Montag, 30. März 2020

Coronavirus-Alltag auf Lesbos XVI (22.März)


21:22

Ich habe die Unruhe heute in den Knochen gespürt. Als würde etwas sich zuspitzen. Am Abend dann saß ich im Teepavillon und las Nachrichten, während es draußen dunkel wurde. Keine zuversichtliche Prognose - alles wird nur schlimmer. Und es gibt immer noch so viele Menschen, die einfach keine Einsicht haben. Ich tastete mich im Dunkeln nach Hause und bekam bald einen Risiko-Alert auf dem Handy. Ab morgen früh um 6 Uhr Ausgangssperre. Auch wenn man zum Lebensmittelladen geht, soll man seinen Ausweis dabei haben.

P erzählt von einer Roma-Frau, die im Lebensmittelladen bei uns um die Ecke in Schweden plötzlich anfing, wild zu husten. Alle erstarrten. Der Ladenbesitzer trat einen Schritt zurück. Bist du krank? fragte er.

Fuhr zum Container, um meinen Recycling-Müll wegzubringen, und wollte mir hinterher mal das leerstehende Hotel anschauen, von dem P mir erzählt hatte. Es war wirklich gespenstisch. Vielleicht vor dem Hintergrund der Corona-Krise noch mehr. In einem Zimmer zerfressene Kissen und Bettwäsche. In der Küche Reste eines großen verkrusteten Herds. Ein paar völlig verdreckte Teller auf dem Boden. Eingeschlagene Fenster, Fensterrahmen, die schief in den Angeln hingen. Ich ging vorsichtig durch die Eingangshalle. Als könnte der Fußboden unter mir nachgeben und ich einfach in die Tiefe fallen. Dabei war es massiv. Im Durchgang zu einem anderen Gebäude ist das Dach eingesackt. Die Terrasse ist schief, weil überall Pflanzen durch die Ritzen zwischen den Steinplatten gebrochen sind. Das Ganze war wie ein apokalyptischer Vorgeschmack darauf, wie die Welt innerhalb kurzer Zeit aussehen wird, wenn die Menschen vom Erdboden getilgt sind.

Habe den dritten Krimi von Xioalong Qiu jetzt ausgelesen: "Die Frau mit dem roten Herzen". Wieder weiß ich nicht genau, wer es jetzt eigentlich war. Es gibt keine "Täter", nur Leute, die alle in irgendwelche schmutzigen Geschäfte verwickelt sind. Darüber hinaus bekommt man sehr viel Einblick in die chinesische Gesellschaft, die Literatur, die Geschichte. Lud einen weiteren China-Krimi auf den Tolino.

Was mich selber angeht, so sehe ich die Zeit hier als eine Chance. Lange habe ich von einem extremen Retreat geträumt, noch auf dem Weg hierher. Immer wieder habe ich mich antreiben lassen, von Terminen, äußeren Notwendigkeiten, von meiner Rastlosigkeit und von eingebildeten Verpflichtungen. Vielleicht gelingt es mir, diese Zeit als einen Umwandlungsprozess zu nutzen. Das Apartment ist jetzt meine Höhle, und die Landschaft, die mich umgibt, ist mein Himalaya. Ich werde herausfinden, wie wenig ich brauche, und vielleicht kann ich einige Gewohnheiten und Verkrustungen abwerfen.



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