeit für den Vorstand. Heute Vorbereitung des Haiku-Kurses. Es war kalt, gestern regnete es. Der Kater Bibi rennt mir hinterher wie ein Hund, und wenn ich im Haus oder im Pavillon bin, sitzt er vor der Tür und schreit. Nichts hilft. Ich füttere ihn, streichle ihn, und sobald ich mich von ihm abwende, fängt er wieder an zu schreien. Die anderen können ihn nicht leiden. Sogar der sanfte Caesarion nimmt plötzlich eine Kampfstellung ein.

Rufe jetzt meine Mutter täglich an, um sie an ihre Übungen zu erinnern. Bist du heute schon auf dem Tisch gesessen und hast die Beine baumeln lassen? Und den Ball mit dem Fuß rollen! Den spitzen Ball? fragt sie. Ich habe keine Ahnung, was ich mir unter einem spitzen Ball vorstellen soll. Schüchtern frage ich, ob sie ihre Tabletten schon genommen hat. Noch nicht, ich habe ja noch nicht zu Abend gegessen! Sie ist heute mit I und H um den Stock gegangen - das hat ihr gutgetan.

Seit gestern früh komplettes Ausgangsverbot in Griechenland. Ich verbrauche jetzt meine Lebensmittel, bevor ich wieder einkaufen fahre. Nur der Wein ist jetzt zu Ende, aber den kann man ja nicht als "lebensnotwendig" bezeichnen. Trinke jetzt einen Schluck Whisky, den ein Sommergast hier gelassen hat.

Produktiver Tag. Am Abend eine Zeichnung vom Zimmer. Da ich meinen Handy-Verbrauch jetzt total minimiert habe, gehe ich immer in den Pavillon, wenn ich Bilder auf Instagram lade. Pia und ich mailen anstatt uns SMS zu schicken. Dazu muss ich auch in den Pavillon gehen. Ich rufe nur meine Mutter an - der Rest der Kommunikation findet über Wifi-taugliche Kanäle statt. Dadurch kriege ich auch regelmäßig frische Luft und Bewegung - ich laufe mit der Taschenlampe zum Pavillon, um zu sehen, wie viele Herzchen ich für mein Bild auf Instagram bekommen habe.

Abends ist die Burg angeleuchtet, als wäre alles wie immer. Mein Mittagessen war ein Kartoffeldatschi mit geriebenem Ladotiri, dazu Linsen und ein Salat aus Rotkohl und Weißkohl, Oliven. Lecker. Ich las meinen vierten chinesischen Krimi. Gemütlich. Jetzt ist gerade wieder ein Sauerteigbrot im Ofen.



Coronavirus-Alltag auf Lesbos XVI (22.März)


21:22

Ich habe die Unruhe heute in den Knochen gespürt. Als würde etwas sich zuspitzen. Am Abend dann saß ich im Teepavillon und las Nachrichten, während es draußen dunkel wurde. Keine zuversichtliche Prognose - alles wird nur schlimmer. Und es gibt immer noch so viele Menschen, die einfach keine Einsicht haben. Ich tastete mich im Dunkeln nach Hause und bekam bald einen Risiko-Alert auf dem Handy. Ab morgen früh um 6 Uhr Ausgangssperre. Auch wenn man zum Lebensmittelladen geht, soll man seinen Ausweis dabei haben.

P erzählt von einer Roma-Frau, die im Lebensmittelladen bei uns um die Ecke in Schweden plötzlich anfing, wild zu husten. Alle erstarrten. Der Ladenbesitzer trat einen Schritt zurück. Bist du krank? fragte er.

Fuhr zum Container, um meinen Recycling-Müll wegzubringen, und wollte mir hinterher mal das leerstehende Hotel anschauen, von dem P mir erzählt hatte. Es war wirklich gespenstisch. Vielleicht vor dem Hintergrund der Corona-Krise noch mehr. In einem Zimmer zerfressene Kissen und Bettwäsche. In der Küche Reste eines großen verkrusteten Herds. Ein paar völlig verdreckte Teller auf dem Boden. Eingeschlagene Fenster, Fensterrahmen, die schief in den Angeln hingen. Ich ging vorsichtig durch die Eingangshalle. Als könnte der Fußboden unter mir nachgeben und ich einfach in die Tiefe fallen. Dabei war es massiv. Im Durchgang zu einem anderen Gebäude ist das Dach eingesackt. Die Terrasse ist schief, weil überall Pflanzen durch die Ritzen zwischen den Steinplatten gebrochen sind. Das Ganze war wie ein apokalyptischer Vorgeschmack darauf, wie die Welt innerhalb kurzer Zeit aussehen wird, wenn die Menschen vom Erdboden getilgt sind.

Habe den dritten Krimi von Xioalong Qiu jetzt ausgelesen: "Die Frau mit dem roten Herzen". Wieder weiß ich nicht genau, wer es jetzt eigentlich war. Es gibt keine "Täter", nur Leute, die alle in irgendwelche schmutzigen Geschäfte verwickelt sind. Darüber hinaus bekommt man sehr viel Einblick in die chinesische Gesellschaft, die Literatur, die Geschichte. Lud einen weiteren China-Krimi auf den Tolino.

Was mich selber angeht, so sehe ich die Zeit hier als eine Chance. Lange habe ich von einem extremen Retreat geträumt, noch auf dem Weg hierher. Immer wieder habe ich mich antreiben lassen, von Terminen, äußeren Notwendigkeiten, von meiner Rastlosigkeit und von eingebildeten Verpflichtungen. Vielleicht gelingt es mir, diese Zeit als einen Umwandlungsprozess zu nutzen. Das Apartment ist jetzt meine Höhle, und die Landschaft, die mich umgibt, ist mein Himalaya. Ich werde herausfinden, wie wenig ich brauche, und vielleicht kann ich einige Gewohnheiten und Verkrustungen abwerfen.



Coronavirus-Alltag auf Lesbos XV (21.März)


2020/03/21 22:39

Mit dem Pomera auf dem Bett. Habe heute einige Stunden Arbeit am A-Text aus Unaufmerksamkeit verloren. Weil ich zu schnell damit war, eine Taste zu klicken, die mich dann auf den Status von gestern Abend zurückwarf.

Heute ein wunderschöner Tag, endlich wieder Wärme in der Sonne, so dass ich zum Mittagessen draußen sitzen konnte. Kartoffelfladen mit geriebenem Käse, Linsen, Krautsalat mit Apfel und Kürbiskernen. Buk wieder ein Brot. Diesmal gelang es, mit einer Prise Hefe, ging auf wie ein Fußball, wurde saftig und gut im Geschmack.

Putztag. Warf alle Teppiche hinaus auf die Terrasse, fegte und wischte die Innenräume. Schüttelte dann die Teppiche aus, legte sie auf den Trockenständer. Das Ganze dauerte nicht lange. Danach setzte ich mich mit einer Tasse Tee und dem chinesischen Krimi unter den Olivenbaum.  Julia kam und setzte sich auf meinen Schoß. Nach einer Weile wurde sie wieder aggressiv in ihrer Zuneigung, und ich setzte sie zurück auf den Boden. Aß ein paar Schokoladenkekse. Hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Zeit hier so genieße.

Später machte ich mich auf einen Spaziergang, völlig ohne Ziel. Machte an der Schafswiese halt und nahm das Skizzenbuch hervor. Als ich eine Weile gezeichnet hatte, kamen die Schafe immer näher, akzeptierten mich als eine der ihren. Das Gebimmel ihrer Glocken: in meinen Ohren klingt es schön und melodisch. Wie ist das für sie? Keinen Schritt machen können, ohne dass es bimmelt?

Ging dann wieder übers Flussbett, den üblichen Weg entlang, bog aber Richtung Alonia ab und nahm dann einen Weg in das Pinienwäldchen hinein. Wunderschön weiche Abendsonne. Eine Bank, auf der man einmal sitzen und den Sonnenuntergang betrachten könnte. Wollte dann eigentlich einen anderen Weg zurückgehen, landete aber dann wieder auf meinem wohlbekannten Pfad und ging übers Flussbett zurück.

Auf dem Weg zum Haus kam ich an I vorbei, die gerade von einem Eukalyptusbaum ein paar Blätter abzupfte.

Was machst du?

U und sie planten ein Ritual, das sie in Australien von einem Aborigine gelernt hatten.

Willst du mitmachen?

Ich war eigentlich hungrig, wollte aber dieses Angebot nicht ausschlagen. Wir sollten Zweige und Blätter verschiedener Bäume sammeln, die verschiedene Qualitäten haben. Eiche, Akazie, Eukalyptus, Platane, Olive. Dann verbrannten wir sie in einem Tontopf auf einem Kohlefeuer. Jede durfte sagen, was sie sich wünschte oder was sie ins Feuer werfen wollte, dabei folgten jeweils wir den verschiedenen Qualitäten des Holzes (hart, weich, fruchttragend, aromatisch etc.). Ich warf meine Hartherzigkeit in den Topf. Am Ende kam Duftendes ins Feuer. Hin und wieder sangen wir etwas, dann machten wir einen kleinen Tanz (ohne Händehalten). Immer wieder fachten wir das Feuer mit einem Besen und einer Kehrschaufel an. Währenddessen ging die Sonne über dem Dorf unter. Es wurde kühl, die Dämmerung senkte sich. Wir umhüllten uns gegenseitig mit dem Rauch von Salbei und Süßgras und schließlich holte U noch Weihrauchkrümel vom Berg Athos, die sie auf ein Stück glühende Kohle legte. Wir schickten unsere Gebete in den Himmel. I holte eine Flasche Rotwein und drei Gläser, und nachdem wir erst der Erde etwas vom Wein geopfert hatten, stießen wir selber damit an.

Ich bekam hinterher etwas Schafskäse von ihnen, den heute eine Freundin bei ihnen vorbeigebracht hatte, zusammen mit einem frisch geschlachteten Lamm. Dabei hatten sie die Auflage bekommen, das Lamm in seiner Gesamtheit zu essen, aus Respekt dafür, dass es sein Leben geben musste. Vom Kopf hatte I heute eine Suppe gekocht. Die Innereien kriegen die Katzen.

Wenn das Töten und Schlachten eines Tiers überhaupt zu rechtfertigen ist, dann nur auf diese Weise. In einem Gefühl des Respekts und der Dankbarkeit, einer intimen Nähe zu dem Vorgang des Töten und Schlachtens, vielleicht auch zu dem lebenden Tier selber.

Bekomme eine Mitteilung von Giorgos. Wie geht es dir; (Im Griechischen ist der Strichpunkt das Fragezeichen) Gut! Und dir? Ihm auch. Er genießt die Situation beinahe. Das tue ich auch. Endlich kann ich meinem Bedürfnis nach Alleinsein nachgeben, ohne das nagende Gefühl, nutzlos zu sein. 

Samstag, 21. März 2020

Covid-19-Alltag auf Lesbos XIV (20./21.März)

08:19

Gestern nichts ins Tagebuch geschrieben, also muss ich mich jetzt zusammennehmen, bevor ich alles vergesse.

Gestern war der erste Bonustag auf der Insel. Zwei Wochen sind vorbei, aber diese zwei Wochen fühlen sich an wie zwei Monate. Oder anders. Amorph. Zeitlos. Eine Ewigkeit. Ich zähle die Tage nicht mehr, und die Zeit weitet sich aus.

Ist es egoistisch, hier zu sitzen, in dieser Sicherheit? Es fühlt sich wenigstens an wie Sicherheit. Selbst wenn die öffentlichen Räume gesperrt würden, würde ich mich nicht eingesperrt fühlen. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die allermeisten Inselbewohner sich sehr vernünftig verhalten. Wenn Männer vor dem "Alte-Männer-Café" am Dorfeingang einen Kaffee trinken, sitzen sie außerhalb des Cafés auf einer Mauer, mit großen Abständen. Das sind aber vereinzelte Personen, und es wird auch nicht von allen gut aufgenommen, dass der Cafébesitzer immer noch nicht zugemacht hat. Den Yogalehrer Dimitris sah ich mit einer Thermosflasche auf einem der Stühle vor dem Café Platanaki in der Sonne sitzen. Auch eine gute Idee.

In der Apotheke konnte ich gestern sehen, dass inzwischen eine Glasscheibe am Tresen angebracht ist, die den Apotheker schützt (der außerdem noch eine Atemmaske aufhat).

Ich habe jetzt ein "Büro". Jederzeit kann ich zum Teepavillon gehen, mich aufs Sofa oder an den Schreibtisch setzen. Ich kann dort meine Mails schreiben und im Internet surfen. Ich könnte den ganzen Tag da verbringen, Tee trinken, in den Büchern schmökern. Mein eigenes Telefon habe ich etwas heruntergefahren. Die Batterie beginnt deutlich schwächer zu werden und ich will auch im Datenverkehr nicht endlos Gigabytes verbrauchen. Um den Computer zu benützen, bin ich schon auf Netzbetrieb angewiesen. Er stirbt sofort, wenn die Stromversorgung mal abbricht, was ja hier hin und wieder passiert. Zum Glück ist die Software inzwischen so weit entwickelt, dass ich dann keine Daten verliere. Der Status Quo wird als vorläufiges Dokument gespeichert.

Schrieb einige Mails im Teepavillon, trieb mich etwas auf FB herum, womit ich aber sofort wieder aufhören werde. Es gibt mir gar nichts mehr. Ich habe nur meine Freunde darüber informiert, dass ich jetzt auf unbestimmte Zeit auf Lesbos bin, damit das erledigt ist. Las Zeitungen. New York Times. Süddeutsche. Guardian. Aber es gibt nichts Neues. Der Virus. Die Zahlen. Las Berichte von Leuten, die im Ausland gegen ihren Willen festsitzen. Die meisten sind verzweifelt. Nur ein Rentner, der mit seinem Wohnmobil in Portugal auf einem Campingplatz sitzt, schrieb, dass er er da bleiben will. Die einzige Lösung jetzt: zuhause bleiben, wenn möglich, Abstand halten, wenn möglich.

Es macht mir ein wenig Sorgen, dass Cleo so viel trinkt. Wenn sie ins Haus kommt, ist ihr erster Gang zur Wasserkanne. Aber sollte ich deshalb Myrsini anrufen? Wenn eine der Katzen ständig Tabletten essen müsste oder Spezialfutter bräuchte, wäre ich sowieso nicht in der Lage, das auf Dauer zu leisten. Ich versuche jetzt, ein wenig strenger zu den Katzen zu sein, sie manchmal hinauszuschicken. Ihnen nicht andauernd Futter zu geben. Sie dürfen sich nicht an diese Rundumversorgung gewöhnen. Es ist auch nicht gesund für sie. Cleo war jedenfalls heute Nacht draußen, kam erst am frühen Morgen zurück. Caesarion machte mich vorsichtig darauf aufmerksam, und ich öffnete die Tür.

D schickte gestern einen kleinen Film, auf dem er demonstriert, was Oskar schon in der Hundeschule gelernt hat (und D natürlich auch).

Später kommt noch ein Video-Gruß. Er erzählt, dass die Mitarbeiter im KaDeWe aufgefordert wurden, im sechsten Stock alles an verderblichen Waren mitzunehmen. Er sei etwas widerstrebend mit einer Kollegin hochgegangen. Sie hatten jeder eine Tasche dabei und begannen vorsichtig hier und da was zu nehmen. Als sie sahen, wie andere Leute abräumten, wurden sie auch enthemmter. Schließlich kam er mit sechs Tüten Lebensmitteln nach Hause.

Meine Schwester schickt ein Video mit unserer Mutter. Sie haben einen Spaziergang gemacht. Es geht unserer Mutter so làlà. Das Bein ist wieder dünner, aber das Gehen geht nicht so gut.

Dann kommt ein Video von R und S. Sie erzählen, was sie in den letzten Tagen so gemacht haben. Auch sie konnten Lebensmittel von einer "Rettungsstelle" abholen. Viel Salat, Grünzeug. Sie putzen, machen Fahrradausflüge, waren beim Schwimmen im See. Sind guter Dinge.

Heute las ich in der New York Times, dass in Italien jetzt Richtlinien erarbeitet werden, bei welchen Patienten in den Krankenhäuser lebenserhaltende Maßnahmen eingesetzt werden sollen und bei welchen nicht. Hat der Patient eine Lebenserwartung von mehr als zwei Jahren? Hat er einen Nutzen für die Gesellschaft? Haben die lebenserhaltenden Maßnahmen eine Aussicht auf Erfolg?

War bei Theodosos. Die Mitarbeiter trugen heute keine Masken. Ich kaufte etwas Gemüse, getrocknete Bohnen, Linsen, Retsina, Eier. Gut gefüllte Regale. Die Leute hamstern hier offensichtlich nicht. Ich fragte, ob die Lebensmittelsversorgung noch gut sei. Bisher ja. Er erkundigte sich nach P. Sie ist krank, sagte ich. Hat sie den Virus? Sie weiß es nicht. Hat sie eine Vorerkrankung? Ja, das hat sie. Sie hat einen Test im Internet ausgefüllt und bekam hinterher die Empfehlung, in der Gesundheitszentrale anzurufen, wahrscheinlich, weil sie auf die Frage nach einer Autoimmunerkrankung mit "ja" geantwortet hat. Man warnte vor langen Wartezeiten. Das Gespräch wurde aber nicht einmal durchgestellt.

Arbeitete viel an meinem A-Text. Er gibt meinem Leben im Moment Sinn und Inhalt, Struktur und Fokus. Fast fürchte ich den Augenblick, wenn ich damit fertig bin.

Covid-19-Alltag auf Lesbos XIII (19.März)


23:42

Es ist spät geworden. Ich habe lange am A-Text gearbeitet.

Heute wäre eigentlich der Tag, an dem ich nach Hause gefahren wäre. Wenn alles so gelaufen wäre wie geplant, würde ich jetzt am Flughafen in Athen sitzen und morgen früh nach Kopenhagen fliegen. Eine unbequeme Nacht würde vor mir liegen. Jetzt wartet ein warmes Bett auf mich.

Ging am Vormittag zum Teepavillon und beantragte auf der Aegean-Homepage Voucher für die stornierte Buchung. Redete später mit meiner Mutter am Telefon. Sie spricht vor allem von ihrem geschwollenen Bein und schwärmt von dem Wochenende am Achensee. Ich sage, du kannst ja hin und wieder zwanzig Minuten lang in deinem Flur auf und ab laufen. Ja, sagt sie, ich kann froh sein, dass ich einen so langen Flur habe.

Zum Mittagessen Salat, Spiegeleier und Brot mit Olivenöl und Ladotiri-Käse. Giorgos schreibt auf WhatsApp: Ich halte mich an die Ausgangsregeln und bleibe zu Hause. Hast du alles, was du brauchst? Ich antworte, dass ich alles habe und einmal am Tag einen Spaziergang in der Natur mache. Er schickt mir ein griechisches Glücksauge.

Gehe nochmal zum Teepavillon, um einen neuen App auf den IPad zu laden, den mein Bruder vorgeschlagen hat, damit wir ein Familiengespräch führen können. Schaue mir Merkels Rede "ans Volk" an. Die Lage ist einfach beängstigend. Hinterher mache ich mich mit meinem Sketchbuch auf eine Runde zum Strand und gehe dann über den Hügel zurück. Am Strand sitze ich lange auf einem wettergegerbten Holzbalken und zeichne den Sand, die Steine, den Balken. Es wird kalt, als ich mich auf den Heimweg mache. Wie gestern komme ich ins Abendrot hinein. Der rosalila Himmel. Das Licht, das rot von den Zweigen der Bäume reflektiert wird.

Zum Abendessen bekomme ich gebratene Pilze und Linsen und einen Salat aus geriebenen Mohrrüben und Apfel, dazu ein Glas Retsina, später eine Tasse Kamillentee mit Zitronengras. P ist enttäuscht und wütend, weil die Frau, die ihr Marimekko-Kleid ersteigert hat, nicht bezahlt hat. Sie behauptet, dass sie arbeitslos geworden ist und gerade kein Geld hat. Warum hat sie dann den Preis in die Höhe getrieben? Ich habe auch keine Antwort, verstehe Ps Enttäuschung. Wir unterhalten uns über verschiedene Probleme, die jetzt aufgrund der Viruskrise in unserer Wohngesellschaft entstehen. Vielleicht könnten wir die Jahresversammlung virtuell abhalten? Und für den gemeinsamen Arbeitstage Aufgaben verteilen, die jeder je nach Belieben erledigen kann? Ich sage streng zu P, dass sie nicht einkaufen gehen soll, wenn sie Husten hat und sich etwas krank fühlt. Was gibt es daran nicht zu verstehen?

Ich frage mich, wie lange ich meine Situation hier als Luxus sehen kann, ob mir irgendwann die Decke auf den Kopf fällt, ich die Spazierrunden satt haben werde.


Covid-19-Alltag auf Lesbos XII (18.März)

22:50

Fünf Minuten nur, weil es schon so spät ist: 

Sonnig und kalt heute. Fuhr zum Einkaufen. Theodosos sagte auf meine Frage, alles sei gut. Die Regale waren gefüllt. Auch reichlich Katzenfutter. Kaufte noch eine Packung Espresso, zwei Kohlköpfe. Mehl. Katzenfutter. Das Brot von gestern ist leider nichts geworden: in der Mitte zusammengefallen. Kaufte also Hefe, als Extra-Pusher, aber auch ein frisches Brot. 

Theodosos' Helfer trugen Atemmasken, Theodosos selber nicht.

Arbeit am A-Text. Wäsche waschen.

Mittagessen: Brot und Käse und Gurken, am Schreibtisch.

Notgedrungen ein Spaziergang, es wurde dann aber doch schön in der Spätnachmittagsonne, wieder zum Drachenberg. Begegnete zwei Joggern und einer Gruppe Geländeradlern. Machte eine Skizze von der Landschaft und einem Schafbauernhof, sie misslang mir völlig. Als ich nach Hause spazierte, ging die Sonne schon unter als leuchtend oranger Ball. Rosa Wolken mit lila Rändern schwebten am Himmel. Ich machte wieder ein paar Fotos.

Langsam kenne ich mich mit dem Gewirr der geheimen Wege aus, zwischen Flussbett, Drachenberg, Alonia und Parkplatz. Weiß, wo man nach Eftalou abzweigt. Weiß auch, dass mich auf dem Weg, der am Zaun entlang geht, an einer gewissen Stelle sieben Hunde anbellen werden.

Ansprache von Merkel an die Nation heute Abend, habe sie mir aber nicht angeschaut.

Ich bin immer noch zufrieden mit meiner Isolation. Ging im eiskalten Sturmwind zum Teepavillon, um meine eingestellten Flüge auf eine Liste von Aegean zu schreiben, so dass ich wenigstens einen Voucher bekomme. Sie ändern ihre Policy ständig. Letzte Woche war noch die Rede von einem Refund.

Abendessen: gebratene Champignons, vermischt mit dem Rest der Nudeln von gestern, eine Handvoll gekochte Linsen. Zeichnete eine Olivenseife, aber ich verpatzte auch dieses Bild. Bin gerade in der Verpatzphase.

Langes Telefongespräch mit P.

Die Zähne sind schon geputzt. 

Covid-19-Alltag auf Lesbos XI (17. März)


Abends: Agnes ist gerade mutig. Hält sich in der Nähe der offenen Tür auf und kann es nicht sein lassen, sich immer wieder ein paar Schritte ins Haus hinein zu bewegen. Dabei hat sie den Sicherheitsabstand zu mir etwas verringert. Reibt sich an der Tür, legt sich kurz auf den Fußabstreifer. Die Neugier treibt sie. Die anderen drei liegen bräsig auf dem Bett herum. Punxy verlässt das Haus fast nie und lebt ihre Energie aus, indem sie Flaschenkorken auf dem Fliesenboden vor sich hertreibt, mit dem Teppich kämpft und wie der Blitz die Leiter hochrennt.

Am Abend kam wieder ein Risiko-Alert auf dem Handy, mit einem unheilvollen Signal. Möglichst das Haus nicht verlassen, nur zu den nötigsten Besorgungen. Abstand zu Menschenansammlungen bewahren. Besondere Rücksicht auf Angehörige der Risikogruppen. Ch will mich nächste Woche zum Essen zu sich einladen. Bin ich ein Risiko für sie oder sie für mich? P erzählt, dass ihre Konferenz morgen via Internet stattfindet. Die Gymnasien und Universitäten in Schweden sind ab nächster Woche geschlossen. Die Grundschulen bleiben geöffnet, wegen des Betreuungsproblems.

Deutschland holt seine Bürger jetzt nach Hause, aber das hier ist ja auch mein Zuhause, und noch will ich nicht weg von hier. Nach meiner ersten Planung würde ich übermorgen nach Hause fliegen. Die Zeit erscheint jetzt viel länger - es ist so viel passiert. Wie wird es sein, wenn ich in eineinhalb Monaten nach Hause fahre? Die einzige Sorge, die ich habe, ist, dass es auch dann nicht möglich sein wird.

Habe heute mein erstes Brot mit Weizensauerteig gebacken. Es ist ganz offensichtlich gelungen, nur das Backpapier ist am Brotlaib festgeklebt. Ich versuchte, es ihn mit Hilfe von Wasser abzulösen, aber es schien fest mit dem Brot verbunden zu sein.

Mein Abendessen war heute getoastetes Brot mit Olivenöl, Ladotiri, Gurkenscheiben und Oliven, dazu Retsina. Auch die Gurken schmecken hier viel besser als zu Hause. Morgen möchte ich einen Olivenvorrat kaufen und einen Weiß- und einen Rotkohl. Noch eine Packung Espresso, eine Spülbürste. Mehr Mehl.

Gestern entdeckte ich, dass mein Batterieladegerät nicht mehr funktioniert. Solche Kleinigkeiten bringen mich aus dem Konzept. Wie lange kann ich mein schwedisches Handyabonnement außerhalb von Schweden benutzen? U und I haben mir heute den Teepavillon aufgeschlossen. Dort kann ich rund um die Uhr ihr Wifi benützen und es mir dabei gemütlich machen, vielleicht sogar einmal abends einen Film anschauen. Ich habe so viele Erinnerungen an dieses Gelände, zu den verschiedensten Jahreszeiten. Manchmal war ich hier ganz allein, so dass ich über den Zaun klettern musste, um mein Wasser zu holen, oft war ich hier mit Gruppen, um die ich mich kümmerte. Der Swimmingpool ist noch mit einem Netz bedeckt. Es ist schwer sich vorzustellen, dass hier bald wieder der Normalbetrieb anfängt.

Die Handwerker Vassilis und Giannis renovieren gerade Spitaki. Auch mit dem Häuschen verbinde ich besondere Erinnerungen - es hat eine gewisse symbolische Bedeutung für mich, dass die Wände jetzt mit neuer Farbe übertüncht werden.

Machte einen Spaziergang heute Nachmittag, hab dabei auch ziemlich Sonne abgekriegt. Ich hatte mir meinen Fotoapparat umgehängt und plante, mich im Dorf irgendwo hinzusetzen und zu malen. Fuhr mit dem Fahrrad los, ging dann Richtung Hafen, machte einen Besuch in der Kapelle am Hafeneingang, lief die ganze Hafenkante entlang und kletterte schließlich zu dem wilden Gelände hoch, auf dem sich das antike Molyvos befunden hat, mit Blick auf die Türkei über einem tiefblauen Meer. Lief auf Schafspfaden die Küste entlang, im kalten Nordwind. Wie das auf Lesbos so ist, kommt man früher oder später an einen Zaun und entweder kann man drüber klettern oder es gibt irgendein improvisiertes Gatter, das man öffnen kann. Ich lief ein wenig kreuz und quer über Wiesen, am Friedhof vorbei, der sich außerhalb des Dorfes befindet, im unkrautbewachsenen Land, und ging dann durch ein Tor, das mit einem Seil zugebunden war. Sozusagen durch die Hintertür kam ich vom Friedhof her wieder ins Dorf, das wie ausgestorben war. Zwei Jugendliche begegneten mir, einsam herumsitzende Männer, eine Frau mit ihrem Kind. Nur im kommunalen Café saß eine Gruppe Männer um einen Tisch. Zigarettenrauch stieg hoch, man konnte Stimmen hören. Der Supermarkt von Theodosos war zu, am Gitter hing Brot in einer Plastiktüte mit einem Zettel, auf den jemand "MIMI" geschrieben hatte. Die Friseurin Rajna hat ihr Schaufenster jetzt von außen verklebt. "Geschlossen" steht da, in Filzstiftschrift. Ihr Mann und einer ihrer Söhne machen vor dem Restaurant Giasas sauber. Die Post hat auch schon um 12 Uhr zugemacht. An der Tür zu einem Architekturbüro lese ich, dass niemand ohne Handschuhe und Maske das Büro betreten darf. An der Eingangstür zur Apotheke hängen große Informationsplakate zu Covid-19.

Es war mir nicht danach, mich irgendwo zum Malen hinzusetzen, also fuhr ich wieder nach Hause. Malte allmählich eine Orange und den Brotteig in der Form mit dem Backpapier. Als Gleichgewicht brauchte ich noch etwas. Eine kleine griechische Yoghurtschale stand herum und bot sich an.

Ein guter Tag. Mein Leben normalisiert sich. Ich habe heute drei Internetschreibkurse entworfen, um etwas Geld zu verdienen. Wie immer fällt es mir schwer, einen Preis festzulegen, der sich für mich gut anfühlt. Meistens bleibe ich weit darunter.

22:55, ich gehe ins Bett.


Dienstag, 17. März 2020

Covid-19-Alltag auf Lesbos X (16.März)

Gestern dann die Nachricht, dass Deutschland die Grenzen zu Österreich, Frankreich und der Schweiz schließt. ZDF-Nachrichten bei U und I. Sie hatten den kalten Tag in ihren Schlafsäcken im Wohnzimmer verbracht, ich hatte mich zumindest zu meiner einstündigen Spaziergeh-Runde aufgerafft. Wenn ich mir die Natur anschaue, die im Moment ihre Lebenskraft wieder demonstriert, bin ich froh, dass wir keine Chernobyl-Situation haben, die auch die Tiere und die Pflanzen bedroht.

Meine Familie ist nach Hause gekommen und muss sich doch nicht in Quarantäne begeben - sie waren zweihundert Kilometer vom Risikogebiet entfernt. Auf WhatsApp schicken sie sonnige Frühlingsbilder von einem Sonntagsspaziergang am Tegernsee mit Eis am Stiel.

Zu Abend esse ich eine mit Schafskäsemasse gefüllte rote Paprika, Nudeln mit Petersilie und Knoblauch und einen Broccolisalat. Trinke Retsina. Lese weiter im chinesischen Krimi, meinem dritten bisher.

Heute früh stand ich erst nach acht auf, nach einer unruhigen, traumreichen Nacht. Fuhr nach dem Frühstück zur Kooperative bei der Olivenpresse, um einen größeren Einkauf zu machen. Katzenfutter, einen ganzen Ladotiri, Mehl, Haferflocken, Milch, Joghurt, Rosinen, Honig, Wein, Salz, Zimt. Ein alter Mann wartete vor dem Eingang des Geschäfts, bis ich meinen Einkauf beendet hatte. An einem Obstwagen beim Dorfeingang kaufte ich ein Kilo Äpfel. Bis auf laufende Gemüseeinkäufe bin ich jetzt ganz gut ausgestattet.

Bei der Bank bekam ich kein Geld, weil ich keine griechische Steuernummer habe. Ich habe aber von dem Konto öfter Geld abgehoben, sagte ich. Im Bankbuch ist zu sehen, dass ich eine Vollmacht habe. Das spielt keine Rolle, sagten sie. Sie könnten mir das Geld nicht geben. Neue Regeln. Etwas bedrückt fuhr ich nach Hause, gerade rechtzeitig für mein Gespräch mit A. Wir füllen die Lücken in der Erzählung. Jetzt kann er plötzlich ganz neue Details beitragen. Wir sind konzentriert. Innerhalb von einer Dreiviertelstunde kritzle ich acht A5-Seiten voll.

Per Mail der Bescheid, dass das Tanzfestival Anfang Mai abgesagt wird. Außerdem sehe ich, dass mein Flug von Athen nach Kopenhagen am 2.April eingestellt wurde. Ich habe noch keine Mail dazu bekommen. Die Buchung vom 19.März ist schon verschwunden, ich habe aber keine Bestätigung erhalten, dass das Geld auf die Kreditkarte zurückerstattet wird. Wie lange werde ich hierbleiben müssen? Könnte ich über Stockholm zurückfliegen? P beruhigt mich: "Ich halte die Stellung. "Ihre Kurse werden jetzt auch abgesagt. Einkommmenseinbrüche. Wie sollen wir das schaffen? Denke an den zweiten Weltkrieg, die sogenannte "schlechte Zeit". Am Dorfeingang verkauft ein Mann von einem Lastwagen große Säcke mit Kartoffeln und Zwiebeln.

Unter dem Dach auf meinem Meditationskissen sitzend arbeite ich am A-Text, halte mich lange an einfachen Formulierungen auf. Zum Mittagessen Linsensuppe, die ich vorgestern gekocht habe, und geröstetes Brot mit Olivenöl und Ladotiri. Es ist kalt draußen, obwohl die Sonne scheint. Ich esse im Haus.

Später schreibt P, dass sie sich schlecht fühlt. Sie hat angefangen zu husten und hat einen Druck auf der Brust. Außerdem ist ihr schwindlig. Kein Fieber, aber es ist ihr kalt. Ich hoffe, dass es nur eine Erkältung ist oder eine mentale Geschichte. Gestern, als ich bei meinem Spaziergang bergauf ging, bildete ich mir ein, dass ich Atemnot hatte.

Ein sonniger, aber windiger Spaziergang zum Drachenberg. Setze mich auf einen Stein und male die Felsen, die Bewachsung, den Himmel. Eine schöne Stunde. Ich öffne den kleinen Kapellenschrein im Felsen, schaue mir die Marienbilder an, rieche an den Weihrauchklumpen, untersuche die verschiedenen Lichthalter. Gehe zurück, überwältigt von dem saftigen Grün, das jetzt überall dominiert. Und die Lämmer, die ihre Sprünge machen, als wären sie mit reiner Lebensfreude angefüllt.

An Giorgos schrieb ich eine WhatsApp-Mitteilung, dass mir nicht nach Gesellschaft sei. Ihm auch nicht. Wir bleiben beide zu Hause und arbeiten. Ohne die Katzen wäre es ein wenig einsam. Sie bringen Wärme ins Haus.

Covid-19-Alltag auf Lesbos IX (15.März)

Gestern nichts geschrieben. Auch nichts gezeichnet. Sitze jetzt am Tisch im Zimmer, vor dem Fenster ist es jetzt dunkel. Es geht ein Wind. 10 Grad waren heute, im Vergleich zu 20 Grad gestern. Ich hatte zum ersten Mal Fäustlinge an, als ich mich auf meinen Spaziergang machte. Es wurde nur eine Runde von einer Stunde, keine lange Sonntagswanderung. Es ist mir nicht danach zumute, und das Wetter ist auch nicht danach gewesen. Ich verbrachte viele Stunden unter dem Dach und arbeitete an meinem Anas-Text. Es ist seltsam, hinterher das Haus zu verlassen. Ich bin immer noch tief in seiner Erzählung. Heute ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass viele Schafbauern zurechtgeschnittene Gummiboote als Dach benützt haben.

Ich lief über das ausgetrocknete Flussbett, an den Olivenhainen und einigen Häusern vorbei. Eine Frau mit ihrem Hund überholte mich. Ein Glöckchen war an seinem Halsband befestigt, und sie führte ihn an der Leine. Ich blieb stehen, um sie vorbeizulassen und wir grüßten uns und lächelten uns zu, sagten aber nichts weiter zueinander. Man hält sich jetzt andere Menschen auf Abstand.

Als ich gestern im Sonnenschein zum Dorf fuhr, wurde mir klar, dass eine neue Stufe in der Corona-Entwicklung erreicht ist. Ich traf Giorgos vor der Apotheke, mit grauem Gesicht. Ich habe an dich gedacht, sagte er und wirkte gehetzt. Ich auch an dich, sagte ich. Ich erzählte ihm, dass ich meinen Flug verlegt habe. Inzwischen wusste ich auch schon, dass mein ursprünglich gebuchter Flug abgesagt worden war, ich wäre also sowieso nicht nach Hause gekommen. Er sagte, er habe in den letzten Tagen in seinem Garten gearbeitet. Er müsse jetzt Gemüse anbauen, weil er nicht damit rechnen könne, dass dieses Jahr Touristen zu ins Dorf kämen. Ich gebe dir 10%, flüsterte er mir ins Ohr, wenn du meine Sachen verkaufen kannst. Alles, auch den Schmuck. Ich sagte nichts.

Alle Cafés sind seit heute geschlossen, sagte er, alle Restaurants. In der Apotheke dürfen sich maximal zwei Kunden aufhalten, und sie müssen einen Abstand von zwei Metern einhalten. Wir gingen gemeinsam in den Supermarkt. Das erste, was ich sah, war Theodosos‘ Mutter mit einer Gesichtsmaske. Theodosos hatte Gummihandschuhe an. Was denkst du heute?, fragte mich Theodosos. Heute denke ich nichts, sagte ich. Ich habe gestern schon zu viel gedacht. Melde dich, sagte Giorgos. Am Montag, sagte ich. Das Brot war ausverkauft, wie oft am Samstag, und ich ging zum Bäcker. Er stand mit einer Gesichtsmaske und Gummihandschuhen im Laden. Das Geld sollte ich auf ein mit Papier verkleidetes Tablett legen. Er sagte, wir leben in seltsamen Zeiten. Ich sagte, wir leben in furchtbaren Zeiten. Ja, furchtbar, sagte er. Ich erzählte ihm, dass Dänemark die Grenzen geschlossen hat und dass man jetzt als Ausländer nicht mehr reinkommt. Er erschrak. Ein Freund von ihm sollte in drei Tagen dort eine Arbeit anfangen. Er selber wollte ihn in einigen Monaten besuchen. In ein paar Monaten ist es vielleicht besser, sagte ich. Ich kaufte ein Brot und ein Spinatpie. Während wir redeten, hatte er sich tiefer in den Laden zurückgezogen, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.

Am Nachmittag putzte ich das Apartment, eine wohltuende Aktivität, vor allem hinterher. Dann legte ich mich zum Schlafen auf eine Liege auf der Terrasse.

War zum Abendessen bei U und I eingeladen. Es wurde ein exotischer Abend, exotisch deshalb, weil wir nach dem Essen vor dem Fernseher landeten und ZDF-Nachrichten und hinterher zwei deutsche Fernsehserien anschauten. Ich bin dem deutschen Fernsehen ganz entfremdet. Die Serien waren so unglaublich schlecht, von der Personenschilderung und den Dialogen her. Unglaubwürdig, amateurhaft. Der Krimi war völlig irrelevant, aufgeplustert, pseudowitzig. Nachdem ich alle Abschnitte von Foyle's War gesehen habe, reagiere ich empfindlich auf diese Banalität. Ich nickte andauernd ein, verpasste aber nichts. Danach ging ich im Stockdunklen nach Hause. U und I wollten mir eine Taschenlampe mitgeben, aber ich lehnte es ab, weil ich gern in der Dunkelheit laufen wollte, um mich von dem Fernsehabend zu reinigen. Ging sofort ins Bett, schlief schnell ein, entgegen meiner Befürchtungen. Am Morgen stellte P enttäuscht fest, dass ich U und I keine der wirklich wichtigen Fragen gestellt hatte. 

Meine Geschwister und meine Mutter kehren heute aus Tirol nach Bayern zurück. Tirol ist gestern (so wie auch Spanien) zum Risikogebiet erklärt werden, sie sollen sich also in eine (freiwillige) vierzehntägige Quarantäne begeben. Irgendwie macht es keinen Unterschied, dachte ich. Die meisten Leute versuchen sowieso, so viel wie möglich zu Hause zu bleiben. Die Schulen in Bayern sind ab morgen auch geschlossen.

Es ist völlig unabsehbar, wie die Welt in einigen Monaten aussehen wird. Noch hoffen wir auf die Rückkehr der Normalität.

P schreibt mir, dass die SAS 10000 Mitarbeiter "permittiert" hat. Was bedeutet "permittiert"? schrieb ich. Freigestellt, ohne Bezahlung.

Heute dachte ich zum ersten Mal daran, dass ich zu meinem Überleben davon abhängig bin, täglich Schilddrüsenhormone zu essen. Ich krame in Ps Medizinkorb auf der Toilette und finde zwei angebrochene Levaxin-Dosen. Wenn ich sie teile und die zwei Hälften esse, dann komme ich auf meine tägliche Dosis. Habe also noch einen Monat in Reserve.

P schlägt vor, dass ich zur Bank gehe, um eine größere Summe Bargeld abzuheben. Griechenland funktioniert nur mit Bargeld, schreibt sie, es kann ja sein, dass es in einigen Wochen Engpässe an den Geldautomaten geben wird.

Die gute Nachricht des Tages war, dass P auf Tradera (Ebay) in Schweden ihr Marimekkokleid von 1971 für ungefähr 250 Euro versteigert hat. Und ein Puzzle, das sie in England in einem Charity-Laden gebraucht gekauft hat, zum Fünffachen dessen, was sie selber dafür gezahlt hat..

Covid-19-Alltag auf Lesbos, IIX (13.März)


Am Morgen um sieben Uhr aus dem Haus gegangen. Eine klitzekleine Runde. Zurück nach Hause und geduscht. Kaffee, Frühstück. Meditation. Blog-Update. Eine neue Info bringt mich aus meinen Routinen und auch eine Mail von einer Freundin in R. Ihre Mutter ist gestorben. Ich schreibe eine lange Mail. Versuche damit fertig zu werden, dass ich meinen Flug einen Tag zu früh gebucht habe. Jetzt kann man kostenlos umbuchen. Versuche mehrmals Aegean zu erreichen, um entweder eine Erstattung zu bekommen oder einen Flug für den Herbst zu buchen (spätestens 20.Oktober), aber vergeblich.

Feile am A-Text, halte mich mit Kleinigkeiten auf und komme aber nicht weiter. Mittagessen draußen in der Sonne: Champignons und Salat, Kartoffeln. Rote Ratten ausgelesen von Xiao Qiutxxx, leider wieder nicht genau verstanden, wer es war. Korruption ist kompliziert. Später nochmal versucht, bei Aegean anzurufen, nicht durchgekommen. Dann entdeckt, dass von meinem Konto 3500k abgezogen wurden. Ich bin völlig durch den Wind. Die Saalmiete von Stockholm, natürlich. Ich hatte vergessen, dass ich die Hälfte schon erstattet bekommen habe, meine Geldrechnung gestern stimmte also nicht. Dieser Monat war wahnsinnig teuer. Solange ich nicht weiß, wie viel der Zahn mich kosten wird, kann ich auch nicht richtig planen.

Muss mich losreißen von all den trüben Gedanken. Es ist so warm, dass ich meine Badekleider mitnehme und zum Meer fahre. Dort mache ich erst eine missglückte Skizze, dann eine, die zwar nicht besonders gut ist, mich aber doch mehr befriedigt: ein Steinkreis am Delphinia-Strand. Spaziergänger sind unterwegs, die den Strand entlang laufen. Vielleicht sollte das mein Morgenspaziergang werden. Ein junger Hund kommt zu  mir gelaufen, als ich auf dem Boden sitze und den Klee vor mir zu malen versuche. Er schnuppert erwartungsvoll herum. Sein Herrchen sitzt auf dem Steg und ruft ihn zu sich.

Kaufe Lebensmittel im kleinen Laden in der Nähe vom Strand und rede mit der Besitzerin, die an der Kasse sitzt und auf den Fernseher schaut. Ihre Kinder sind jetzt tagsüber zu Hause, weil die Schule geschlossen ist. Der Unterricht wird auch nicht übers Internet fortgeführt. Man zieht in Erwägung, die Osterferien stattdessen ausfallen zu lassen.

In Schweden sind alle kulturellen Veranstaltungen abgesagt, schreibt P. Wir wissen nicht, ob wir unsere Opernkarten zurückerstattet bekommen.

Zurück zu Hause, sitze ich eine Weile auf der Terrasse, zum ersten Mal, seit ich hier bin. U kommt und lädt mich für morgen zum Essen ein.

Meine Geschwister sind jetzt mit meiner Mutter nach Österreich gefahren, während der Rest der Reisegesellschaft abgesagt hat. Sie schicken ein Bild, auf dem sie mit Aperol in die Kamera prosten. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Gesunder Menschenverstand oder unverzeihlicher Leichtsinn? Eine unserer Kusinen schreibt, dass sie momentan ihren krebskranken Vater nur einzeln im Krankenhaus besuchen können und jeder höchstens eine Stunde.

Von Giorgos habe ich die ganze Zeit nichts gehört, habe ihn auch nie im Alte-Männer-Café sitzen sehen. Es ist überhaupt leer dort. Die Griechen halten sich zuhause. Geht es wirklich, den Virus auszusitzen? 

Trump ruft in den USA den nationalen Notstand aus. In den Leserkommentaren schlägt jemand vor, dass China Schadensersatz bezahlen soll an alle Länder, die vom Virus betroffen sind. Jemand anderer stellt die Frage, wann es dazu kommt, dass wir die Alten und chronisch Kranken sterben lassen, damit wir die Jungen und Gesunden retten können.

Abends noch den Anas-Text weitergetrieben. Bin in der Mitte. Es gibt noch viele Lücken, die ich füllen muss.

22:10 und ich gehe ins Bett.


Freitag, 13. März 2020

Alltag auf Lesbos VII (12.März)


Nach einer Woche auf der Insel: Alltag stellt sich ein. Zum Arbeiten klettere ich die Leiter hoch. Freizeit findet unten statt. Jeden Tag male ich ein Bild, heute von dem eingefallenen Schafstall, an dem ich jedesmal vorbeikomme, wenn ich von hier zur Straße fahre.

Punxy schaut mich gerade auffordernd an und will irgendetwas. Ich habe heute gesehen, dass die Bäuche der Katzen anfangen sich zu runden und möchte sie jetzt nicht überfüttern. Nein, sie sehnte sich nach Caesarion und wollte, dass ich ihm die Tür öffne, damit er hereinkommen kann. Sofort springt sie ihm entgegen, schmiegt sich an ihn. Wie zwei siamesische Zwillinge laufen die zwei durchs Zimmer und legen sich eng nebeneinander auf das Bett. Ich weiß nicht, wer wen mehr liebt.

Kann ich denn eine neue Routine einführen? Etwa in der Früh sofort aufstehen und eine Runde spazierengehen? Sofort aus dem Bett und in Bewegung kommen.

Habe heute am Anas-Text gesessen. Ein Drittel ist jetzt überarbeitet. Ich markiere die Stellen, zu denen ich ihn noch etwas fragen muss, wo ich noch Details brauche. Ich versuche, passende Bruchstellen zu finden. So wie es jetzt aussieht, wird das Buch etwa 130 Seiten stark. Arbeite auf dem Boden sitzend, ein Meditationskissen unter dem Hintern. Der Computer steht auf einem kleinen Hocker. Mache dann auch einige Übungen Griechisch, zum Entspannen. Habe jetzt schon eine Lektion abgeschlossen. Vielleicht geht es ja doch voran. Obwohl ich bis jetzt nur die Vergangenheitsform von ungefähr fünf Verben kenne.

Gegen halbzwei fahre ich mit dem Fahrrad ins Dorf, um bei Ignatios zu essen. Natürlich sitzt Ch da, mit ihrem Buch. Natürlich geht es um den Coronavirus. Zwar findet sie die Panik übertrieben, die im Moment geschürt wird, aber dann sagt sie doch, dass sie lieber hier ist als in Stockholm. Hin und wieder lässt sie sich die Ärztin raushängen, vergleicht die jetzige Panik mit der Panik, als der Aids-Virus auftauchte. 

Tom Hanks ist inzwischen infiziert, seine Frau auch. Die hohe Zahl der Todesfälle in Italien führen die Italiener selber darauf zurück, dass sie die längste Lebensdauer auf der Welt haben, also die meisten Alten.

Man soll Alte jetzt nicht besuchen. Aber was für ein Leben ist das denn, fragt Ch, empört, die selber über siebzig ist und sagt, dass man an irgendwas ja sterben muss. Kinder hingegen sind offensichtlich nicht wirklich gefährdet.

Theodosos sieht jetzt Lebensmittelengpässe auf der Insel schon voraus. Ein Boot mit Lebensmitteln ist vor Limnos aufgehalten worden, weil ein verdächtiger Fall an Bord war, einer der Arbeiter. Das muss erst abgeklärt werden, bevor das Boot weiterfahren darf. Die lokalen Produkte wie Schafskäse, Eier, Fleisch, einige Gemüsesorten, wahrscheinlich auch Brot, natürlich Öl und Oliven, reichen sicher aus, um sich über eine Krisenzeit zu retten. Es sind ja keine Touristen da, die einem das Essen wegschnappen könnten. Ich kaufe ein wenig Vorräte ein, vor allem Katzenfutter, entdecke dann noch zwei Säcke vom Winter im Kleiderschrank. Setze einen Weizensauerteig an.

Mein Geld reicht noch ein paar Monate. Aber dann? Wovon werde ich leben? Was wird mir über den Weg laufen? Die Welt scheint im Moment so unsicher, mein Leben auch. Ich versuche meine Tage trotzdem zu genießen. Das Leben begegnet mir mit einer unfassbaren Fülle. Es ist genug da. Für alle, auch für mich.

Alltag auf Lesbos VI (11.März)


11/03/2020

Der Tag fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

Die WHO hat eine Pandemie ausgerufen. Angela Merkel geht davon aus, dass 60-70% der deutschen Bevölkerung  sich mit Covid19 infizieren wird.

Auf dem Handy kommt ein blinkender High Risk Alert von der griechischen Regierung: High-Risk-Personen sollen so weit wie möglich zu  Hause bleiben. Ich habe heute einen neuen Flug gebucht - für in drei Wochen. In dieser Zeit bin ich zwar hier relativ sicher. Aber wie sieht die Welt bis dahin aus? Konzerte und Opernaufführungen werden abgesagt. Fußballspiele finden in leeren Stadions statt. Operationen werden verschoben. Menschen werden aufgefordert, möglichst zu Hause zu bleiben. 

Theodosos dreht sich zur Wand um und hustet, als ich im Supermarkt an der Kasse stehe. Vorher habe ich den Apotheker hustend sein Schild ins Geschäft tragen sehen. Die griechischen Schulen sind ab heute für zwei Wochen geschlossen. Indien schließt seine Grenzen. Dänemark schließt den Reichstag. Vielleicht gibt es bald Engpässe bei der Lebensmittelversorgung? Vielleicht sollte ich trotz allem auch ein wenig bunkern?

Am Vormittag wieder Probleme damit,in die Gänge zu kommen. Stehe zwar früh auf, bin aber dann doch erst wieder gegen zehn in meinem "Meditationsraum". Zum Mittagessen gebratene Champignons und Spiegeleier, dazu Salat mit Fetakäse und Brot mit Olivenöl. Fahre dann ins Dorf zum Einkaufen und setze mich im einer stillen Ecke hin, um ein Bild von einem leerstehenden Haus zu malen. Dieser Prozess des Zeichnens und Malens lässt mich den Augenblick intensiv erleben. Ich blättere im Zeichenbuch zurück. Was ich gestern gezeichnet habe, scheint schon wieder lange her zu sein.

Ach, alles scheint im Moment unsicher. Was, wenn der Virus sich nicht aufhalten, nicht bekämpfen lässt? Wie wird die Welt dann in einem Jahr aussehen? Noch glauben wir an eine wundersame Wende. Und dass wir nicht davon betroffen sein werden und niemand in unserer Nähe. Noch kenne ich niemanden mit dem Virus. Wann wird der erste Name auftauchen? Oder sogar der erste Todesfall? Ist alles wirklich nur unbegründete Panik?

Und alles kommt vom mangelnden Mitgefühl, von der Gier der Menschen, ihrer Dummheit. Wie wir Tiere behandeln, misshandeln, benützen, missachten - ob es jetzt in China angefangen hat oder woanders, spielt vielleicht keine wirklich große Rolle.

Ich muss es jetzt meinen Geschwistern überlassen, eine Entscheidung zu treffen hinsichtlich der Frage, ob es klug ist, am Wochenende einen Familienausflug an den Achensee zu machen. Es lässt sich von hier nicht beurteilen.

Alltag auf Lesbos V (10.März)


Heute lief das Gehirn heiß. Da AM jetzt wegen Coronavirus und Flüchtlingsituation nicht nach Lesbos kommt, könnte ich länger bleiben. P und ich denken verschiedene Lösungen durch. Es darf nicht zu teuer sein. Ist es denn sinnvoll? Ist es sicher?

Die ersten Personen in Molyvos sind in Quarantäne: eine Gruppe, die aus Palästina zurückgekommen ist. Ein bestätigter covid19-Fall in Plomarion, eine Frau, die in Italien war. Ich fahre nur ins Dorf, um Lebensmittel zu kaufen, und sitze hinterher im Garten in der Sonne. Esse gebratene Champignons mit Petersilie, Spiegeleier, gekochten Broccoli, Salat. Dazu Baguette und etwas Retsina mit Sodawasser. Hinterher schlafe ich auf der Sonnenliege, eingewickelt in eine Decke. Noch später mache ich eine Skizze von der Aussicht von der Terrasse, auf der Treppe sitzend. Julia wuselt um mich rum, sucht fast aggressiv nach Nähe. Es befriedigt mich momentan, bei den Skizzen an den Details zu arbeiten. Es ist eine ruhige, meditative Arbeit.

Arbeitete morgens am Buch - es macht Fortschritte. Ich habe jetzt unter dem Dach meinen Yoga-, Meditations- und Computerraum. Auch mein Telefon lege ich dort ab, muss also immer die Leiter hochklettern, wenn ich etwas nachschauen will. Es muss doch möglich sein, meine Abhängigkeit zu überwinden.

Gestern ein magischer Nachmittagsspaziergang im Dorf. Ich begegnete niemandem. Vielleicht hatten alle sich wegen der Ankunft des Virus verbarrikadiert. Nur die  Katzen waren unterwegs. Ich hatte meinen Fotoapparat dabei und machte einige Bilder. Wenn die Menschen nicht da sind, sieht man, dass das Dorf eigentlich den Katzen gehört. Die Stille, in der sie sich aufhalten, sprang plötzlich auf mich über. Ich setzte mich auf eine Steinstufe und machte eine Skizze von der Aussicht und von einer Katze, die neben mir auf einer Steinmauer saß. Sie rührte mich an, denn sie hatte im Unterkiefer keine Zähne, was ihr ein melancholisches Aussehen gab.

Ich arbeitete gestern bis nach Mitternacht, nahm mir aber vor,dass das nicht der Normalzustand werden darf.

War heute in der Abenddämmerung bei U und I, um den Rest von unserem Olivenöl abzuholen. Begleitete zunächst U zu einer Sicherungssäule mit mehreren Stromzählern und Sicherungen ein paar Grundstücke weiter, um nachzusehen, warum der Strom in ihrem Haus ausgefallen war. Beim letzten Stromzähler, den wir prüften, fanden wir tatsächlich einen ausgelösten Sicherungsschalter und legten ihn wieder um. Dann pumpte ich Öl aus dem Kanister in leere Sodaflaschen, die ich zu dem Zweck gesammelt hatte, zu den pausenlosen kritischen Kommentaren von I, die schlechter Laune war. Es kam mir fast so vor, als würde sie mir das Öl nicht gönnen. Nach einer Weile riss sie sich sichtlich zusammen, wir verabschiedeten uns lachend. Ich war trotzdem froh, von dort wegzukommen. Die Stimmung war gespannt, auch wenn das Feuer gemütlich im Kamin prasselte.

Ich las heute weiter in dem zweiten von meinen chinesischen Krimis ("Rote Ratten"). Bin beim Lesen nicht besonders engagiert, aber doch irgendwie gut unterhalten.

Nach dem Abendessen (Brot mit Olivenöl, Ladotiri, Broccoli und Oliven) saß ich dann unter dem Dach und übte Griechisch. Ich bin neugierig, ob ich jemals in der Lage sein werde, es anzuwenden.

22:15. Rede mit meiner Mutter am Telefon, die ohne Murren jetzt den Rollator benützt. Sie ist auch sehr zufrieden mit dem Essen, das ihr jetzt jeden Tag von "Essen auf Rädern" vorbeigebracht wird. Es kommt zwischen elf und halbzwölf, und dann ist sie auch schon "sehr hungrig", so dass sie sich gleich hinsetzt und direkt aus der Aluminiumpackung isst. Hinterher wirft sie die Verpackung weg. Sie erzählt mir, dass mein Bruder ihr ein riesiges Schild an den Küchenschrank geklebt hat: "Tabletten nicht vergessen". Auch dass sie jetzt Hilfe zum Duschen und Haarewaschen bekommt, findet sie praktisch. Dass sie am Wochenende zu einem Familientreffen am Achensee fahren soll, belastet sie mehr. Sie möchte lieber zu Hause bleiben. Ich sage ihr, dass es gut ist, hin und wieder seine gewohnte Routine zu verlassen und auch, unter Menschen zu kommen. Sie stimmt mir zu.

Fertig für heute. Es ist 22:34. Zähneputzen. Bett.

Montag, 9. März 2020

Alltag auf Lesbos IV (8./9.März)


Gestern nichts geschrieben, weil ich so müde war nach der Wanderung. Wachte in der Nacht mehrmals auf, aus einer dunklen Tiefe. Ein Traum: Ich beschloss, in ein Wohnprojekt einzuziehen. Eine fremde Stadt. Irgendwo auf Reisen.

Ich lasse jetzt die Gardinen immer offen, um näher an der Umgebung - Sternennacht, aufgehende Sonne, Vogelgesang, Wind, Regen, was auch immer - zu sein.

Montag. Neue Morgenroutine: Tablette essen, Nachrichten lesen, Aufstehen, Duschen, Frühstück mit griechischen Vokabeln. Tagebuch-Blog auf dem Bett, mit Kaffee. Meditieren unter dem Dach und Yoga auf der Terrasse. Dann Schreibtisch.

Caesarion signalisiert, dass er raus will, indem er sanft mit der Tatze an den Schlüssel schlägt, als wäre der eine Glocke. Was er natürlich auch ist. Die Dienerin erhebt sich sofort.

Ai Weiwei stellte einen schlechten Witz auf Instagram: "Corona virus is like pasta. The Chinese invented it, but the Italians will spread it all over the world." Der Aufschrei vorprogrammiert. "Geh zurück zu deinen Insekten und rohen Mäusen." "Stop eating dogs." Jemand schreibt. "Die Italiener haben die Nudeln erfunden!"

Die Bundesregierung signalisiert, dass sie 1000-1500 Flüchtlingskinder aufnehmen wird. Erdogan hat von 143000 Flüchtlingen gesprochen, die er über die Grenze entlassen  habe. Es sind von europäischer Seite etwa 20000 Ankünfte gezählt worden. Lese Artikel in der Süddeutschen, die mich über das informieren, was ein paar Kilometer von hier entfernt passiert. 

Gestern habe ich mich auf eine Wanderung begeben, die bewährte Runde von der Schafswiese beim Wasserreservoir über die Kapelle und das Tal der Windmühlen nach Vafios, und dann bergab über den Wald zurück. 

Außer dem Schafbauern mit der Wollmütze bei der Schafswiese, wo ich mein Fahrrad abstellte, bin ich keinem einzigen Menschen begegnet, nicht einmal in Vafios, wo mir nur frenetisch bellende Hunde entgegen kamen. Bleiche Schafsknochen auf dem Weg. Das einsam junge Pferd stand wieder angeleint am Rand des Wegs, das Maultier auf seiner Wiese, schön und unwirklich, mit großen pelzigen Ohren, die sich in alle Richtungen drehten. Es kam zögernd näher und streckte seinen Kopf über den Stacheldraht, als ich mit ihm redete. Ich streichelte seine weiche Schnauze mit meinem Handrücken, aber es erhoffte sich offensichtlich etwas Leckeres zum Fressen, und wir erschraken beide, als es versuchte, meine Hand zu schnappen und ich sie schnell zurückzog.

Auf meinem Weg durch den Wald, wo ich mich letztes Mal verfranst habe, redete ich mir selber zu, ruhig zu bleiben und die Markierungen nicht aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich entdeckte ich die Abzweigung, an der ich das letzte Mal einfach vorbeigelaufen bin. Alles verlief also ohne Zwischenfälle

Ich machte drei Skizzen, eine bei der Kapelle, eine von Vafios und eine im Wald. Bei der Kapelle war es so windig, dass alle meine Sachen wegwehten.

Wahnsinnig müde und hungrig, als ich nach Hause kam. Leerte fast eine ganze Tüte mit Haselnüssen, während ich darauf wartete, dass mein Essen fertig wurde. Machte Fava aus grünen Erbsen, gebratene Aubergine, ofengebackene Kartoffel und trank dazu Retsina mit Sodawasser. Etwas Griechischlernen am Computer, dann ins Bett und noch ein bisschen chinesischer Krimi.

Agnes ist hier. Agnes, magisches Wesen. In all den Jahren ist es mir nicht gelungen, ihr näher zu kommen als bis auf einen halben Meter. Selbst, wenn ich mehr Futter in ihre Schale gebe, verteidigt sie sich mit einem Tatzenschlag. Ich begreife immer noch nicht, wie es mir vor ca. sieben Jahren gelungen ist, sie einzufangen, damit wir sie kastrieren lassen konnten. Wir lockten sie erst irgendwie ins Haus, wo sie sofort totale Panik kriegte und buchstäblich die Wände hochkletterte. Sie verfing sich dann zwischen Fenster und Mückennetz, und ich konnte mit meiner behandschuhten Hand zupacken und sie in den Käfig steckten. Die Tierärztin Myrsini kam mit dem Auto vorbei und nahm sie zur Operation mit nach Mytilini. Zwei Tage später holten wir sie mit einem Mietauto ab. Myrsini erzählte uns, Agnes habe sich vorbildlich verhalten und sich sogar mit der Katze im Nachbarkäfig angefreundet. Sie ist wie eine feine kleine Dame. Sie sieht immer gut gepflegt aus, auch wenn man an den Kratzern auf ihrer Nase sehen kann, dass sie ein paar Mal eine gewischt bekommen hat. Im letzten Jahr hat sie Mut gefasst, am Abend ein paar vorsichtige Schritte ins Haus hineinzukommen, in Richtung Futterschalen, aber sobald man selber eine Bewegung macht, ist sie schon wieder draußen.

Die Sonne scheint.

Alltag auf Lesbos III (7.März)


Unzufrieden mit mir selber, weil ich mein Abendessen so nachlässig in mich hineingestopft habe. Ungesundes Zeug: Weißbrot, Salami, Butter. (Salami nur, weil P sie hier zurückgelassen hat) Auch Ladotiri - Ziegenhartkäse -, aber das macht diese nährstoff- und vitaminarme Ernährung auch nicht wett. Auch unzufrieden mit meinen Skizzen heute. Meine Ungeduld. Irgendwo stehe ich mir immer im Weg. Und finde keine Linie, keinen eigenen Stil.

In der Wohnung müsste ich auch mal durchgreifen, den Schrank ausräumen, alles neu sortieren. Ich habe mir beim Toasten des Weißbrots eine Brandblase am Daumen zugezogen, ohne es zu merken. Meine Backen glühen. Vielleicht habe ich heute etwas Sonne erwischt, als ich draußen saß und in dem chinesischen Krimi las.

(Der "kleine") Gianni kam, um sich die Heizung anzuschauen. Es zeigte sich, dass eine Sicherung in einer der Wohnungen ausgefallen war. Er musste mit seinem Moped zu Anna fahren, um den Schlüssel zu holen. Als wir den Schalter nach oben kippten, funktionierte wieder alles. Wie das geschehen konnte, ist ein Rätsel, vielleicht war es, als ich Wäsche wusch und Anna gleichzeitig staubsaugte, weil sie Barbaras Apartment für ihre Ankunft vorbereitete. Ich gab Gianni zehn Euro, die er lächelnd entgegennahm. Das Ganze hat nicht länger gedauert als eine halbe Stunde. Ich war froh um seine Hilfe und auch froh darüber, dass es nichts Komplizierteres war.

I erzählte, dass sie gestern bei ihrer Ankunft am Flüchtlingslager Moria vorbei gefahren sind. Menschenunwürdig ist es, wie die Leute dort hausen. In Deutschland stehen die Flüchtlingsheime leer und haben Bereitschaft angemeldet, Flüchtlinge (z.B. alleinreisende Kinder) aufzunehmen, aber es wird vom Bund nicht genehmigt. I meint, die Angst vor der AfD sei so groß, dass Berlin blockiert. Für das geschlossene Flüchtlingsheim, das man hier auf Lesbos bauen wollte, habe man einen Bauer kurzerhand enteignet. Das Land, das seit Generationen seiner Familie gehört hat, sei ihm ganz einfach ohne Entschädigung abgenommen worden, weil er es nicht genutzt hat. Wie kann das sein? Das kann doch nicht sein, sage ich. Doch,sagt I. Das sind rechtlose Zustände.

Das Wetter war seltsam heute und ich war rastlos und gleichzeitig wie gelähmt. Draussen ist es windig. Eine Katze miaut. Revierkämpfe. Afro war im Heizungskeller eingeschlossen, es muss gestern abend passiert sein, als ich mit der Taschenlampe mehrmals hin und her lief. Ich hörte sie miauen, als ich am Vormittag daran vorbeikam. Ich entschuldigte mich bei ihr, aber sie hatte mir schon verziehen und schwänzelte mir um die Beine, froh, endlich wieder im Freien zu sein.

Bekam von I ein Spinatpie, das ich mir zum Mittagessen aufwärmte. Dazu machte ich mir ein Omelette mit einer halben Tomate und aß einen Salat mit Oliven dazu. Ganz ungesund war meine Ernährung heute also doch nicht.

Lief durchs Dorf und war völlig überwältigt von der Schönheit dieses an den Berg geklebten Orts mit seinen steilen Treppen und verschlungenen Wegen. Jedes Haus ist individuell und trotzdem ist der Gesamteindruck harmonisch, einheitlich. Die Häuser vermitteln einen selbstverständlichen Stolz, dachte ich. Die Menschen, die sie bauten, wussten ganz einfach, dass sie es wert sind, so zu leben. Wieso akzeptieren wir Wohnungsmangel, schlechte Wohnverhältnisse? Alle Menschen sollten das Recht auf ein schönes und geräumiges Haus haben. Alles ist von Hand gebaut, verputzt, gezimmert, gemalt. Lebensbejahend, aber nicht protzig. Das ist wirklich etwas anderes als die engen und hässlichen Wohnungen in den Städten Europas, das Gefühl der Wertlosigkeit bei den Menschen, die in ihnen eingepfercht leben. Schlampigkeit im Bau. Minderwertige, gesundheitsschädliche Materialien. So falsch. 

Eine Frau begegnete mir, begleitet von einer Katze mit einem in die Luft gereckten Schwanz. Ich musste bei diesem Anblick lächeln. Die Frau sagte etwas. Wir grüßten uns. Ich rede mit der Katze, sagte sie entschuldigend. Das Normalste von der Welt für mich, aber das konnte ich nicht auf Griechisch sagen.

(Später)

Beschließe, den Tag heute zu beenden, ohne dass ich das getan habe, was ich eigentlich vorhatte (am Anas-Text weiterarbeiten). Es ist besser, morgen früher aufzustehen.    

(Noch später)

Stehe vor der Terrassentür, schaue durch die Glastür in die Dunkelheit und wiederhole die griechischen Phrasen von der Rosetta Stone CD. "Er hat ihr Blumen geschenkt. Sie schenkt ihm Blumen. Er hat letzte Woche eine Fahrkarte gekauft. Hast du ein Lexikon? Brauchst du Briefmarken? Die Kinder haben ihrem Vater eine Krawatte geschenkt.Gestern habe ich Fleisch und Gemüse gekauft. Heute koche ich. Er fährt morgen nach Paris. Hast du einen Briefumschlag? Ja, ich habe gestern einen gekauft." 

Der rothaarige Hamish macht eine Fressvisite auf der Terrasse und schaut mich durch die Tür an. Er sieht so knuddelig aus.

Setze mich mit einem Gedichtband von Mary Oliver aufs Bett, lese ein paar Gedichte und denke, eigentlich ist das doch das einzig Wichtige im Leben der Versuch, das Leben und die Welt und unser Leben in der Welt zu verstehen. Warum hat man dann ständig das Gefühl, man müßte etwas zustandebringen, warum flieht man ständig vor dem, was ist?  

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...