Dienstag, 17. März 2020

Covid-19-Alltag auf Lesbos IX (15.März)

Gestern nichts geschrieben. Auch nichts gezeichnet. Sitze jetzt am Tisch im Zimmer, vor dem Fenster ist es jetzt dunkel. Es geht ein Wind. 10 Grad waren heute, im Vergleich zu 20 Grad gestern. Ich hatte zum ersten Mal Fäustlinge an, als ich mich auf meinen Spaziergang machte. Es wurde nur eine Runde von einer Stunde, keine lange Sonntagswanderung. Es ist mir nicht danach zumute, und das Wetter ist auch nicht danach gewesen. Ich verbrachte viele Stunden unter dem Dach und arbeitete an meinem Anas-Text. Es ist seltsam, hinterher das Haus zu verlassen. Ich bin immer noch tief in seiner Erzählung. Heute ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass viele Schafbauern zurechtgeschnittene Gummiboote als Dach benützt haben.

Ich lief über das ausgetrocknete Flussbett, an den Olivenhainen und einigen Häusern vorbei. Eine Frau mit ihrem Hund überholte mich. Ein Glöckchen war an seinem Halsband befestigt, und sie führte ihn an der Leine. Ich blieb stehen, um sie vorbeizulassen und wir grüßten uns und lächelten uns zu, sagten aber nichts weiter zueinander. Man hält sich jetzt andere Menschen auf Abstand.

Als ich gestern im Sonnenschein zum Dorf fuhr, wurde mir klar, dass eine neue Stufe in der Corona-Entwicklung erreicht ist. Ich traf Giorgos vor der Apotheke, mit grauem Gesicht. Ich habe an dich gedacht, sagte er und wirkte gehetzt. Ich auch an dich, sagte ich. Ich erzählte ihm, dass ich meinen Flug verlegt habe. Inzwischen wusste ich auch schon, dass mein ursprünglich gebuchter Flug abgesagt worden war, ich wäre also sowieso nicht nach Hause gekommen. Er sagte, er habe in den letzten Tagen in seinem Garten gearbeitet. Er müsse jetzt Gemüse anbauen, weil er nicht damit rechnen könne, dass dieses Jahr Touristen zu ins Dorf kämen. Ich gebe dir 10%, flüsterte er mir ins Ohr, wenn du meine Sachen verkaufen kannst. Alles, auch den Schmuck. Ich sagte nichts.

Alle Cafés sind seit heute geschlossen, sagte er, alle Restaurants. In der Apotheke dürfen sich maximal zwei Kunden aufhalten, und sie müssen einen Abstand von zwei Metern einhalten. Wir gingen gemeinsam in den Supermarkt. Das erste, was ich sah, war Theodosos‘ Mutter mit einer Gesichtsmaske. Theodosos hatte Gummihandschuhe an. Was denkst du heute?, fragte mich Theodosos. Heute denke ich nichts, sagte ich. Ich habe gestern schon zu viel gedacht. Melde dich, sagte Giorgos. Am Montag, sagte ich. Das Brot war ausverkauft, wie oft am Samstag, und ich ging zum Bäcker. Er stand mit einer Gesichtsmaske und Gummihandschuhen im Laden. Das Geld sollte ich auf ein mit Papier verkleidetes Tablett legen. Er sagte, wir leben in seltsamen Zeiten. Ich sagte, wir leben in furchtbaren Zeiten. Ja, furchtbar, sagte er. Ich erzählte ihm, dass Dänemark die Grenzen geschlossen hat und dass man jetzt als Ausländer nicht mehr reinkommt. Er erschrak. Ein Freund von ihm sollte in drei Tagen dort eine Arbeit anfangen. Er selber wollte ihn in einigen Monaten besuchen. In ein paar Monaten ist es vielleicht besser, sagte ich. Ich kaufte ein Brot und ein Spinatpie. Während wir redeten, hatte er sich tiefer in den Laden zurückgezogen, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.

Am Nachmittag putzte ich das Apartment, eine wohltuende Aktivität, vor allem hinterher. Dann legte ich mich zum Schlafen auf eine Liege auf der Terrasse.

War zum Abendessen bei U und I eingeladen. Es wurde ein exotischer Abend, exotisch deshalb, weil wir nach dem Essen vor dem Fernseher landeten und ZDF-Nachrichten und hinterher zwei deutsche Fernsehserien anschauten. Ich bin dem deutschen Fernsehen ganz entfremdet. Die Serien waren so unglaublich schlecht, von der Personenschilderung und den Dialogen her. Unglaubwürdig, amateurhaft. Der Krimi war völlig irrelevant, aufgeplustert, pseudowitzig. Nachdem ich alle Abschnitte von Foyle's War gesehen habe, reagiere ich empfindlich auf diese Banalität. Ich nickte andauernd ein, verpasste aber nichts. Danach ging ich im Stockdunklen nach Hause. U und I wollten mir eine Taschenlampe mitgeben, aber ich lehnte es ab, weil ich gern in der Dunkelheit laufen wollte, um mich von dem Fernsehabend zu reinigen. Ging sofort ins Bett, schlief schnell ein, entgegen meiner Befürchtungen. Am Morgen stellte P enttäuscht fest, dass ich U und I keine der wirklich wichtigen Fragen gestellt hatte. 

Meine Geschwister und meine Mutter kehren heute aus Tirol nach Bayern zurück. Tirol ist gestern (so wie auch Spanien) zum Risikogebiet erklärt werden, sie sollen sich also in eine (freiwillige) vierzehntägige Quarantäne begeben. Irgendwie macht es keinen Unterschied, dachte ich. Die meisten Leute versuchen sowieso, so viel wie möglich zu Hause zu bleiben. Die Schulen in Bayern sind ab morgen auch geschlossen.

Es ist völlig unabsehbar, wie die Welt in einigen Monaten aussehen wird. Noch hoffen wir auf die Rückkehr der Normalität.

P schreibt mir, dass die SAS 10000 Mitarbeiter "permittiert" hat. Was bedeutet "permittiert"? schrieb ich. Freigestellt, ohne Bezahlung.

Heute dachte ich zum ersten Mal daran, dass ich zu meinem Überleben davon abhängig bin, täglich Schilddrüsenhormone zu essen. Ich krame in Ps Medizinkorb auf der Toilette und finde zwei angebrochene Levaxin-Dosen. Wenn ich sie teile und die zwei Hälften esse, dann komme ich auf meine tägliche Dosis. Habe also noch einen Monat in Reserve.

P schlägt vor, dass ich zur Bank gehe, um eine größere Summe Bargeld abzuheben. Griechenland funktioniert nur mit Bargeld, schreibt sie, es kann ja sein, dass es in einigen Wochen Engpässe an den Geldautomaten geben wird.

Die gute Nachricht des Tages war, dass P auf Tradera (Ebay) in Schweden ihr Marimekkokleid von 1971 für ungefähr 250 Euro versteigert hat. Und ein Puzzle, das sie in England in einem Charity-Laden gebraucht gekauft hat, zum Fünffachen dessen, was sie selber dafür gezahlt hat..

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