Montag, 9. März 2020

Alltag auf Lesbos I (5.März)


05/03/2020

Flughafen Athen - versuchte, ausgestreckt auf einer der Sitzbänke zu schlafen. Der Coronavirus macht sich in meinen Gedanken bemerkbar. Ist es gefährlich, den (bekleideten) Arm über die Augen zu legen? Ich schnäuze mich in ein Papiertuch, mit dem ich nach dem Händewaschen die Klotür geöffnet hatte. Um Mitternacht schweigt die Musik, aber in regelmäßigen Abständen kommen Sicherheitshinweise über den Lautsprecher. 'Das Gepäck nicht unbeaufsichtigt lassen.' Als ich einmal mit dem Gepäck zum Klo marschieren will, fordert mich die Wächterin, die gerade vorbei kommt, auf, auch meinen Schlafsack und die Liegematte mitzunehmen. Wenigstens meine Schuhe lasse ich stehen - kleine, sinnlose Rebellion. 

Ein paar Sitzreihen von mir entfernt eine brasilianische Gruppe. Bis halb drei Uhr spielen sie ein Wortspiel - das ist nicht unsympathisch, macht es mir aber schwer, zu schlafen. Denke wieder an den hustenden Mann mit dem schmalen Schnauzer, der gestern im Zug neben mir gesessen hat. Soll ich auf Lesbos meine Bekannten umarmen, auf beide Wangen küssen? Vielleicht schleppe ich jetzt den Virus auf die Insel, ohne es zu wissen. Ab halb drei war an Schlaf nicht mehr zu denken - ich habe also etwa zweieinhalb Stunden geschlafen, und das nicht mal gut. 

Sitze jetzt, 5:30, in einem Café, in dem der Kaffee einen Phantasiepreis kostet und trotzdem eine dünne Plörre ist. Die übernächtigten Frauen hinter der Theke, die wahrscheinlich um drei aufstehen müssen, um rechtzeitig an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Den ganzen Tag der Musik, den Lautsprecherdurchsagen, ausgesetzt. Überall sitzliegen Menschen herum, versuchen, ein wenig Schlaf zu erhaschen. Und die Wächterin, die die ganze Nacht herumlaufen muss. Was für Lebensgeschichten stecken dahinter?

Auch die Männerstimme, die jetzt gerade über den Lautsprecher Passagiere auffordert, zu ihrem Flug zu kommen, klingt müde.

Im Flugzeug gestern in einem Krimi von Qiu Xiaolong gelesen: Schakale in Shanghai. Später dann den Autoren gegoogelt, der seit Tian An Men in den USA lebt. Das erklärt die offen kritische Haltung der Erzählung gegenüber dem chinesischen Parteiapparat und einer Gesellschaft, die von Überwachung und Korruption geprägt ist. Er schreibt wie ein Insider, der einen Blick von außen hat. Seine Familie war in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Kulturrevolution betroffen. Habe den Autor durch Zufall entdeckt und wollte gern etwas "Leichtes" mit auf die Insel nehmen. Viele Einzelheiten zu China: das Essen, die Dichtung, Konfuzianismus, Totenrituale, Suzhou-Oper, das Nebeneinander einer von Geld getriebenen Moderne und einer Tradition, die in Kunst und philosophischen Ideen wurzelt. Die Grausamkeit und Scheinheiligkeit des kommunistischen Regimes.

Hauptperson der "dichtende Oberinspektor" Chen Cao, der am Anfang des Buchs von seinen bisherigen Funktionen entbunden worden ist und künftig dem Shanghaier Komitee zur Rechtsreform vorstehen soll, was einem "Wegloben" gleichkommt. .

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Jetzt zum Gate gewechselt. Mit der Zunge an meiner provisorischen Prothese herumtasten.

Weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich könnte ganz einfach weiterschreiben, in diesem Nichts, in dieser Klarheit, in dieser Abwesenheit von irgendwas. Es nicht verstellen mit irgendwelchen Beobachtungen, Alltäglichkeiten. 

Dann doch wieder: Die alte Frau mit der Handtasche auf dem Schoß, neben sich einen Rollstuhl des Flughafens, nimmt ein Feuchtigkeitstuch aus einem Handtaschenfach und wischt sich damit die Hände ab. Stiert vor sich hin, mit einem leeren Gesichtsausdruck. Die Raum einnehmenden jungen Männer, das Selbstbewusstsein in ihren Bewegungen, ihrem Reden. Eine Frau mit einer schweren Tasche, die sich mit kleinen und vorsichtigen Schritten nähert und dann schwerfällig auf einem Sitz niederlässt, obwohl sie gar nicht alt aussieht. Alle, die hier sitzen, haben eine kurze Nacht hinter sich. Ein alter Mann und eine alte Frau mit der Selbstverständlichkeit eines alten Ehepaars. Alles Überflüssige ist abgeschliffen, man kann einander nichts mehr vormachen.

(Abends)

Erster Abend. Auf dem Bett, mit dem Pomera.  Punxy, Cleo und Cesarion schlafen friedlich, Cleo schnurrt. Kam mit dem Bus an, um die Mittagszeit. Verschlief die halbe Fahrt.

Ein nagendes Gefühl. Es erinnert mich daran, dass ich ein Problem lösen oder es loslassen muss, aber ich komme nicht darauf, um was es sich handelt.

In diesen Wochen (Tagen) keine Nachrichten, Politik, Updates zur Wahl in Amerika. Malen. Schreiben. Lesen. Wandern. Stille. Weite.

Traf heute Mary, die mit Risto unterwegs ist. Er ist so faul (und alt), dass er das Bein beim Pinkeln kaum hochhebt. Wir gehen zu ihrem Haus, sie zeigt mir, dass Risto zwei Betten hat. Wegen des Regens legt sie das eine im Haus vor die Tür, lässt die Tür aber offen. Dann fährt sie mit ihrem Moped in den Laden. Wegen der neuen Flüchtlingssituation kommen täglich Journalisten in ihr Lokal, zu Gesprächen, zum Arbeiten. Sie essen nichts, trinken nur, aber das macht nichts, sagt sie. 

Sie erzählt, dass die Lage fürchterlich ist. Der rechte Mob. Sie versucht den Flüchtlingsgegnern klarzumachen, dass es hier nicht um Politik geht, sondern um Menschen. Es ist ein humanes Problem. 'Wenn ihr das Problem beseitigen wollt, dann müsst ihr entweder Lesbos aus dem Mittelmeer heben und an einen anderen Ort verpflanzen, oder ihr kauft euch eine Kalaschnikow und mäht alle Flüchtlinge nieder', sagt sie ihnen. Im Moment, sagt sie, sind im Dorf die Leute, die so denken wie sie und Giorgos, an einer Hand abzuzählen. Für Erdogan geht es um Politik, aber für die Menschen, die hierher kommen, geht es um ihr Leben. Sie findet das Argument idiotisch, dass die Flüchtlinge den Tourismus kaputtmachen. Der Tourismus war schon vorher im Rückgang begriffen. 'Durch euer Verhalten rettet ihr den Tourismus auch nicht', sagt sie den Inselbewohnern.

Treffe Ch bei Ignatio. Ich esse kleine Fische, dicke Bohnen und einen Salat aus Weiß- und Blaukraut, mit selber eingelegten Oliven. Trinke ein Glas Weißwein, eine kleine Flasche Wasser. Es fängt an, draußen zu schütten. Ich lasse Ch reden. Werde in den Inseltratsch hineingezogen, aus der Ausländerperspektive, gegen meinen Willen. Ich esse nur die Hälfte von dem, was Ignatios mir aufgetischt hat und lasse mir einen Behälter bringen, in den ich den Rest hineinschichte (es wird mein Abendessen). Ch trinkt währenddessen ein zweites Glas Wein.

Zuhause schlafe ich sofort auf dem Bett ein, in der Gesellschaft der Katzen. Wache immer wieder auf, erstaunt darüber, dass ich hier bin. Telefongespräche. Update zu dem Zustand unserer Mutter. Am Telefon sagt sie zu mir: "I hat mittags zu mir gesagt, dass es mir heute besser geht." "Aber was findest du selbst?" - Sie kann sich schon nicht mehr an den Besuch bei der Heilpraktikerin erinnern - erst als ich ihr beschreibe, wo die Praxis liegt, kommt die Erinnerung zurück. Auch sie nach ihren neuen Medikamenten zu fragen ist frustrierend. Sie ist selber frustriert von dem, was sie ihr "Verwirrtsein" nennt.

Myrsini anrufen wegen den Flecken auf Caesarions Nase. Cleos Husten beobachten. Bibi zum Kastrieren bringen und sein Bein verarzten lassen.

Es ist, als wäre ich kürzlich erst hier gewesen. Alles beinah zu vertraut. Ich warte darauf, dass die Magie sich offenbaren wird, nach ein paar Tagen passiert das eigentlich immer, aus einer unerwarteten Richtung. Am Abend sitze ich am Tisch und male ein paar Motive aus der Erinnerung des Tages. Die abgefieselten Fische, die Kaffeetasse, die Häuser am Busbahnhof in Kalloní, der wolkenverhangene Himmel.

Ich treffe Anna, und sie sagt mir, dass sie die Katzen "gegessen" hat - sie meint "gefüttert". Ich bedanke mich bei ihr. P hat ihr bereits das Geld gegeben. Später, als ich mit dem Fahrrad ins Dorf fahre, kommt sie mir mit ihrem Mann auf einem Moped entgegen. Wir winken uns zu und lachen.

Habe das Haus schon ein wenig wohnlicher gemacht. Meinen Koffer ausgepackt und unter das Bett gestellt. Die Katzenfutterschalen von der Terrasse aufgesammelt und abgespült. Das Klo geputzt, mit Bikarbonat und Essig. Das Fahrrad an der Tankstelle aufgepumpt. 

Ein magischer Sonnenuntergang. Auf dem Nachbargrundstück grasen jetzt Schafe. Der Schäfer stand auf dem Weg, als ich mit meinem Koffer ankam. Er fragte mich auf Griechisch, wie es mir gehe und nickte zufrieden, als ich ihm auf Griechisch antwortete, mit den richtigen Floskeln.

Wir umarmen uns nicht, sagte Mary. Es ist wegen dem Virus.


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