Samstag, 21. März 2020

Covid-19-Alltag auf Lesbos XI (17. März)


Abends: Agnes ist gerade mutig. Hält sich in der Nähe der offenen Tür auf und kann es nicht sein lassen, sich immer wieder ein paar Schritte ins Haus hinein zu bewegen. Dabei hat sie den Sicherheitsabstand zu mir etwas verringert. Reibt sich an der Tür, legt sich kurz auf den Fußabstreifer. Die Neugier treibt sie. Die anderen drei liegen bräsig auf dem Bett herum. Punxy verlässt das Haus fast nie und lebt ihre Energie aus, indem sie Flaschenkorken auf dem Fliesenboden vor sich hertreibt, mit dem Teppich kämpft und wie der Blitz die Leiter hochrennt.

Am Abend kam wieder ein Risiko-Alert auf dem Handy, mit einem unheilvollen Signal. Möglichst das Haus nicht verlassen, nur zu den nötigsten Besorgungen. Abstand zu Menschenansammlungen bewahren. Besondere Rücksicht auf Angehörige der Risikogruppen. Ch will mich nächste Woche zum Essen zu sich einladen. Bin ich ein Risiko für sie oder sie für mich? P erzählt, dass ihre Konferenz morgen via Internet stattfindet. Die Gymnasien und Universitäten in Schweden sind ab nächster Woche geschlossen. Die Grundschulen bleiben geöffnet, wegen des Betreuungsproblems.

Deutschland holt seine Bürger jetzt nach Hause, aber das hier ist ja auch mein Zuhause, und noch will ich nicht weg von hier. Nach meiner ersten Planung würde ich übermorgen nach Hause fliegen. Die Zeit erscheint jetzt viel länger - es ist so viel passiert. Wie wird es sein, wenn ich in eineinhalb Monaten nach Hause fahre? Die einzige Sorge, die ich habe, ist, dass es auch dann nicht möglich sein wird.

Habe heute mein erstes Brot mit Weizensauerteig gebacken. Es ist ganz offensichtlich gelungen, nur das Backpapier ist am Brotlaib festgeklebt. Ich versuchte, es ihn mit Hilfe von Wasser abzulösen, aber es schien fest mit dem Brot verbunden zu sein.

Mein Abendessen war heute getoastetes Brot mit Olivenöl, Ladotiri, Gurkenscheiben und Oliven, dazu Retsina. Auch die Gurken schmecken hier viel besser als zu Hause. Morgen möchte ich einen Olivenvorrat kaufen und einen Weiß- und einen Rotkohl. Noch eine Packung Espresso, eine Spülbürste. Mehr Mehl.

Gestern entdeckte ich, dass mein Batterieladegerät nicht mehr funktioniert. Solche Kleinigkeiten bringen mich aus dem Konzept. Wie lange kann ich mein schwedisches Handyabonnement außerhalb von Schweden benutzen? U und I haben mir heute den Teepavillon aufgeschlossen. Dort kann ich rund um die Uhr ihr Wifi benützen und es mir dabei gemütlich machen, vielleicht sogar einmal abends einen Film anschauen. Ich habe so viele Erinnerungen an dieses Gelände, zu den verschiedensten Jahreszeiten. Manchmal war ich hier ganz allein, so dass ich über den Zaun klettern musste, um mein Wasser zu holen, oft war ich hier mit Gruppen, um die ich mich kümmerte. Der Swimmingpool ist noch mit einem Netz bedeckt. Es ist schwer sich vorzustellen, dass hier bald wieder der Normalbetrieb anfängt.

Die Handwerker Vassilis und Giannis renovieren gerade Spitaki. Auch mit dem Häuschen verbinde ich besondere Erinnerungen - es hat eine gewisse symbolische Bedeutung für mich, dass die Wände jetzt mit neuer Farbe übertüncht werden.

Machte einen Spaziergang heute Nachmittag, hab dabei auch ziemlich Sonne abgekriegt. Ich hatte mir meinen Fotoapparat umgehängt und plante, mich im Dorf irgendwo hinzusetzen und zu malen. Fuhr mit dem Fahrrad los, ging dann Richtung Hafen, machte einen Besuch in der Kapelle am Hafeneingang, lief die ganze Hafenkante entlang und kletterte schließlich zu dem wilden Gelände hoch, auf dem sich das antike Molyvos befunden hat, mit Blick auf die Türkei über einem tiefblauen Meer. Lief auf Schafspfaden die Küste entlang, im kalten Nordwind. Wie das auf Lesbos so ist, kommt man früher oder später an einen Zaun und entweder kann man drüber klettern oder es gibt irgendein improvisiertes Gatter, das man öffnen kann. Ich lief ein wenig kreuz und quer über Wiesen, am Friedhof vorbei, der sich außerhalb des Dorfes befindet, im unkrautbewachsenen Land, und ging dann durch ein Tor, das mit einem Seil zugebunden war. Sozusagen durch die Hintertür kam ich vom Friedhof her wieder ins Dorf, das wie ausgestorben war. Zwei Jugendliche begegneten mir, einsam herumsitzende Männer, eine Frau mit ihrem Kind. Nur im kommunalen Café saß eine Gruppe Männer um einen Tisch. Zigarettenrauch stieg hoch, man konnte Stimmen hören. Der Supermarkt von Theodosos war zu, am Gitter hing Brot in einer Plastiktüte mit einem Zettel, auf den jemand "MIMI" geschrieben hatte. Die Friseurin Rajna hat ihr Schaufenster jetzt von außen verklebt. "Geschlossen" steht da, in Filzstiftschrift. Ihr Mann und einer ihrer Söhne machen vor dem Restaurant Giasas sauber. Die Post hat auch schon um 12 Uhr zugemacht. An der Tür zu einem Architekturbüro lese ich, dass niemand ohne Handschuhe und Maske das Büro betreten darf. An der Eingangstür zur Apotheke hängen große Informationsplakate zu Covid-19.

Es war mir nicht danach, mich irgendwo zum Malen hinzusetzen, also fuhr ich wieder nach Hause. Malte allmählich eine Orange und den Brotteig in der Form mit dem Backpapier. Als Gleichgewicht brauchte ich noch etwas. Eine kleine griechische Yoghurtschale stand herum und bot sich an.

Ein guter Tag. Mein Leben normalisiert sich. Ich habe heute drei Internetschreibkurse entworfen, um etwas Geld zu verdienen. Wie immer fällt es mir schwer, einen Preis festzulegen, der sich für mich gut anfühlt. Meistens bleibe ich weit darunter.

22:55, ich gehe ins Bett.


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