Montag, 9. März 2020

Alltag auf Lesbos IV (8./9.März)


Gestern nichts geschrieben, weil ich so müde war nach der Wanderung. Wachte in der Nacht mehrmals auf, aus einer dunklen Tiefe. Ein Traum: Ich beschloss, in ein Wohnprojekt einzuziehen. Eine fremde Stadt. Irgendwo auf Reisen.

Ich lasse jetzt die Gardinen immer offen, um näher an der Umgebung - Sternennacht, aufgehende Sonne, Vogelgesang, Wind, Regen, was auch immer - zu sein.

Montag. Neue Morgenroutine: Tablette essen, Nachrichten lesen, Aufstehen, Duschen, Frühstück mit griechischen Vokabeln. Tagebuch-Blog auf dem Bett, mit Kaffee. Meditieren unter dem Dach und Yoga auf der Terrasse. Dann Schreibtisch.

Caesarion signalisiert, dass er raus will, indem er sanft mit der Tatze an den Schlüssel schlägt, als wäre der eine Glocke. Was er natürlich auch ist. Die Dienerin erhebt sich sofort.

Ai Weiwei stellte einen schlechten Witz auf Instagram: "Corona virus is like pasta. The Chinese invented it, but the Italians will spread it all over the world." Der Aufschrei vorprogrammiert. "Geh zurück zu deinen Insekten und rohen Mäusen." "Stop eating dogs." Jemand schreibt. "Die Italiener haben die Nudeln erfunden!"

Die Bundesregierung signalisiert, dass sie 1000-1500 Flüchtlingskinder aufnehmen wird. Erdogan hat von 143000 Flüchtlingen gesprochen, die er über die Grenze entlassen  habe. Es sind von europäischer Seite etwa 20000 Ankünfte gezählt worden. Lese Artikel in der Süddeutschen, die mich über das informieren, was ein paar Kilometer von hier entfernt passiert. 

Gestern habe ich mich auf eine Wanderung begeben, die bewährte Runde von der Schafswiese beim Wasserreservoir über die Kapelle und das Tal der Windmühlen nach Vafios, und dann bergab über den Wald zurück. 

Außer dem Schafbauern mit der Wollmütze bei der Schafswiese, wo ich mein Fahrrad abstellte, bin ich keinem einzigen Menschen begegnet, nicht einmal in Vafios, wo mir nur frenetisch bellende Hunde entgegen kamen. Bleiche Schafsknochen auf dem Weg. Das einsam junge Pferd stand wieder angeleint am Rand des Wegs, das Maultier auf seiner Wiese, schön und unwirklich, mit großen pelzigen Ohren, die sich in alle Richtungen drehten. Es kam zögernd näher und streckte seinen Kopf über den Stacheldraht, als ich mit ihm redete. Ich streichelte seine weiche Schnauze mit meinem Handrücken, aber es erhoffte sich offensichtlich etwas Leckeres zum Fressen, und wir erschraken beide, als es versuchte, meine Hand zu schnappen und ich sie schnell zurückzog.

Auf meinem Weg durch den Wald, wo ich mich letztes Mal verfranst habe, redete ich mir selber zu, ruhig zu bleiben und die Markierungen nicht aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich entdeckte ich die Abzweigung, an der ich das letzte Mal einfach vorbeigelaufen bin. Alles verlief also ohne Zwischenfälle

Ich machte drei Skizzen, eine bei der Kapelle, eine von Vafios und eine im Wald. Bei der Kapelle war es so windig, dass alle meine Sachen wegwehten.

Wahnsinnig müde und hungrig, als ich nach Hause kam. Leerte fast eine ganze Tüte mit Haselnüssen, während ich darauf wartete, dass mein Essen fertig wurde. Machte Fava aus grünen Erbsen, gebratene Aubergine, ofengebackene Kartoffel und trank dazu Retsina mit Sodawasser. Etwas Griechischlernen am Computer, dann ins Bett und noch ein bisschen chinesischer Krimi.

Agnes ist hier. Agnes, magisches Wesen. In all den Jahren ist es mir nicht gelungen, ihr näher zu kommen als bis auf einen halben Meter. Selbst, wenn ich mehr Futter in ihre Schale gebe, verteidigt sie sich mit einem Tatzenschlag. Ich begreife immer noch nicht, wie es mir vor ca. sieben Jahren gelungen ist, sie einzufangen, damit wir sie kastrieren lassen konnten. Wir lockten sie erst irgendwie ins Haus, wo sie sofort totale Panik kriegte und buchstäblich die Wände hochkletterte. Sie verfing sich dann zwischen Fenster und Mückennetz, und ich konnte mit meiner behandschuhten Hand zupacken und sie in den Käfig steckten. Die Tierärztin Myrsini kam mit dem Auto vorbei und nahm sie zur Operation mit nach Mytilini. Zwei Tage später holten wir sie mit einem Mietauto ab. Myrsini erzählte uns, Agnes habe sich vorbildlich verhalten und sich sogar mit der Katze im Nachbarkäfig angefreundet. Sie ist wie eine feine kleine Dame. Sie sieht immer gut gepflegt aus, auch wenn man an den Kratzern auf ihrer Nase sehen kann, dass sie ein paar Mal eine gewischt bekommen hat. Im letzten Jahr hat sie Mut gefasst, am Abend ein paar vorsichtige Schritte ins Haus hineinzukommen, in Richtung Futterschalen, aber sobald man selber eine Bewegung macht, ist sie schon wieder draußen.

Die Sonne scheint.

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