Freitag, 13. September 2019

Alte Tagebücher, wieder gelesen

Du kannst dich nicht an Begriffen festhalten. Sie sind wie ein Turm, der jederzeit in sich zusammenfallen kann. Du kannst dich nicht an einem Selbst festhalten, von dem du glaubst, dass es wünschenswert ist. Das Gleichgewicht meines Lebens beruht auf dem Raum, in dem ich ungestört sein kann. Warum benötigen die meisten anderen diesen Raum scheinbar nicht? Ist mein Versuch, durch das Schreiben zu einer größeren Klarheit zu kommen, der Versuch, mein Scheitern in der bürgerlichen Gesellschaft zu verschleiern? Jeder andere scheint die Füße fester am Boden zu haben. Nur meine eigene Füße wollen nicht haften. Stell keinen Kopf über deinen eigenen, füge deinem Leben nichts Zusätzliches hinzu. Seit Jahren kämpfe ich mit den selben Problemen und scheine nicht voran zu kommen. An einem Tag vermisse ich an meiner Sprache die Ruhe und Ausgeglichenheit, die Weisheit, die ich gerne erreichen möchte. Dann wieder ist sie mir zu wenig ungestüm und wild. Der Weg führt am Rand vorbei, geht nie durch die Mitte. Der Weg droht immer wieder im Nichts zu verlaufen. Nichts Besonderes. Ich sitze am Schreibtisch und höre, wie die Vögel singen. 

(...)

Er ziehe es vor, sich in Bildern oder in langem Schweigen auszudrücken als Worte zu suchen für das, was er sehe oder denke. Was für Bilder, fragte ich. Es ist mir egal, sagte er. Hauptsache, sie entstehen schnell, so wie ein Frosch von Stein zu Stein hüpft. Das selbe gelte für das Schweigen, das nicht einmal in den Lidschlag eines Menschen hineinpasse. Du hältst also nichts von langer und disziplierter Arbeit, von jahrelangen Bemühungen, an deren Ende der Erfolg steht, fragte ich ihn. Die Bemühungen sind nur ein Schein, sagte er. Das Wesentliche geschieht im Bruchteil einer Sekunde. Die Bemühungen sind leer und voll, wie du willst. Sie sind die Qual, das eigentliche Nichts unseres Lebens. Kannst du diese Leere verstehen? Er schaute mich lange an, aber ich sagte nichts. Ein Vogel landete auf dem Fensterbrett und scharrte mit den Füßen. 
Ich fragte ihn, ob er gerne reise. Er wand sich ein wenig. Er sei wohl hier und da gewesen. Eigentlich reise er ungern. Der Gedanke, die vertraute Umgebung zu verlassen, erfülle ihn mit Unbehagen, und desto mehr, je älter er werde. 
Wenn er der Meinung war, er habe jetzt genug gesagt, stand er auf und ging. Am Anfang fand ich sein Verhalten merkwürdig, unhöflich sogar. Nach einiger Zeit begriff ich, welche Freiheit er mir dadurch schenkte. 
(Berlin 1993)

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...