Samstag, 21. März 2020

Covid-19-Alltag auf Lesbos XIV (20./21.März)

08:19

Gestern nichts ins Tagebuch geschrieben, also muss ich mich jetzt zusammennehmen, bevor ich alles vergesse.

Gestern war der erste Bonustag auf der Insel. Zwei Wochen sind vorbei, aber diese zwei Wochen fühlen sich an wie zwei Monate. Oder anders. Amorph. Zeitlos. Eine Ewigkeit. Ich zähle die Tage nicht mehr, und die Zeit weitet sich aus.

Ist es egoistisch, hier zu sitzen, in dieser Sicherheit? Es fühlt sich wenigstens an wie Sicherheit. Selbst wenn die öffentlichen Räume gesperrt würden, würde ich mich nicht eingesperrt fühlen. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die allermeisten Inselbewohner sich sehr vernünftig verhalten. Wenn Männer vor dem "Alte-Männer-Café" am Dorfeingang einen Kaffee trinken, sitzen sie außerhalb des Cafés auf einer Mauer, mit großen Abständen. Das sind aber vereinzelte Personen, und es wird auch nicht von allen gut aufgenommen, dass der Cafébesitzer immer noch nicht zugemacht hat. Den Yogalehrer Dimitris sah ich mit einer Thermosflasche auf einem der Stühle vor dem Café Platanaki in der Sonne sitzen. Auch eine gute Idee.

In der Apotheke konnte ich gestern sehen, dass inzwischen eine Glasscheibe am Tresen angebracht ist, die den Apotheker schützt (der außerdem noch eine Atemmaske aufhat).

Ich habe jetzt ein "Büro". Jederzeit kann ich zum Teepavillon gehen, mich aufs Sofa oder an den Schreibtisch setzen. Ich kann dort meine Mails schreiben und im Internet surfen. Ich könnte den ganzen Tag da verbringen, Tee trinken, in den Büchern schmökern. Mein eigenes Telefon habe ich etwas heruntergefahren. Die Batterie beginnt deutlich schwächer zu werden und ich will auch im Datenverkehr nicht endlos Gigabytes verbrauchen. Um den Computer zu benützen, bin ich schon auf Netzbetrieb angewiesen. Er stirbt sofort, wenn die Stromversorgung mal abbricht, was ja hier hin und wieder passiert. Zum Glück ist die Software inzwischen so weit entwickelt, dass ich dann keine Daten verliere. Der Status Quo wird als vorläufiges Dokument gespeichert.

Schrieb einige Mails im Teepavillon, trieb mich etwas auf FB herum, womit ich aber sofort wieder aufhören werde. Es gibt mir gar nichts mehr. Ich habe nur meine Freunde darüber informiert, dass ich jetzt auf unbestimmte Zeit auf Lesbos bin, damit das erledigt ist. Las Zeitungen. New York Times. Süddeutsche. Guardian. Aber es gibt nichts Neues. Der Virus. Die Zahlen. Las Berichte von Leuten, die im Ausland gegen ihren Willen festsitzen. Die meisten sind verzweifelt. Nur ein Rentner, der mit seinem Wohnmobil in Portugal auf einem Campingplatz sitzt, schrieb, dass er er da bleiben will. Die einzige Lösung jetzt: zuhause bleiben, wenn möglich, Abstand halten, wenn möglich.

Es macht mir ein wenig Sorgen, dass Cleo so viel trinkt. Wenn sie ins Haus kommt, ist ihr erster Gang zur Wasserkanne. Aber sollte ich deshalb Myrsini anrufen? Wenn eine der Katzen ständig Tabletten essen müsste oder Spezialfutter bräuchte, wäre ich sowieso nicht in der Lage, das auf Dauer zu leisten. Ich versuche jetzt, ein wenig strenger zu den Katzen zu sein, sie manchmal hinauszuschicken. Ihnen nicht andauernd Futter zu geben. Sie dürfen sich nicht an diese Rundumversorgung gewöhnen. Es ist auch nicht gesund für sie. Cleo war jedenfalls heute Nacht draußen, kam erst am frühen Morgen zurück. Caesarion machte mich vorsichtig darauf aufmerksam, und ich öffnete die Tür.

D schickte gestern einen kleinen Film, auf dem er demonstriert, was Oskar schon in der Hundeschule gelernt hat (und D natürlich auch).

Später kommt noch ein Video-Gruß. Er erzählt, dass die Mitarbeiter im KaDeWe aufgefordert wurden, im sechsten Stock alles an verderblichen Waren mitzunehmen. Er sei etwas widerstrebend mit einer Kollegin hochgegangen. Sie hatten jeder eine Tasche dabei und begannen vorsichtig hier und da was zu nehmen. Als sie sahen, wie andere Leute abräumten, wurden sie auch enthemmter. Schließlich kam er mit sechs Tüten Lebensmitteln nach Hause.

Meine Schwester schickt ein Video mit unserer Mutter. Sie haben einen Spaziergang gemacht. Es geht unserer Mutter so làlà. Das Bein ist wieder dünner, aber das Gehen geht nicht so gut.

Dann kommt ein Video von R und S. Sie erzählen, was sie in den letzten Tagen so gemacht haben. Auch sie konnten Lebensmittel von einer "Rettungsstelle" abholen. Viel Salat, Grünzeug. Sie putzen, machen Fahrradausflüge, waren beim Schwimmen im See. Sind guter Dinge.

Heute las ich in der New York Times, dass in Italien jetzt Richtlinien erarbeitet werden, bei welchen Patienten in den Krankenhäuser lebenserhaltende Maßnahmen eingesetzt werden sollen und bei welchen nicht. Hat der Patient eine Lebenserwartung von mehr als zwei Jahren? Hat er einen Nutzen für die Gesellschaft? Haben die lebenserhaltenden Maßnahmen eine Aussicht auf Erfolg?

War bei Theodosos. Die Mitarbeiter trugen heute keine Masken. Ich kaufte etwas Gemüse, getrocknete Bohnen, Linsen, Retsina, Eier. Gut gefüllte Regale. Die Leute hamstern hier offensichtlich nicht. Ich fragte, ob die Lebensmittelsversorgung noch gut sei. Bisher ja. Er erkundigte sich nach P. Sie ist krank, sagte ich. Hat sie den Virus? Sie weiß es nicht. Hat sie eine Vorerkrankung? Ja, das hat sie. Sie hat einen Test im Internet ausgefüllt und bekam hinterher die Empfehlung, in der Gesundheitszentrale anzurufen, wahrscheinlich, weil sie auf die Frage nach einer Autoimmunerkrankung mit "ja" geantwortet hat. Man warnte vor langen Wartezeiten. Das Gespräch wurde aber nicht einmal durchgestellt.

Arbeitete viel an meinem A-Text. Er gibt meinem Leben im Moment Sinn und Inhalt, Struktur und Fokus. Fast fürchte ich den Augenblick, wenn ich damit fertig bin.

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