Freitag, 13. März 2020

Alltag auf Lesbos V (10.März)


Heute lief das Gehirn heiß. Da AM jetzt wegen Coronavirus und Flüchtlingsituation nicht nach Lesbos kommt, könnte ich länger bleiben. P und ich denken verschiedene Lösungen durch. Es darf nicht zu teuer sein. Ist es denn sinnvoll? Ist es sicher?

Die ersten Personen in Molyvos sind in Quarantäne: eine Gruppe, die aus Palästina zurückgekommen ist. Ein bestätigter covid19-Fall in Plomarion, eine Frau, die in Italien war. Ich fahre nur ins Dorf, um Lebensmittel zu kaufen, und sitze hinterher im Garten in der Sonne. Esse gebratene Champignons mit Petersilie, Spiegeleier, gekochten Broccoli, Salat. Dazu Baguette und etwas Retsina mit Sodawasser. Hinterher schlafe ich auf der Sonnenliege, eingewickelt in eine Decke. Noch später mache ich eine Skizze von der Aussicht von der Terrasse, auf der Treppe sitzend. Julia wuselt um mich rum, sucht fast aggressiv nach Nähe. Es befriedigt mich momentan, bei den Skizzen an den Details zu arbeiten. Es ist eine ruhige, meditative Arbeit.

Arbeitete morgens am Buch - es macht Fortschritte. Ich habe jetzt unter dem Dach meinen Yoga-, Meditations- und Computerraum. Auch mein Telefon lege ich dort ab, muss also immer die Leiter hochklettern, wenn ich etwas nachschauen will. Es muss doch möglich sein, meine Abhängigkeit zu überwinden.

Gestern ein magischer Nachmittagsspaziergang im Dorf. Ich begegnete niemandem. Vielleicht hatten alle sich wegen der Ankunft des Virus verbarrikadiert. Nur die  Katzen waren unterwegs. Ich hatte meinen Fotoapparat dabei und machte einige Bilder. Wenn die Menschen nicht da sind, sieht man, dass das Dorf eigentlich den Katzen gehört. Die Stille, in der sie sich aufhalten, sprang plötzlich auf mich über. Ich setzte mich auf eine Steinstufe und machte eine Skizze von der Aussicht und von einer Katze, die neben mir auf einer Steinmauer saß. Sie rührte mich an, denn sie hatte im Unterkiefer keine Zähne, was ihr ein melancholisches Aussehen gab.

Ich arbeitete gestern bis nach Mitternacht, nahm mir aber vor,dass das nicht der Normalzustand werden darf.

War heute in der Abenddämmerung bei U und I, um den Rest von unserem Olivenöl abzuholen. Begleitete zunächst U zu einer Sicherungssäule mit mehreren Stromzählern und Sicherungen ein paar Grundstücke weiter, um nachzusehen, warum der Strom in ihrem Haus ausgefallen war. Beim letzten Stromzähler, den wir prüften, fanden wir tatsächlich einen ausgelösten Sicherungsschalter und legten ihn wieder um. Dann pumpte ich Öl aus dem Kanister in leere Sodaflaschen, die ich zu dem Zweck gesammelt hatte, zu den pausenlosen kritischen Kommentaren von I, die schlechter Laune war. Es kam mir fast so vor, als würde sie mir das Öl nicht gönnen. Nach einer Weile riss sie sich sichtlich zusammen, wir verabschiedeten uns lachend. Ich war trotzdem froh, von dort wegzukommen. Die Stimmung war gespannt, auch wenn das Feuer gemütlich im Kamin prasselte.

Ich las heute weiter in dem zweiten von meinen chinesischen Krimis ("Rote Ratten"). Bin beim Lesen nicht besonders engagiert, aber doch irgendwie gut unterhalten.

Nach dem Abendessen (Brot mit Olivenöl, Ladotiri, Broccoli und Oliven) saß ich dann unter dem Dach und übte Griechisch. Ich bin neugierig, ob ich jemals in der Lage sein werde, es anzuwenden.

22:15. Rede mit meiner Mutter am Telefon, die ohne Murren jetzt den Rollator benützt. Sie ist auch sehr zufrieden mit dem Essen, das ihr jetzt jeden Tag von "Essen auf Rädern" vorbeigebracht wird. Es kommt zwischen elf und halbzwölf, und dann ist sie auch schon "sehr hungrig", so dass sie sich gleich hinsetzt und direkt aus der Aluminiumpackung isst. Hinterher wirft sie die Verpackung weg. Sie erzählt mir, dass mein Bruder ihr ein riesiges Schild an den Küchenschrank geklebt hat: "Tabletten nicht vergessen". Auch dass sie jetzt Hilfe zum Duschen und Haarewaschen bekommt, findet sie praktisch. Dass sie am Wochenende zu einem Familientreffen am Achensee fahren soll, belastet sie mehr. Sie möchte lieber zu Hause bleiben. Ich sage ihr, dass es gut ist, hin und wieder seine gewohnte Routine zu verlassen und auch, unter Menschen zu kommen. Sie stimmt mir zu.

Fertig für heute. Es ist 22:34. Zähneputzen. Bett.

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...