Freitag, 3. Juli 2020

17. Juni -

2020/06/17 11:04

Entscheidungen stehen an. Ich habe gestern Flugtickets gegoogelt, auf dem Dach des Pumpenhäuschens sitzend, während Bibi neben mir saß und lautstark bekundete, dass er gestreichelt werden wollte. Eine Sache ist sicher: Der Zahn muss gemacht werden. Und zwar vor Oktober, da dann die alte Versicherungsperiode endet. Muss meine Zahnärztin anrufen, einen Zeitplan machen.

P befürchtet, dass keine von uns auf die Insel zurückkommen kann, wenn ich von hier wegfahre. Sie ist inzwischen bereit, den Workshop in Südschweden allein durchzuführen. Habe Angst, von hier wegzufahren, vereinnahmt zu werden von meinem schwedischen Leben. Möchte die Katzen nicht sich selber überlassen, bevor Touristen auf der Insel sind. Denke aber auch an praktische Dinge: Mein Aufenthaltsstatus in Schweden. Die Zahnbehandlung. Meine Gesundheitschecks. Ich lebe hier billig, weil ich außer Lebensmitteln nichts kaufe, aber ich kann auch einige Dinge nicht kaufen, die ich dringend bräuchte. Nach über vier Wochen sind die Aquarellfarben immer noch nicht angekommen. P hat jetzt meine Wohnung für eine Woche vermietet, an eine Frau aus Stockholm. Das bezahlt schon mal die halbe Junimiete.

Lese in der New York Times von einer Studie, die zu dem Schluss kommt, dass Toiletten beim Spülen den Virus in die Luft wirbeln können. Am besten vor dem Spülen den Deckel schließen. Schreibe es P. Sie findet es "überdramatisch". Sie liest gerade den Bericht von Pepys, geschrieben zu Pestzeiten im 17.Jahrhundert. Pepys ist auch nicht krank geworden. Ja, und?

Gestern eine Vision. Eigentlich bin ich eine Geschichtensammlerin. Ich habe keine eigenen Geschichten zu erzählen, aber die Geschichten der anderen interessieren mich. Mit P entwerfe ich ein Konzept. Die Insel per Bus erforschen. Bus ist hier das beste Fortbewegungsmittel, weil es einen zu Langsamkeit, zu Pausen, verdammt. In den Leerzeiten geschieht oft etwas, kommt es zu Begegnungen. Das Auto isoliert einen, macht einen hektisch. Kaum ist man wo angekommen, will man schon wieder weiter. Ich könnte aber auch ganz einfach in Molyvos anfangen. Geschichten ereignen sind, wenn sonst nichts passiert.

Das Dorf macht einen traurigeren Eindruck jetzt, wo viele Geschäfte (die ihr Angebot ganz eindeutig an Touristen richten) geöffnet haben. Wer soll all diesen Krimskrams kaufen? T-Shirts mit "lustigen" Aufdrucken (Made in China)? Badetücher. Schmuck. Sonnenhüte. Keramik mit der Aufschrift "Lesvos", Badeschuhe? Die Besitzer sitzen müde vor ihren geöffneten Läden im Schatten.

Es gibt am Kreuzungspunkt der zwei Hauptwege im Ort einen schönen Laden, der griechische Qualitätsprodukte verkauft (Lebensmittel, Kosmetik, Keramik). Der Besitzer, auch ein Giorgos, spricht etwas Schwedisch und natürlich Englisch. In den besucherarmen Monaten des Jahres sitzt er oft vor seinem Geschäft an einem kleinen improvisierten Tisch, raucht und unterhält sich mit anderen Dorfbewohnern. In den Wintermonaten, wenn der Laden geschlossen ist, kommt er mindestens einmal am Tag, um die streunenden Katzen zu füttern. Er stellt ihnen Wasser hin und füllt einen großen Plastikbehälter mit Trockenfutter.

Vor einigen Wochen sah ich ihn mit einer langen Stange aus Holz, an deren einen Spitze er einen gebogenen Nagel angebracht hatte, herumgehen. Er war damit beschäftigt, den Blauregen, der sich über die gesamte Einkaufspassage rankt und der in den Frühlingsmonaten ein magisches violett-blaues Licht verbreitet, an seinen Platz zu bringen. Neu ausgetriebene Ranken leitete er nach oben und verhakte sie in dem lebendigen "Dach".

Gestern, als ich an seinem inzwischen auch geöffneten Laden vorbei kam, sah ich, dass er eine Pappschachtel an einer Schnur nach oben unter das Blauregendach zog. Was ist das? fragte ich. Er ließ die Pappschachtel wieder herunter und klappte sie ganz auf, so dass ich ein Amseljunges sehen konnte, das dort zitternd kauerte. Es ist verletzt, sagte er. Abends nehme ich es mit nach Hause. Tagsüber ist es hier. Auf dem kleinen Tisch lagen ein paar Getreidekörner. Er hatte den Vogel wohl gerade gefüttert.

Ich dachte an das Amseljunge, das ich kurz vorher auf einem Nachbargrundstück gesehen hatte. Ich war mir nicht sicher gewesen, hatte aber den Eindruck gehabt, dass es verletzt war. Jetzt fühlte ich mich schlecht, weil ich mich nicht darum gekümmert hatte, weil ich sofort aufgegeben hatte. Als Kind nahmen wir manchmal ein verletztes Vogeljunges nach Hause und versuchten, sie aufzupäppeln. Aber wir schafften es nie. Wird er überleben? fragte ich. Ich glaube schon, sagte Giorgos. Er frisst jedenfalls.

Nichtstun macht uns hellhöriger, mitfühlender, dachte ich. Das Leben, dem angeblich alle hinterherrennen, ein urbanes Leben mit einem gut bezahlten Job, tollen Sachen und pausenlosen Vergnügungen, macht uns abgestumpft, selbstbezogen. Ein gerettetes Amseljunges bedeutet vielleicht eine gerettete Welt. Vielleicht.

Mitten in alldem kämpfe ich auch einen Kampf um den Kompost, der in der letzten Zeit angefangen hat, erbärmlich zu stinken. Ich habe ihn wochenlang nur mit Essensabfällen gefüttert, weil ich die Gartenabfälle in Säcken fülle und wegbringe. Das war ein Fehler. Irgendwann sah ich, dass die Wände der Komposttonne von dicken weißen Würmern (oder Maden?) bedeckt waren, zusätzlich zu den winzigen kleinen Würmern, von denen ich immer dachte, dass es "Kompostwürmer" sind. Nach ein wenig Googeln bin ich jetzt nicht mehr so sicher. Die kleinen weißen Dinger scheinen Fliegenmaden zu sein. Die großen Dinger auch, aber von dicken Fliegen. Ich lese, dass man die Maden herausklauben und an Vögel verfüttern soll, aber als ich versuche, mich ihnen zu nähern, lassen sie sich sofort in die Tonne fallen. Im Kampf gegen den Gestank habe ich nun den Kompost gewendet, und dadurch landeten die dicken weißen Maden ganz unten. Mal sehen, was jetzt passiert.

Auf Instagram sehe ich einen Film einer Frau, die winziges nacktes Mausbaby füttert, mit Hilfe eines winzigen Pinsels, den sie in Milch getaucht hat. Mein Cousin, der in Kanada lebt, erklärt auf seinem Instagram-Konto den Leuten, die Probleme mit seiner Jagdleidenschaft haben, dass er die Bären, die er schießt, komplett verwertet. Bärenwurst, Bärenfleisch, und was man sonst noch aus Bären so alles machen kann. Meine Meinung: Besser Jagd als Massentierhaltung. Aber den Triumph der Jäger, die ihre Opfer auf eine perverse Art sogar zu lieben scheinen, kann ich nicht nachvollziehen. Xenophanes war 400 v.Ch. der Ansicht, dass Jagd den Charakter schult, abgesehen davon, dass es der Gesundheit zuträglich sei.


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