Mittwoch, 17. Oktober 2012

Alles ist ein Brief an dich

Märi versteht nicht, dass alles, was ich schreibe, mit ihr zu tun hat, selbst wenn ich sie darin nicht erwähne. Alles ist ein Brief an dich, Märi, eine Flaschenpost, eine in den Himmel geschossene Signalpatrone. Den Anfang habe ich fast vergessen, das Ende habe ich in meinem Innern tausend Mal nachgespielt. Ich spüre noch in meiner Handfläche, wie dein Schlafanzug sich anfühlte, an der Hüfte, auf die ich meine Hand legen durfte, und wie es sich anfühlte, als du mir erlaubtest, deine geschlossenen Lippen zu küssen. Ich sehe dich noch durch die Fensterscheibe in der Nacht, sehe dich da stehen, die Hände aufs Fensterbrett gestützt, in dem ausgewaschenen braunen Bademantel, den du übergeworfen hattest, weil du wusstest, dass ich noch einmal zurückkommen würde, kurz vor Mitternacht. "Ein letztes Mal", hattest du gesagt und hattest dir keine Versprechungen entlocken lassen, keine Zukunftsprognosen. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, ich weiß nur, dass ich dich in dem Moment auch ein wenig bewunderte, weil du tatest, was ich nie in meinem Leben fertiggebracht habe: aufhören, wenn es am schönsten ist, einfach alles abzuschneiden, bevor es einen jämmerlichen Erstickungstod stirbt, bevor es langsam dahinsiecht, sich in eine lang hingezogene Qual verwandelt. Ich weiß nichts, Märi. Ich weiß nicht, wieviele Tränen ich im vergangenen Jahr geweint habe und immer noch weine. Ich habe nicht gewusst, dass Tränen so heiß sein können, wie sie aber auch kühlen können, während sie langsam über die Wangen hinunter rinnen und dann den Vorsprung der Lippe überklettern, bis man ihren Geschmack auf der Zunge wahrnehmen kann. Überall habe ich Tränenspritzer, Tränentropfen, Tränenseen hinterlassen. Ich habe Tränenbäche, Tränenflüsse, Tränenströme geweint, einen Niagarafall aus Tränen, einen Tränen-Amazonas, einen Yang-Tse nur aus Tränen, einen Ganges, der sich durch die Landschaft wälzt, Täler gräbt, Steine höhlt und abschleift und sich selber ständig verbreitert und mächtiger, gewaltiger wird. 

Yang-Tse-Kiang

Ich weiß, dass du nicht weinst, Märi, und ich weiß auch, dass du nicht weinen darfst. Du musst das Leben ohne mich jetzt schöner finden, leichter, einfacher, du musst dich selber jetzt lieber mögen als vorher, du musst größere Freude haben an deinen Unternehmungen und Planungen, in denen ich jetzt nicht mehr vorkomme, in die du jetzt andere Menschen hineinnimmst, in deren Gegenwart du dich froher fühlst, unkomplizierter, mehr du selbst. Du musst jetzt die Erleichterung spüren darüber, dass ich dich nicht mehr anrufe, dass ich nicht mehr am Morgen vor deiner Tür stehe, weil wir ausgemacht haben, zusammen zu frühstücken, dass ich nicht mehr mit meinen Wanderstiefeln und einem Rucksack voller Picknick angetanzt komme, dass ich dich nicht mehr so anschaue, wie du nicht angeschaut werden willst, plötzlich nicht mehr angeschaut werden wolltest, dass ich nicht mehr deine Hände auf dem Tisch in meine nehme, dass ich nicht mehr deinen Oberarm berühre oder eine Decke über unsere Knie lege, wenn wir vor dem Fernseher sitzen und einen Film anschauen, den wir beide sehen wollen. Du musst jetzt die Luft zum Atmen lieben, die ich in deinem Leben hinterlassen habe, die Abwesenheit von Zweifeln und Scham, und vom ständigen Zwang zum Nachspüren in deinem Innern. Du wirst dir im Spiegel wieder selber zulächeln können, wirst das Gefühl des Unbehagens, das der Gedanke an mich jetzt in dir hervorruft, über die ganze Zeit ausbreiten, so dass nichts mehr übrigbleibt, was nicht davon getränkt ist. Du wirst dich fragen, wie es möglich sein konnte, wirst an die ersten Wochen denken wie an einen undeutlichen Traum, der nichts mit dir zu tun hat. Du wirst dir selber sagen, dass du dich weiterentwickelt hast, dass du damals kindisch warst, unreif, dich hast mitreißen lassen, in einem komischen Rausch, der dir jetzt peinlich vorkommt und von dem du niemals jemandem erzählen wirst. 

Sonntag, 14. Oktober 2012

Von jetzt an...

...ist das tägliche Minimum EIN Wort.

"wütende Haut" - damit habe ich das Tagespensum bereits um 100% überschritten und kann mich schlafen legen


(Sie erzählte mir: "Fünfunddreißig Jahre später bat sie mich, ihr zu verzeihen, was sie mir angetan hatte. Dabei  konnte sie gar nicht wissen, wie schlecht es mir damals gegangen war. Heute sind wir gut, sehr gut befreundet, wir telefonieren fast einmal die Woche miteinander.")

"...and I'm here, in this stupid little flat, on my own..." (Nick Hornby: High Fidelity)

(Ich habe keine Ahnung, wo dieses Jahr hingeflogen ist.)

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...