Sonntag, 24. November 2019

20/11

(Inzwischen bin ich schon zu Hause, möchte aber meine Skizzen von Lesbos noch vervollständigen.)

Ein zerfledderter Vormittag.

Nach dem Mittagessen treffe ich Giorgos im "Alte-Männer-Café". Er hat die Ikone dabei, ordentlich verpackt. Ich habe etwas Quittenbrot für ihn in Papier gewickelt. Er sitzt mit einem Freund an einem Tisch. Sie reden gerade über die Flüchtlinge. Wir ziehen hinaus ins Freie, damit Giorgos und ich eine rauchen können. "Ich rauche nur mit dir", sage ich. "Ah", sagt er, "ich weiß schon, wenn man nach Griechenland kommt, dann erwachen die Leidenschaften in einem, die Träume, die Phantasie. Es ist die Magie Griechenlands." Ich sage ihm, dass ich hier tatsächlich intensive, lebendige Träume habe, bloß kann ich mich nicht daran erinnern. Dann gehen wir wieder zu den Flüchtlingen über. Offensichtlich soll Moria in den nächsten Tagen geschlossen werden. Tausende von Flüchtlingen sollen ins zentrale Griechenland verfrachtet und in einer geschlossenen Anlage untergebracht werden. Diejenigen, die keine Papiere haben, sollen abgeschoben werden. Jedenfalls verstehe ich es so. Der Freund findet das richtig. In der neuen Anlage sollen 7000 Personen Platz haben. Aber momentan sind 19000 in Moria. Ich verstehe es nicht. Wie soll das alles praktisch aussehen? Giorgos erzählt seinem Freund die Beispielsgeschichte eines afghanischen Flüchtlings, um dem Argument, dass man alle Papierlosen abschieben soll, den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Der Vater des Jungen, der Imam war, wurde umgebracht, weil der Sohn aus Versehen ein paar Koranseiten verbrannt hat. Es droht dem jungen Mann der Tod, wenn er abgeschoben wird. Wie kann es sein, dass sich EU-Länder wie Ungarn und Rumänien weigern können, Flüchtlinge aufzunehmen? Irgendwas ist an der ganzen Sache schief. Erdogan spielt mit Europa, sagt der Freund. Wir müssen ihm gegenüber anders auftreten.

Als sein Freund gegangen ist, erzählt Giorgos, dass er gestern versucht hat, alle seine digitalen Bilder zu ordnen. Es hat ihn fertig gemacht. Richtige Bilder, die man in die Hand nehmen konnte, das war noch etwas anderes. Wir fotografieren heute so gedankenlos, ohne uns um die Bilder zu kümmern. Und überhaupt, die ganze digitale Kommunikation. Er erinnert sich noch an die Zeit des Briefeschreibens. Alles war mit Bedeutung aufgeladen: das Schreiben, das Warten, das Öffnen und Lesen. Heute schreibt man eine Mail oder eine Mitteilung, schickt sie ab, fertig. Er unterstreicht alles mit Gesten. Die jungen Leute können das nicht nachvollziehen, sie kennen diese Gefühle nicht mehr. Wir wissen noch, wie es sich anfühlt, in einem fremden Land aufs Postamt zu gehen und zu fragen, ob ein Brief "Poste Restante" angekommen ist. Wir kennen die Telefonzentralen, in denen man sich in eine der verrauchten Kabinen stellte, wenn man an der Reihe war, und dann hoffte, dass das Gespräch nicht zu teuer sein würde.

Ich gehe an den Strand, aber als ich den Rucksack öffne, sehe ich ein, dass ich meinen Badeanzug und das Handtuch zu Hause vergessen habe. Die Griechin mit der Schirmmütze ist grade im Wasser. Sie winkt mir zu. Ich rufe, ich habe meinen Badeanzug vergessen! Ohje! Sie sagt, geh einfach den Strand ein wenig weiter entlang, bis zur nächsten Dusche. Da kann niemand etwas sagen, wenn du ohne Badeanzug badest. Ich tue, wie sie gesagt hat. Als ich zu der nächsten Dusche komme, sehe ich ein schlappes Flüchtlingsboot an der Wasserkante schaukeln, wie ein gestrandeter Wal. Jemand hat den Motor abgenommen und gegen ein Sandmäuerchen gelehnt. Ich gehe neben dem Gummiboot ins Wasser, und als ich wieder rauskomme, ziehe ich meine Kleider an, ohne mich abzutrocknen. Das Wasser ist frisch. Ein magisches Licht liegt über dem Wasser. Ich möchte einen Orangenbaum malen, an dem ich auf dem Weg zum Strand im Hotelgarten vorbeigekommen bin. Vor ein paar Jahren habe ich hier tütenweise Orangen geerntet, die sonst nur auf den Boden fallen und verrotten. Sie duften gut, aber sie sind sauer und haben viele Kerne. Nur gut für Marmelade. Eine halbe Stunde sitze ich auf einer Steinstufe und male. Schwierig. Ich bin nicht zufrieden mit dem Ergebnis.

Sitze dann in der Dämmerung auf der Terrasse, mit einem Glas Wein und schaue zu, wie das Dorf allmählich in der Dunkelheit versinkt, wie die Lichter anfangen zu funkeln, wie die Burgbeleuchtung eingeschaltet wird und die Burg in der Dunkelheit leuchtet.

Später fahre ich noch einmal ins Dorf. Ich stelle das Fahrrad ab, gehe hoch zu Ranias Friseursalon. Das Licht ist an. Ich sehe durchs Fenster, dass sie auf ihrem Frisierstuhl sitzt und mit jemandem am Telefon spricht. Sie begrüßt mich herzlich: Küsschen auf die Wangen. Sie erzählt, dass ihre Mutter in den letzten Wochen im Krankenhaus war. Sie ist schwer krank, und es steht schlecht um sie. Ich weiß, dass die Mutter schon seit einiger Zeit Alzheimer hat. Jetzt sind andere Krankheiten dazu gekommen. Sie liegt inzwischen zu Hause im Bett, der 80jährige Vater kümmert sich um sie, wenn Rania in der Arbeit ist. Ein paar Monate hat sie vielleicht noch. Wie immer unterhalten wir uns in einem Mischmasch aus Griechisch und Englisch, mit Mimik und Gesten, manchmal verstehen wir einander überhaupt nicht, aber das macht gar nichts. Ich sage, du hast einen guten Beruf. Die Haare muss man sich auch in der Krise schneiden lassen. Zwar hat sie die Preise seit fast zehn Jahren noch nie erhöht, aber sie kann sich wenigstens einigermaßen auf ihr Einkommen verlassen. Sie sagt, sie kommt jeden Tag gern in ihren Salon. Sie hat einen winzigen Balkon, mit einer phantastischen Aussicht aufs Meer. Hier ist immer was los, sagt sie, hier kann ich atmen. In den Sommermonaten ist die Tür immer geöffnet, und jeder, der vorbeikommt, wechselt ein paar Worte mit ihr. Die Leute setzen sich vor ihren Laden, sie trinken zusammen Kaffee. Rania ist eine der wenigen verheirateten Frauen im Ort, die ihr eigenes Geschäft haben, nicht "nur" im Familienbetrieb mitarbeiten. Ihr Mann hat ein Restaurant, ein Sohn hat ein winziges Café, der andere Sohn hilft im Restaurant mit. Ich sage, das Beste an ihrem Beruf ist, dass die Menschen sich besser fühlen, wenn sie bei ihr gewesen sind. So wie ich heute. Sie verabschiedet mich mit herzlichen Worten, wie immer. Küsschen. Eine neue Kundin ist schon gekommen.

Esse im Gyros Grill einen Veggieburger, radle dann nach Hause. Müde. Ich habe schon den Tierarztbesuch für morgen vorbereitet. Der Käfig steht im Zimmer. Ich will nicht riskieren, dass Punxy am Vormittag verschwindet und dann den ganzen Tag wegbleibt, so wie heute. Also behalte ich sie im Haus. Das bedeutet, dass ich mit ihr eingesperrt sein werde, den ganzen Vormittag lang.

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