Montag, 30. März 2020

Coronavirus-Alltag auf Lesbos XIX (27.März)



Es regnet still, kaum merklich, und ich sitze mit dem Pomera und einem Glas verdünntem Ouzo auf dem Bett.  Punxy und Caesarion streichen hinter meinem Rücken hin und her. Neben mir liegt das aufgeschlagene Skizzenbuch, mit einem Aquarellbild vom Blick aus dem Fenster. Seit einigen Tagen sitze ich abends immer am Schreibtisch und zeichne vom IPad ab. Das ist beruhigend. Ich lande in einem Flow. Die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke. In der Regel bin ich hinterher zufrieden, erfüllt. Ich tue dann eine Weile nichts anderes als das Skizzenbuch aufschlagen, das Bild betrachten, mit der Hand darüber streichen. Ich muss mich oft zusammenreißen, nicht zu viel daran herumzubessern. Früher habe ich fast jedes Bild so verdorben. Inzwischen habe ich auf Instagram meinen ersten kleinen Erfolg zu verzeichnen: Ein „repost“ auf urban_sketchers hat mir innerhalb kürzester Zeit über 500 „likes“ eingebracht.

Auch mein A-Text wächst, gedeiht. Ich gehe ihn immer wieder durch, verbessere Formulierungen, ergänze die Fakten von unseren WhatsApp-Terminen. Es sind inzwischen 160 Seiten. A ist überzeugt davon, dass wir auf über 200 Seiten kommen werden. Trotzdem wurde ich heute mal wieder von der Befürchtung gepackt, dass die ganze Arbeit umsonst sein könnte.

Immer wieder Katzenkämpfe auf der Terrasse. Das ständige Auf-der-Hut-Sein, der Kampf um das Futter, um das Revier. Unverdrossen kommen sie am nächsten Tag wieder zurück. Eine ganz spezielle Intelligenz. Und wo ich auch bin, Bibi taucht nach kurzer Zeit neben mir auf und miaut ununterbrochen. Nichts besänftigt ihn. Weder Futter noch Streicheleinheiten.

Nach dem vierten Krimi von Xialong Qiu lese ich jetzt ein literarisch anspruchsvolleres Buch von Michael Ondaatje: „Kriegslicht“. Und jedes Mal wenn ich zum Tolino greife, freue ich mich auf das behagliche Lesegefühl, das die Krimis bei mir hervorgerufen haben und in dem ich in den letzten Wochen gelebt habe und bin dann etwas enttäuscht, dass ich mich auf etwas anderes einlassen muss.

Der Ouzo versetzt mich in ein angenehm wolkiges Gefühl.

Gestern habe ich bei U und I vorbeigeschaut. I lag gerade in einem  Sonnenstuhl vor dem Haus, eingemümmelt in einen Daunenschlafsack, und las einen Eric Ambler-Krimi. Es fiel mir immer wieder auf, dass sie nach etwas fragte, was ich bereits ein paar Augenblicke zuvor gesagt hatte. Hinterher dachte ich, dass sie vielleicht schwer hört. Ich zeigte ihr den Herzsutra-Tanz, den ich am Nachmittag im Teepavillon geübt hatte und den ich jetzt an drei Terminen übers Internet anderen beibringen will. Ich war irgendwie in übermütiger Stimmung, weil es mir gelungen ist, so viele Internetkurse auf die Füße zu stellen, innerhalb dieser kurzen Zeit. Zwar verdiene ich wirklich verschwindend wenig Geld damit, aber für das Essen auf der Insel in den Wochen, die ich noch hier bin, wird es reichen. So habe ich immer gedacht. Und immer hat es gereicht.

I erzählte mir, dass jetzt für Bewegungen auf der Insel Passierscheine erforderlich sind, die man im Internet herunterladen kann und dann ausdrucken und ausfüllen muss. Dort muss man seine Bewegung eintragen, was man für ein Ziel hat, wie lange es dauern wird. Aber das kann doch nicht für einen Besuch im Lebensmittelladen gelten, frage ich. Sie glaubt doch. (Uschi korrigiert das später) Wenn man ohne Passierschein angehalten wird, zahlt man 150 Euro. Das ist hier viel Geld - die Leute halten sich also auch daran. Spaziergänge allein oder zu zweit sind offensichtlich erlaubt. Das ist gut zu wissen - ich habe mich in der vergangenen Woche nicht vom Gelände wegbewegt. Hinterher gehe ich mit meinen Abfallbeuteln zur Straße und werfe sie in einen Container. Ich fühle mich wie ein Kranker, der nach einer längeren Zeit wieder hinausgehen kann. Dabei habe ich überhaupt nicht unter dieser Begrenzung gelitten. Ich habe sehr viel gearbeitet und die Tage waren mir fast zu kurz. Inzwischen habe ich eine gute Routine am Morgen, mit einer Portion Griechisch zum Frühstück, das aus Honigbroten und Kaffee mit Milch besteht. Dann gehe ich oft erst zum Pavillon und schaue meine Instagram-Veränderungen nach, lese Nachrichten. Hinterher unters Dach und meditieren, heute aber nicht, weil es viel zu kalt war. Die Klappe blieb zu. Am Nachmittag musste ich sogar eine Weile den extra Heizkörper einschalten.

Gegen Mittag esse ich dann ein zweites Frühstück: Porridge mit Rosinen, Nüssen, Apfel, Honig und Joghurt. Zwischen vier und fünf esse ich warm, heute: Nudeln mit Linsen und Knoblauch, darüber geriebener Ladotiri und dazu mein gemischter Krautsalat, den ich liebe (Rotkohl-Weißkohl-Oliven). Abends esse ich ein paar Brote mit Käse und entweder Gurke, die aber jetzt aus ist oder wie heute etwas Krautsalat.

Am Abend Internetsitzung mit dem Vorstand unserer Wohngenossenschaft. U hustet und ist krankgeschrieben. V erzählt, dass ihr Mann J auch krankgeschrieben ist. Sie sind beide in der Risikogruppe, er als Mann, Raucher und Überlebender eines Herzinfarkts, sie wegen ihrer Autoimmunerkrankung. Es gibt nicht vieles zu besprechen. Eigentlich geht es hauptsächlich darum, wie wir die bevorstehende Jahresversammlung Ende April handhaben sollen. Verschieben? Aufs Internet verlegen? Bei gutem Wetter im Freien, mit Sicherheitsabstand? Wir entscheiden uns für die letzte Variante, persönlich hätte ich Variante eins gewählt. Ich werde da noch nicht zurück sein, sage ich. P sagt, wir können einen IPad auf den Tisch stellen, so dass du dabei sein kannst.

Manchmal denke ich, dass das hier vielleicht die beste Zeit meines Lebens ist. Vielleicht war ich nie so zufrieden und ausgeglichen, so sehr bei mir selber. Endlich der Pflicht entledigt, hinauszugehen in die Welt. Ich möchte gar nicht daran denken, dass ich irgendwann wieder zurück nach Schweden fahren muss. Eine Episode mit einer schwedischen Kursteilnehmerin heute hat mich wieder mit meinem altbekannten Groll gegen das Land und seine Leute erfüllt. Ich habe auch kein Verständnis dafür, dass Schweden mit den Sicherheitsbestimmungen so weit hinterherhinkt. Heute erst wurden Versammlungen von Gruppen über 50 Personen verboten. Ich denke hin und wieder, es liegt vielleicht daran, dass das Land von Krisen und Kriegen zu lange verschont geblieben ist. Man ist nicht an diese Art von Ernstfall gewöhnt und tut so, als würde die Bedrohung weggehen, wenn man nicht hinschaut oder allein aus dem Grund, weil in Schweden alles besser ist als anderswo.

Am Wochenende putzen und einen längeren Spaziergang machen. Das Gefrierfach auftauen. Am Montag muss ich Lebensmittel kaufen.

Es ist spät, genauer gesagt 23:46.



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