Montag, 21. Dezember 2015

Einige Fragen über die Gegend hier

Was muss ich wissen, um über Seved schreiben zu können? Wie viele Morde hier geschehen sind in den letzten zehn Jahren, wie viele Schüsse abgegeben wurden, wie viele Handgranaten in Wohnungen, wie viele Eier gegen Fensterscheiben geworfen wurden, wie viele Autos gestohlen wurden, wie viele Strafzettel in der Gosse gelandet sind? Menschen bezeichnen hier ihre Nachbarn als "Ratten". Es gibt ein Café, in dem ich noch nicht gewesen bin. Wo ist die heimliche Moschee, was passiert eigentlich im Thai-Massage-Laden? Würde ich mich trauen, den Tätowier-Shop zu betreten? Wieso gibt es hier so viele Friseure? Kann man das beantworten?
Wieso sind die Weihnachtsmärkte hier so erbärmlich, so deprimierend? Wer hat eigentlich unser Auto geklaut, oder anders gefragt: warum wurde er kurz danach misshandelt und aus dem Auto gezerrt?
Ich möchte mich ganz und gar in der Gegenwart bewegen, eine Art Stimmungsbild schaffen. Fast als wäre ich blind und könnte mich nur auf meine Intuition verlassen, mein Bauchgefühl.
In welchen Sprachen wird hier gesprochen? Wieso habe ich hier bisher am längsten gelebt, es am längsten ausgehalten?

Samstag, 19. Dezember 2015

Und lange Lesbos-Nachlese ("Eigentlich gleicht alles einem Traum")

1. Michalis erzählt u.a., dass 87 Volontärsorganisationen im Dorf vertreten sind, dass Hotels ihre Zimmer für 10€ / Nacht vermieten, dass die Volontäre Autos mieten, die sie dann auf den unbefestigten Straßen zu Schrott fahren. Angelos ist jetzt in seinem Restaurant damit beschäftigt, belegte Brote für die Flüchtlinge zu machen, und verdient gut dabei. Das Auffanglager soll zwischen Eftalou und Skala Sikaminia verlegt werden.
2. Traum: Lakshmi ist von der Terrasse meiner neuen Wohnung (Traumterrasse, Traumwohnung) gefallen. Jemand, der bei mir ist, beugt sich über das Geländer. Da liegt was. Ich schaue selber, widerwillig, aber die Terrasse ist beinahe ebenerdig: Sie bewegt sich noch. Ich muss mit ihr zum Tierarzt fahren. Der Kopf ist ganz platt, aber ich hoffe, dass es möglich ist, sie zu retten. 
3. Michalis erzählt von Pakistanis, die in Molivos in einem Bus falsche Papiere und Pässe austellten. Es musste eine Einsatzgruppe aus Athen kommen, die sie dann festnahm. Er erzählt auch, dass mit manchen afghanischen Männern Drogen auf die Insel kommen. Michalis' Tochter sagt: "Sie sollen aufhören mit dem Krieg, damit die Menschen wieder nach Hause gehen können."
3. Der neue Nachbar redet immer nur von "seinem" Haus und "seinem" Grundstück und davon, was "er" will (sogar wenn seine Frau daneben steht, die Ärztin ist). Er sieht auch die ganze Umgebung durch seine egozentrische Brille. Redet von Bäumen, die ihm die Aussicht versperren, und sagt nichts davon, dass ich vom Fenster aus jetzt den Rohbau seines Hauses sehe statt einer Schafswiese.
4. Ich ging zum Strand und schaute mir die gestrandeten Boote an, machte Fotos. Ich legte einzelne Gegenstände aus dem Haufen mit Schwimmwesten, feuchten Kleidern und Alltagsgegenständen auf einen Steinabsatz und fotografierte sie, wie z.B: Kinderzahnbürsten, ein angerosteter Nagelknipser, ein Kamm, ein Schwimmflügel, ein Kinderhaargummi, Kinderhandschuhe. Ich nahm ein paar Fetzen von den zerschnittenen Gummibooten mit nach Hause.
5. Dass Cleo immer noch nicht aufgetaucht ist, nimmt mich mehr mit, als ich es eigentlich möchte. Das Gefühl ihrer Abwesenheit ist ständig gegenwärtig. Gestern, als Caesarion aus dem Dunkel auftauchte, dachte ich zuerst, es sei Cleo. Diese mikroskopische Enttäuschung, als ich erkannte, dass er es war und nicht sie.
6. Olivenklauben. 100 Oliven gepflückt, in Salz eingelegt. Unkraut gejätet, die Dachrinne gesäubert. Olivenernte mit Anna und vier Männern.
7. Der Teenager: Dieser Eindruck, dass der Körper mit seiner eigenen Energie überfordert ist und kurz vor dem Bersten steht. Er trägt ein ärmelloses Muscle-Shirt, klobige Stiefel, die er nur zur Hälfte geschnürt hat, er springt leicht über die Mauer, auf deren anderer Seite es über einen Meter hinunter geht. Er weiß, dass ich ihm zuschaue. "Gute Reise!", rufe ich ihm hinterher. Er dankt mir mit einem breiten Lächeln und verschwindet mit seinem langen Holzstock um die Ecke.
8. Cleo taucht endlich auf! Anna und ihr Sohn nehmen später am Abend eine Fähre nach Athen und fahren von da zwölf Stunden mit dem Bus nach Albanien weiter, weil Giannis Pass von den albanischen Behörden falsch ausgefüllt wurde ("Mytilini" statt "Griechenland").
9. In der Nacht gießt es, ich schlafe unruhig, wache immer wieder auf.
10. U und ich fahren zur Olivenpresse. Die Oliven werden in einen Trichter gekippt, zur Waschanlage hochtransportiert, dann gepresst. Wir stehen herum, während unaufhörlich Säcke mit Oliven herangefahren werden. 350 kg haben wir selber. Wir vertreiben uns die Zeit. Ich gehe einkaufen, U fährt zur Bank und holt Geld. Sie kauft einen Sesamring, den wir uns teilen. Wir gehen einen Kaffee trinken und reden über Es Geldgier und Gs unbegreifliche Raucherei.
11. In der Hafentaverne sitze ich plötzlich mit drei riesigen vegetarischen Gerichten da - ich kann nicht einmal die Hälfte essen und spüre die Betretenheit der Frau, die mich bedient. Meine geistige Energie geht damit drauf, dass ich eine pessimistische Rechnung darüber aufstelle, wie viel das Ganze mich kosten wird, und damit, dass ich darüber nachdenke, ob ich um einen Doggy Bag bitten soll.
12. In einer Cafeteria sitzen die alten Männer, spielen Karten und schauen zwischendurch immer wieder auf den Bildschirm, der in der Ecke an der Wand hängt. Die Volontäre sitzen im Restaurant Majorán.
13. Auf meinem Spaziergang sehe ich ein trauriges Pferd, dessen Kette an einem Baum befestigt ist. Es ist so kurz angebunden, dass es sich kaum bewegen kann im aufgeweichten Schlamm. Ich öffne das Gatter und gehe zu ihm hin, gebe ihm einen großen Apfel, den ich soeben gekauft habe. Dann ändere ich den Sitz des Halfters, das ihm zuvor das eine Auge verdeckt hat. Als ich weitergehe, dankt mir das Pferd mit einem Wiehern.
14. Ich spreche auf der Straße mit zwei Volontären, Ryan und Florian. Ryan (der aus Florida kommt) fragt mich, ob sie für mich beten können und lädt mich für den Abend zu einer Messe in der improvisierten Zeltkirche ein.
15. (Ein paar Tage später treffe ich Ryan im Dorf. Er streichelt vor dem Lebensmittelladen eine kleine Katze. Als wir ein paar Worte gewechselt haben und ich weiter gehe, ruft er mir noch einmal hinterher. "Bist du denn mit dem Fahrrad den ganzen Weg aus Deutschland gekommen?")
16. Traum von F.H. Er ist plötzlich wieder aufgetaucht und sieht genauso aus wie früher. Ich bin so froh. Er war lange verschollen. Ich träume auch, dass ich in Marys Kafeineon bin, aber nur einen griechischen Kaffee trinke, oder nicht einmal das. Es ist auch woanders. Ich sitze mit einem Musiker an einem schwarzen, runden Tisch, wir trinken beide etwas Heißes, und ich stelle es auf dem Tisch ab, worauf sich an der Stelle von der Tischplatte die schwarze Plastikfolie löst.
17. Ich weiß nicht, was mir von diesen Wochen in Erinnerung bleiben wird, oder ob sie zu einer Undeutlichkeit verschwimmen werden.
18. Je weniger ich denke und zweifle, desto besser geht es, vielleicht kann das zu einer Gewohnheit werden.
19. Ach ja: Deuschland hat beschlossen, Tornados nach Syrien zu schicken, um Frankreich in seinem "Krieg" gegen Daesh zu unterstützen.
20. Zweiter Advent: In der Taverne in Petri bitten die Gäste am Nachbartisch um die Reste, die die Gesellschaft, die soeben gegangen ist, auf ihrem Tisch hinterlassen hat. Sie reichen dem Kellner eine Plastiktüte, ohne Umstände kippt er die Fleischreste von dem Grillteller hinein. Die Plastiktüte verschwindet wieder hinter dem Stuhl.
21. Ich teile mir mit drei Deutschen von einer "Herzöffnungs"-Gruppe das Taxi zum Flugplatz. Lasse mich in Athen dann von einem dürren Mann mit einem "Parkschein" hereinlegen. Angeblich braucht er nur kurz etwas "Kleingeld", kurz darauf "etwas mehr". (Dann schwant mir, dass er genau so viel Geld wollte, wie er in meinem Portemonnaie gesehen hat, als ich es öffnete, ingesamt 4 Euro.)
22. Ich denke an den Abend bei G und wie er mit einem winzigen Pinsel die Faltengewänder von Jesus und den zwölf Aposteln verfeinerte. Auf einer Glasscheibe schob er die Farbe zusammen, strich sie wieder aus. Wir tranken Kaffee und selbst gebrannten Raikos, den er aus den Tiefen eines Schranks holte. Bei meinen letzten Versuchen, ihn zu treffen, war der Laden immer verrammelt, ich hinterließ eine kleine Notiz: "Bis zum nächsten Jahr!"

Freitag, 18. Dezember 2015

Fünf Lebenszeilen

Wie ich immer wieder einen neuen Versuch starte, immer wieder bei Eins anfange, mich immer wieder in mir selber verheddere.
Die Frau, die mir auf dem Sofa gegenüber saß, hätte beinah meine Tochter sein können, und doch sprach ich mit ihr, als wäre sie die Erwachsene, ich das Kind.
Ich erfinde Filmzenen, tue so, als hätte jemand anderes sie erfunden, und lasse jemanden im Hintergrund darüber kichern.
Auf der Straße brüllt jemand, aber ich weiß nicht, warum er so wütend ist und so verzweifelt, ich kann die Worte nicht verstehen, und das Brüllen entfernt sich langsam, ebbt ab, verschwindet.
Wir befinden uns vielleicht in einem Film von Luc Godard, der manchmal lustig ist und manchmal kaum zu ertragen.
"Ich will sterben."
"Dann stirb doch!"
Jemand erklärt mir ausführlich die Vorzüge einer in einen Aktenordner geklebten Plastikhülle.
Ich stehe in der Käseabteilung vor der riesigen Käseauswahl und nehme den gleichen Käse, den auch direkt vor mir jemand genommen hat.

Dienstag, 15. Dezember 2015

Zeichen von oben

M erzählte, irgendwann im Oktober oder November habe er ganz einfach weggemusst von Lesbos, er sei völlig am Ende gewesen mit seinen Nerven. - Aber kurz vor der geplanten Abreise stürzte seine Tochter und brach sich das Handgelenk. Dann wurde sein Schwiegervater krank, der sich um die Kinder hätte kümmern sollen. Der Arzt redete M und seiner Frau zu, sie sollten trotzdem fahren, die Kinder und der Schwiegervater kämen schon zurecht die paar Tage. Am Tag der Abreise fand er plötzlich seinen Ausweis nicht, er stand kurz davor, den Verstand zu verlieren, und sagte zu seiner Frau, lass uns die Reise abblasen, vielleicht sind das Zeichen von oben, vielleicht sollen wir diese Reise nicht machen. Weil seine Frau so enttäuscht war, rief er bei der Polizei an, er hat einen Bekannten dort, und bestellte einen neuen Ausweis. Innerhalb einer halben Stunde konnte er den Ausweis in Kalloní abholen, und sie fuhren zum Hafen in Mytilini, nur um zu sehen, dass die Fähre schon abgelegt hatte.
"Wir fuhren dann am nächsten Tag", sagte er. "Es war vielleicht wirklich so gemeint. Dass wir erst am nächsten Tag fahren konnten." Sie hätten dann einige sehr schöne Tage in der Türkei gehabt, weg von allem, was mit Flüchtlingen zu tun habe.

Sonntag, 8. November 2015

Eine Sache, die in dich eindringt

Las heute Svetlana Alexijewitsch: Tschernobyl.

"Mit Tschernobyl hat der Mensch die Hand erhoben gegen alles, gegen die gesamte göttliche Welt, auf der außer dem Menschen Tausende anderer Wesen leben. Tiere und Pflanzen.Wenn ich zu ihnen kam... Ich hörte ihre Berichte, wie sie (als erste und zum ersten Mal!) etwas völlig Neues, Unmenschliches taten: Sie begruben die Erde in der Erde, das heißt, sie versenkten verseuchte Erdschichten in speziellen Betonbunkern, mitsamt allem, was darin lebte: Käfer, Spinnen, Larven. Vielfältige Insekten, deren Namen sie nicht einmal kannten. Nicht mehr wußten. Sie hatten einen ganz anderen Begriff vom Tod, er erstreckte sich auf alles - vom Vogel bis zum Schmetterling."

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Und was hast du selber am 26.April 1986 gemacht?

Ich saß in einem Biergarten in der Nähe der Uni in Berlin und als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, schrie mir mein Mitbewohner Oskar entgegen, ich solle sofort meine Schuhe mit dem Putzlappen abwischen, den er zu diesem Zweck in den Eingang gelegt hatte.

Irgendjemand kaufte in den nächsten Tagen säckeweise Trockenerbsen und Reis.

Es ging plötzlich nicht mehr, unbeschwert auf dem Balkon zu sitzen. Wenn man in der Stadt in einen Regen geriet, suchte man sofort einen schützenden Mauervorsprung auf. Aber wir dachten nicht wirklich an die Menschen dort, an dem Ort, an dem das Unglück geschehen war, wir dachten hauptsächlich an uns selber und den Cäsiumgehalt der Milch, die wir tranken.

Es war alles völlig ungreifbar und unakzeptabel. Keine Waldbeeren mehr sammeln, keine Pilze, und zwar hundert, tausend Jahre lang. Wie giftig ist die Erde, die Luft, die wir atmen? Mütter, die sich das leisten konnten, fuhren mit ihren kleinen Kindern nach Lanzarote, um sie dort vor der unsichtbaren Strahlung zu schützen. Tschernobyl verebbte in uns, verharmloste, tauchte manchmal wieder auf in gespenstischen Bilden eines entvölkerten Orts. Aber die Menschen, die Menschen...?




Samstag, 7. November 2015

Eigentlich denke ich fast ständig an die Stadt


Am Abend noch mal den Schmerz des Tages Revue passieren lassen:

Ich weiß nicht mehr, wo ich anfangen soll: Bei der Fahrt mit dem Fahrrad durch die regendunkle Stadt? Bei den Ochsenmedaillons, die ich im Fleischwolf in Hackfleisch verwandelte, dem Fleischsaft, dem Blutsaft, dem grauen ausgespuckten Fleisch in der Katzenschale? Bei dem Konzertsaal, in dem die Farbe der Wände sich änderte, von rot zu blau zu grün zu einer Art Schneegestöber aus schwarz und weiß? Bei den hochhackigen schwarzen Stiefeln der Akkordeonistin, die von ihrer karelischen Großmutter erzählte, bei der Falte zwischen ihren Augenbrauen, bei meiner plötzlichen, mir beinah den Atem nehmenden Sehnsucht nach Finnland? Bei den drei jungen Schwedinnen in ihren bunten Sackkleidern, die ein chinesisches Lied spielten, das vom Sommer handelte? Die eine nahm aus einer Plastikflasche einen Schluck Mineralwasser, legte den Kopf in den Nacken und gurgelte ins Mikrofon, was im Loop klang wie ein sprudelnder Gebirgsbach.

"Wie heißt du?", fragte ich. Ich war von hinten an ihn herangetreten und hatte ihm beide Hände auf die Schultern gelegt.
"Anton."
Beim Lächeln zeigte sich eine kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen.

Es stürmte beinahe, als ich wieder nach Hause fuhr. Eigentlich denke ich fast ständig an die Stadt.


Donnerstag, 5. November 2015

Abendgedanken

"Ich kann nicht mehr." Mindestens einmal am Tag muss ich an diesen Satz denken, den mein Vater kurz vor seinem Tod gesagt hat, jedenfalls hat meine Mutter mir das so erzählt. Immer noch kann ich das Wort "Tod" nicht mit meinem Vater in Verbindung bringen, obwohl es mir "ganz in seiner Ordnung" zu sein scheint, dass für ihn die Anstrengung, die es am Ende für ihn bedeutete, am Leben zu sein, jetzt vorüber ist. Der Tod meines Vaters hat weniger Schmerz in mir ausgelöst als eine Ratlosigkeit, ein Gefühl der Leere und der Vergeblichkeit, eine sanfte Traurigkeit. Am Tag seiner Beerdigung, beim gemeinschaftlichen Kuchenessen und Kaffeetrinken, kam mir meine Mutter viel gelöster vor als bei ihrem Geburtstag wenige Monate zuvor, bei dem ich das Gefühl nicht losgeworden war, dass ich einer Beerdigung beiwohnte (die Vorwegnahme des Sterbens meines Vaters, die Angst vor einer Steigerung seines Leidens, der Anblick seines allmählichen Dahinschwindens, des allmählichen Verlusts seines Lebens, all das war mindestens so schmerzhaft wie sein tatsächliches Verschwinden). Als meine Mutter mir sagte, sie könne sich jetzt schon (nur zwei Wochen nach seinem Tod) nicht mehr an seine Stimme erinnern, schauten wir uns einen Film an, auf dem er, auf dem Hinterhof des Hauses in Görlitz stehend, in dem seine Großeltern eine Kohlenhandlung gehabt hatten, erklärte, wo in seiner Erinnerung damals die Eingänge gewesen waren. Er deutete hierhin und dahin, und meine Schwester und ich standen neben ihm und hörten zu, während mein Bruder die Kamera über den Hof schwenken ließ. Meine Mutter kommentierte die Jacke, die mein Vater auf dem Film trug und die er sehr geliebt hatte. Später gab sie mir aus seinem Kleiderschrank einen Wollpullover, ein langärmeliges T-Shirt und ein Paar Strümpfe, weil ich zu wenig warme Kleider dabei hatte. Die Strümpfe waren mir zu groß, aber der Wollpullover fühlte sich schnell an, als wäre er mein eigener. Schlaflos blätterte ich in der Nacht in dem Kalender, der auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer lag und in den er mit seiner genauen Schrift vor allem seine Arzttermine notiert hatte und am 14.November: "87. Geburtstag".

Mittwoch, 4. November 2015

Sich über sich selber wundern

Ich höre nur noch selten Musik und habe jetzt öfter das Radio an als früher. Nur noch selten komme ich mit einem Stapel CDs aus der Bibliothek nach Hause, die ich dann auf irgendwelche anderen Geräte kopiere (worauf ich die Tonträger säuberlich beschrifte). Ich möchte mich interessant (extravagant) kleiden, wähle aber eigentlich immer praktische Kleidung, die ich meistens Second Hand gekauft habe, teilweise aus Lust am Zufall, aber auch (und nicht zuletzt) aus Geldmangel oder weil ich keine Lust habe, nur wegen Kleidung mehr arbeiten zu müssen. Ich habe immer versucht, nur so viel Geld zu verdienen, wie ich unbedingt zum Leben brauche, aber ich habe oft Angst gehabt, dass mir mein Geld nicht reichen oder eines Tages ausgehen wird. Momentan habe ich wieder die Angst, dass das Geld mir ausgehen wird und dass ich dann nicht mehr weiß, wovon ich leben kann. (Diese Sorge scheint übrigens, ganz unabhängig von der Höhe des Einkommens, in unserer Familie - auf der väterlichen Seite - erblich zu sein, so dass ich eigentlich aufhören könnte, mir vorzustellen, wie leicht mein Leben wäre, wenn ich mehr Geld hätte.)

Montag, 2. November 2015

Lilleman

Er sagte, ich solle einen "Lilleman" nehmen, um die Tomatensoße auf dem Pizzaboden zu verteilen (oder einen Gumischaber). Ich sah ihn fragend an. Was ist ein Lilleman? Wie lange bist du schon in Schweden, fragte er, und du weißt nicht was ein Lilleman ist?
Er erklärte mir, ein Lilleman sei ein Messer zum Broteschmieren, mit Holzgriff und Metallklinge. Nie gehört, sagte ich, ein Antrag auf Staatsbürgerschaft würde wahrscheinlich sofort abgelehnt. Aber ehrlich gesagt juckt mich das nicht die Bohne, sagte ich. Ich war sauer auf ihn, weil er sich wegen dem "Lilleman" so aufspielte. Ich nahm einen Gummischaber und verteilte die Tomatensoße auf dem Pizzaboden.
Am nächsten Tag fragte ich P, ob sie wisse, was ein Lilleman sei. Nie gehört! Sie sagte, das sei wahrscheinlich ein regionaler Ausdruck, der aus dem kleinen Kaff in Småland komme, in dem L aufgewachsen ist. Oder etwas, das man in seiner Familie so sagte. Ich muss ihm das erzählen, sagte ich, dass du auch nicht weißt, was ein Lilleman ist, mit deinem Literaturstudium und deinen vielen Büchern und beinah einem Doktortitel.
P weiß auch nicht, was ein Lilleman ist, erzählte ich ihm triumphierend, als ich ihn das nächste Mal sah. Wir vermuten jetzt, dass das ein regionaler Ausdruck ist oder etwas, das man nur in deiner Familie sagt.
Er sagte aufgebracht (ich weiß nicht, ob er es nur spielte), dass das ein allgemeiner Begriff ist und dass die Tatsache, dass P ihn nicht kennt, gar nichts bedeutet. P lebt in ihrer eigenen (kleinen) Welt, das müsstest du selbst gut wissen. Ich dachte ein wenig über diese komische Bemerkung nach, ließ es aber bleiben, darauf damit zu antworten, dass ich fände, Ps Welt sei um einiges größer als seine. Ich glaube, ich frage ein wenig in meinem Bekanntschaftskreis herum, sagte ich. Ich sagte, das (die "Lilleman"-Frage) sei interessant", er hörte aber "inte sant" (nicht wahr) und regte sich gleich wieder ein bisschen auf (oder tat nur so), und dann sagte er, es käme natürlich auf meinen Bekanntschaftskreis an, und das hörte sich für mich wieder so an wie eine subtile Kritik.
Später am Abend saßen wir gemeinsam vor dem Fernseher und ich googelte ein wenig herum. Ich fragte ihn, ob ich ihm vorlesen dürfte, was ich gefunden hatte. Er lag auf seinem Sofa und surfte selber auf dem Telefon herum. Am Fernsehen lief eine Serie, die "Solsidan" heißt (Sonnenseite) und die er unterhaltsam fand (sie handelt von schwedischen Ehepaaren in einem reichen Villenvorort von Stockholm), ich aber fand sie deprimierend.
Die "Lilleman"-Frage ("Handelt es sich bei "Lilleman" um einen geläufigen Begriff oder um einen regionalen bzw. auf eine Familie beschränkten?") war auch im Internet zu finden, und als ich ihm einige Auszüge von Diskussionsseiten und Blogs vorgelesen hatte, in denen Schweden die Frage aufwarfen, andere antworteten, sie hätten den Begriff nie gehört und so weiter und so fort, sagte er, er habe es jetzt kapiert und lachte.
(Die Pointe: Ich brauche jetzt unbedingt einen Lilleman, denn meine Recherche hat mich darauf gebracht, dass es sich dabei um ein völlig unentbehrliches Haushaltsutensil handelt!)


Freitag, 30. Oktober 2015

Aus der Versunkenheit (?)

Aus der Versunkenheit (?) aufgetaucht / aufgewacht.
Aufräumen im Gehirnstübchen / im Gefrierschrank / in der papiernen Schatzkiste.
Ein feixender Kürbis leuchtet auf dem Hinterhof.
Ich hab dein Bild irgendwo / eine Überschneidung, Überlappung von Bildern.
Im Garten + geatmet, die Himbeeren nach Hause gesammelt.


Samstag, 27. Juni 2015

Lesefrüchte (I can't stop writing what I read)

"As for me, I decided that from that moment on I would live for myself only, and as soon as we returned to Naples that was what I did, I imposed on myself an attitude of absolute detachment."

Elsa Ferrante, The Story of a New Name

this, more or less

"This, more or less. Her words were very beautiful, mine are only a summary. If she had confided it to me then, in the taxi, I would have suffered even more, because I would have recognized in her fulfillment the reverse of my emptiness." 

Elena Ferrante, The Story of a New Name

Mittwoch, 20. Mai 2015

Wieder einmal lesen

"Yes, I said. Eve can't, doesn't know how, doesn't have the material to be Eve outside of Adam. Her evil and her good are evil and good according to Adam. Eve is Adam as a woman. And the divine work was so successful that she herself, in herself, doesn't know what she is, she has pliable features, she doesn't possess her own language, she doesn't have a spirit or a logic of her own, she loses her shape easily. A terrible condition, Nino commented, and I nervously looked at him out of the corner of my eye to see if he was making fun of me. No, he wasn't."

- Elena Ferrante: Those Who Leave and Those Who Stay

Montag, 18. Mai 2015

in the morning

In the morning

When I look into the mirror

I see the lines in my face

and wonder about my life.

What makes it so difficult to know?

And when you know, to do?

I followed a strange path,

often fought against the small things

and gave in for the big.

How should one live?

When I was young, this was the question.

Now that I am older, I do not know the answer.

The many things my hands have done

are now gone, not made for eternity.

My words have not left a trace.

The years have passed, even for me,

why am I surprised?

In this simple hut I drink my morning coffee, I eat my breakfast.

Somewhere there is war, I know.

There is always war, somewhere.

I do not hear guns from where I sit,

I just hear the cars from the motorway,

the sound of the small everyday war,

a senseless struggle against time, against space.

Nowadays I see to my garden, I feed the cats, I listen to the birds.

You could call me names,

but I have seized to care.

I am the woman without name, I own not a thing.

I walk in worn shoes, I look at the sky.

Sonntag, 3. Mai 2015

Das Geländer

Ich kann nicht schreiben, ohne mich irgendwo festzuhalten, panisch greife ich nach dem Geländer, ich werde vielleicht fallen und zwar sehr, sehr tief!

Ein Buch gibt es, aus dem mir der Freund entgegen spricht. Plötzlich höre ich seine Stimme, plötzlich ergreift mich die Erkenntnis, dass ich sie nie wieder hören werde, nicht so, nicht so wie damals, vor Jahren, Jahrzehnten beinahe. Wir waren doch Freunde, wir hätten doch Freunde werden können, er lud mich ein in sein Haus im Wald, wir hätten doch noch öfter zusammen frühstücken, die Nachrichten am Radio anhören können!

Das ist jetzt dein Zuhause, hatte er doch gesagt! Du kannst kommen, wann du willst.

Er hielt es doch aus, wenn ich weinte, er streckte sich doch auf der Matratze neben mir aus, in voller Kleidung, er lehrte mich doch das Stillsein, Holzhacken, ich weiß doch noch genau, wie er einen Fuß vor den anderen setzt, wie er sich räuspert, ich habe doch sogar Freundschaft geschlossen mit seiner Frau, seinem Sohn! Nur seine Geliebte meide ich, mied ich, ich muss von allem im Imperfekt schreiben...

Ich habe nicht gewusst, wie sehr ich du mir fehlst, schrieb ich ihm.
Im Unterschied zu dir habe ich immer gewusst, wie sehr du mir fehlst, schrieb er zurück.

Ich las es IHR vor, wir saßen auf dem Boden in meiner Küche, als seine SMS kam, ich war bereits dabei, sie zu verlieren, ich hoffte, sie zurück gewinnen zu können, aber sie wandte sich leichthin ab.

Auch er weiß von dem eiskalten Blick, der das Herz zum Gefrieren bringt, ich habe es heute gelesen, in seinem Buch.

Ich floh vor dem Buch in die Kälte der Nacht.

Immer gibt es irgendeine Katze, die ich vermisse, ich rufe Namen in die Dunkelheit, ich hoffe auf gute Nachrichten.

Mittwoch, 22. April 2015

Die Kiste (4)

Das Schaukeln und Baumeln in den Zweigen hat eine positive Auswirkung auf mein inneres Gleichgewicht. Ich kratze mir den Rücken, den Kopf, das Schienbein, knabbere ein wenig an meinen Fingernägeln und gähne, dass es in den Kiefern knackt. Einmal am Tag ziehe ich das Seil hoch, um zu sehen, ob mir jemand etwas zu essen in den Korb gelegt hat. Das mache ich so an die dreizehn Jahre, dann wird mir ein wenig langweilig. Mein Haar ist inzwischen so lang, dass ich es mir als Schal um den Hals wickeln kann. Aber an Ideen mangelt es mir deshalb nicht. Zuerst denke ich an den Raum, der meistens leer ist, bis auf ein paar wackelige Stühle. Fleckige Filzdecken liegen herum. Dann erst kommen die Menschen, aber sie sind meistens schon tot oder jedenfalls fast. Einer (1) ist Kirchenmusiker. Er ist sehr blass und dünn und fängt leicht an zu weinen. Er liebt alles von Mozart, auch Mozartkugeln. Unglücklicherweise leidet er an körperlichen Zuckungen und Tourettes Syndrom, was dazu führt, dass er oft unpassende Worte in den Kirchenraum ruft. Ein anderer (2) hat vor ein paar Monaten seinen Posten als Verlagslektor verloren, den er sowieso nicht mochte, da er sich eigentlich für einen Schriftsteller hält. Er trägt in einem Schuhkarton Romananfänge der letzten zwanzig Jahre mit sich herum, an denen er nicht weitergeschrieben hat, die er aber auch nicht wegwerfen kann, weil er sie immer noch vielversprechend findet. Seine Frau hat ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Er trägt einen grauen Regenmantel und weiß nicht, wo er die nächste Nacht verbringen soll. Der dritte (3), ein Mathematiker, ist verliebt in eine Frau, die über zwanzig Jahre jünger ist als er. Er hat sie auf einem Kongress in Südafrika kennengelernt. Sie ist Doktorandin, lebt in Stockholm und ist mit einem netten Mann verheiratet, den sie auch liebt und mit dem sie einen kleinen Sohn hat. Manchmal ruft der Mathematiker die Frau an und fragt sie, was sie gerade macht. "Nichts Besonderes, warum." Er fragt sie, wo sie gerade ist. Sie sagt "In der U-Bahn" oder "Im Büro" oder "Zu Hause". Die Frau des Mathematikers fragt ihn, ob er untreu ist, und er sagt nein, was auch stimmt. Er möchte aufhören, die junge Frau anzurufen, aber er schafft es nicht. Sie hat gesagt, dass sie ihn nicht liebt, aber sie sagt nie, dass er sie nicht mehr anrufen soll. Nummer vier (4) ist Ingenieur in einer Papierfabrik. Er hat Lungenkrebs, weiß es aber noch nicht. Seit ein paar Wochen leidet er unter zunehmendem Husten und Mattheit und hat sich vorgenommen einen Arzt anzurufen, schiebt den Anruf aber vor sich her. Er hat manchmal die Phantasie, eine Frau zu vergewaltigen und zu quälen, konnte diese Vorstellung aber bisher immer wieder zurückdrängen und lebt sie durch das nächtliche Betrachten von schlecht gemachten Filmen aus.

(Das ist nicht das Ende, aber ich weigere mich jetzt, weiterzuschreiben. Nur ich weiß, was geschieht.)

----- ENDE -----

Sonntag, 5. April 2015

Die Kiste (3)

"Manchmal zweifle ich überhaupt nicht, da ergibt eine Handbewegung die nächste und das Leben ist wie ein silbrig glänzender Fluss, der durch meine innere Landschaft zieht. Meinen Käfig hänge ich in die Äste einer Eiche und kletterte geschwind und behende hinauf und wieder hinab. Mit Leichtigkeit benutze ich sowohl Hände als auch Füße zum Klettern, Festhalten, Hochziehen. An einem der ersten Abende im neuen Zuhause häkle ich mir eine schafwollene Mütze, die mir nicht nur den Kopf wärmt, da ja wie bekannt durch diesen im Normalfall der größte Prozentsatz der Körperwärme entflieht."

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                                           (Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 2. April 2015

Die Kiste (2)

"Größeres wartet noch auf mich: Aus den Holzresten baue ich einen kleinen Käfig zusammen, in den ich mich hinein setzen kann, wenn ich die Knie bis zur Brust anziehe. An einer der Wände befestige ich ein winziges Regal. Dieses kann Salz, Streichhölzer, einen Bleistiftstummel, Ohrenstöpsel und andere überlebenswichtige Dinge beherbergen. Nun bringe ich ein Schild mit der Aufschrift "Writer's Box" so an, dass es von überall her gesehen und gelesen werden kann. Ein Fenster brauche ich noch, jedenfalls bilde ich mir das ein, das werde ich aus kleinen Papierfitzelchen herstellen, und auf einige der Papiefitzelchen kritzle ich mit schwarzer Tusche winzige Geheimbuchstaben."

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                                         (Fortsetzung folgt)

Mittwoch, 1. April 2015

Die Kiste

"Du sagst, ich soll in die Hände spucken und die Ärmel hochkrempeln. Ich soll meinem inneren Impuls nachgeben, der zweifellos wertvoll ist und der Menschheit Nutzen bringen wird. Ich greife zu Holzbrettern, Säge, Schraubenzieher, Schrauben, Nägeln, denn eine gewaltige, durch nichts zu bändigende Schaffenskraft erfüllt mich. Ich muss jedoch auch grübeln, rechnen, mit verschränkten Armen herum stehen, Striche mit dem Lineal ziehen, rechte Winkel abmessen, meine Stirn in Falten legen. Erst zerstör ich, dann bau ich wieder auf. Die Freude, die mich erfüllt, wenn ich einen Nagel ins Holz treibe! Schon nach ein paar Hammerschlägen habe ich aus den herumliegenden Latten etwas hervorgebracht, das in meinen Augen schön ist, auch wenn ich nicht weiß, wohin es wachsen will und was sein Daseinszweck ist."
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         (Fortsetzung folgt)


Und ich träumte

was von einem Krankenhaus

und lag dann wach

und konnte mich partout

an nichts erinnern

außer daran, dass da

WAS gewesen war



Mittwoch, 18. März 2015

Das Schlimmste ist, dass ich angefangen habe zu vergessen

Du glaubst, dass du das Ende des Lebens erreicht hast und blickst zurück.

Das Schlimmste ist, dass ich angefangen habe zu vergessen. Dass ich mich anstrengen muss, um mich zu erinnern.

An ihrem letzten Tag gab sie mir Tee mit Zitrone. So unbedeutende Kleinigkeiten. Aber dann zweifle ich plötzlich daran. War es vielleicht nicht Tee mit Zitrone, sondern mit Honig? Ich weiß nicht, ob es eine Erinnerung ist oder die Erinnerung an eine Erinnerung.

Willst du nicht ein wenig reden?

Nein, ich trinke Tee und versuche dann zu schlafen.

Dienstag, 17. März 2015

Das grüne Hemd

So erzählte er es mir:

"Mein Vater wurde im selben Grab begraben wie mein Großvater. Ich bin für das Grab zuständig und als ich dort eines Tages ein wenig herumharkte, wurden Knochen ausgeworfen."

Er nahm einen Armknochen des Großvaters nach Hause, wurde aber von seiner Frau gescholten, er solle ihn wieder zurückbringen und vergraben, was er auch tat.

Bei einer anderen Gelegenheit grub er einen grünen Stofffetzen hervor, an dem eine Knopfleiste zu sehen war. Er wusste, dass der Großvater gewünscht hatte, in seinem grünen Hemd begraben zu werden, da es ihm viel bedeutet hatte. Er dachte an den Ausdruck "das letzte Hemd hergeben" und es kam ihm plötzlich so vor, als wolle der Großvater ihm etwas mitteilen.

Auch den Hemdfetzen nahm er in seinem Friedhofseimer mit nach Hause, seine Frau bat ihn aber, diesen zu verbrennen, was er dann ebenfalls tat.

Montag, 16. März 2015

## Erster Tag


## Erster Tag

Am ersten Tag wird Ordnung geschaffen. Die Gegenstände werden sorgfältig aneinander ausgerichtet. Bücher werden der Größe nach aufeinander gestapelt. Im Kleiderschrank hängt nichts mehr verkehrt herum. Der neue Anfang ist frisch, tut jedenfalls so. Er leuchtet aus jeder Ecke. Selbst die Katzen machen mit und setzen sich besonders schön hin, mit säuberlich nebeneinander platzierten Tatzen. Aus dem Lebenskalender werden einige Tage (Jahre) entnommen, säuberlich gewaschen und weichgespült und an einer durch das Zimmer gespannten Leine aufgehängt. Es sieht alles recht gut aus, wenn auch die Müdigkeit sich nicht leugnen lässt, ein gewisser schleppender Schritt, eine Hand, die hin und wieder zum Rücken fährt, eine zweite Hand, die über die Augen streicht und ein wenig dort verweilt, als müsse die sanfte Berührung ein wenig ausgekostet werden, als liege hinter allem die Sehnsucht nach einem langen Schlaf. Es gäbe Zeit dazu. Die Zeit ist ja in großen Mengen vorhanden. Dass sie einem manchmal knapp scheint, beruht auf einer reinen Täuschung, einer Störung in der Wahrnehmung. Am ersten Tag vor allem ist die Zeit wie ein unerschöpflicher Quell, der aus dem Verborgenen hervorsprudelt. Vieles, nein, alles scheint möglich. Jetzt hört man sogar Musik und vernimmt einen Rhythmus, der sich spürbar von unten nähert, der in die Füße, die Beine, den Rest des Körpers kriecht. Es ist wichtig, dass man jetzt keine plötzlichen und unbedachten Bewegungen macht. Sie könnten das schwebende Gleichgewicht zerstören, in dem die Wirklichkeit sich plötzlich befindet. Vor allem Eile ist völlig fehl am Platz. Sollte man jetzt eine Empfehlung aussprechen, dann ist es diese: nehmen Sie keine Position ein, beanspruchen Sie keinen festen Ort, weder auf der Erdkruste noch in ihrer eigenen mentalen Landschaft. Ein wenig Beweglichkeit scheint ja nicht zu viel verlangt, ein kleiner, winziger Schritt auf das Unbekannte zu. Es erfordert eine gewisse Bereitschaft, den alten Ballast wegzubringen, reulos und auf ein Nimmerwiedersehen. Eine Papptüte fasst alles Mögliche und man wird es nie vermissen. Noch schöner wäre es natürlich, jetzt vor dem Haus ein Feuer zu entfachen und den Flammen anzuvertrauen, was mit zu großem Gewicht an einem zieht oder (...)

Samstag, 14. März 2015

Kamm und Kämmin



Der Kamm und die Kämmin lagen sich wieder mal in den Haaren. Einzeln waren sie möglicherweise ganz nett, zu zweit jedoch unerträglich.

"Könnt ihr bitte mal einen Moment lang friedlich sein?", sagte die Haarbürste.

Daraufhin hauten Kamm und Kämmin gemeinsam so lange auf die Haarbürste ein, bis diese keinen Laut mehr von sich gab.

Zwar waren sie einzeln schwächer, aber sie hatten einander.

Freitag, 27. Februar 2015

Herzbuckelrasen

Die Herzbuckel rasen so vor sich hin.

Das Haar wächst zu einem Schwanz und die Fingernägel zu Krallen.

Ich suche nach einem Rezept für Erdartischocken.


Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...