Freitag, 3. Juli 2020

15. Juni -

2020/06/15 07:10

Ich stellte den Wecker gestern wieder aus und hatte schon beschlossen, nach Petra zu radeln, wachte aber dann von selbst um fünf auf. Nach einigem Hin und Her und einem halbherzigen Versuch, wieder einzuschlafen, stand ich kurz vor sechs auf und ging in die Dusche. Kochte Kaffee. Aß Brot mit Tahini und Honig. Stellte mich ganz einfach auf "Arbeitsmodus" ein. Als würde ich zur Arbeit fahren, egal, ob ich genug geschlafen habe oder nicht. Die wunderbar warmgelbe Morgensonne. Caesarion lag auf der Sonnenliege. Ich ließ das Fahrrad den Abhang hinunterlaufen, dann fiel mir ein, dass ich meine Kreditkarte vergessen hatte. Also wieder umgekehrt, den Abhang hoch, Tür aufgeschlossen. Nein, ich hatte die Kreditkarte doch dabei. Also in voller Fahrt zur Bushaltestelle, wo ein verschlafener Busfahrer schon wartete. Es ist still im Bus, bis auf die penetrant gut gelaunten Stimmen von zwei Radiosprechern, die sich schier überschlagen und gegenseitig ins Wort fallen.

Heute ist kein Abstand mehr angesagt im Bus. Auch der Busfahrer trägt keinen Mundschutz mehr. Ich bin froh um meinen Ausländerstatus und darum, dass mein Mundschutz so farbenfroh ist. Der junge Mann in der Sitzreihe vor mir bekreuzigt sich, als wir an einer Kapelle vorbei fahren. Ich erlebe die Strecke jetzt ganz anders, weil ich sie schon einmal mit dem Fahrrad gefahren bin. Mit dem Bus dauert es eine halbe Stunde von Molyvos nach Kalloní, mit dem Fahrrad zwei Stunden.

Heute morgen dachte ich plötzlich (in einem Gedankengang, in dem es um meine Mutter ging), es ist völlig unbegreiflich, dass wir uns so sehr vor dem Tod fürchten, obwohl wir doch ständig sterben und heute nicht mehr dieselben sind wie gestern oder vor einem Jahr oder noch vor einer Stunde. Diese Illusion, dass wir unser Ego sind, eine Art Container, angefüllt mit Erinnerungen an "unser Leben", das wir als unveränderliche Einheit bereits durchlaufen haben und noch durchlaufen werden und das mit unserem Tod "endet". Ständig fürchten wir die unvermeidliche Veränderung, das Vergehen der Zeit. Als Resultat taumeln wir halb bewusstlos durch die Tage und Jahre. Zeit ängstigt uns, weil wir sie als Tatsache begreifen und nicht als ein Konstrukt.

Was, wenn ich nicht mehr bin? Ist der Tisch dann noch ein Tisch? Oder ist er vielleicht nie ein Tisch gewesen, hat er nie als solcher existiert?

22:02

Da die meisten Geschäfte noch geschlossen waren, als der Bus vor acht Uhr schon in Kalloní ankam, machte ich einen Spaziergang aus dem Ort hinaus, in der vagen Hoffnung, vielleicht nach Skala Kalloní zu kommen, das am Meer liegt. Es ging mir im Kopf rum, dass der Busfahrer gesagt hatte, der nächste Bus werde erst um 14 Uhr zurückfahren. Ich hatte sowieso schon so viel Zeit totzuschlagen, selbst, wenn der Bus um 12 ginge wie üblicherweise.

Eigentlich musste ich nur Katzenfutter kaufen. Außerdem wollte ich im Supermarkt schauen, ob ich irgendwas billiger kriegen könnte als in Molyvos, so dass die Fahrt sich gelohnt hätte. Vielleicht mich irgendwohin setzen, etwas zeichnen. Honig holen, bei dem kleinen Verkaufsstand eines Imkerhofs vor dem Ort, neben der Abzweigung nach Eressos, wo ich auch bei meinem letzten Besuch ein großes Glas gekauft hatte.  

Da sah ich die Katze. Erst dachte ich, jemand hätte sie aus Versehen eingesperrt, ein Bauarbeiter vielleicht. Sie war in einer Art Ladenlokal im Souterrain eines größeren Wohnblocks, hatte sich hinter der Glastür aufgerichtet und schaute mich an, mit einem Blick, der mir flehentlich erschien. Ich ging näher. Plötzlich tauchten am Fenster noch mehr Katzenköpfe auf, alle mit dem gleichen flehenden Katzenblick. Ich spähte hinein. Was ich da sah, ließ mich an Fritzls Keller denken. Es waren Futterschalen im Raum verteilt. Kleine Bettchen standen da, mit Decken ausgepolstert. Jemand hatte die Katzen hier eingesperrt, auf ungefähr zehn oder zwölf Quadratmeter Fläche, und fütterte sie. Ich hatte sofort den Wunsch zu weinen. Aber was konnte ich tun? Ich ging weiter.

Während des restlichen Spaziergangs überlegte ich verschiedene Alternativen. Die "Tierfreunde Lesbos" kontaktieren. Zur Polizei gehen. Aber was sollte ich sagen? Katzen in einem Raum eingesperrt? Ich wusste ja nichts über den Kontext. Vielleicht war jemand verreist und hatte seine Katzen hier zeitweilig untergebracht. Vielleicht war jemand nur kurz weg, und die Katzen machten einen auf "eingesperrt". Vielleicht gab es wirklich jemanden, der Katzen auf eine kranke Weise liebte und sie deshalb hier aufbewahrte.

Ich versuchte, den Gedanken an die Katzen aus meinem Kopf zu vertreiben. Kam nach einer Weile an einem Pferd vorbei, das in einem Mini-Schuppen eingesperrt war. Nur der Kopf schaute heraus, mit tieftraurigen Augen. Ich dachte, ich halte das nicht mehr aus. Was fällt uns Menschen eigentlich ein, den Lebensbereich der Tiere so zu beschränken, uns über sie zu erheben, sie für unsere Zwecke zu benützen? Dann wieder dachte ich an meine eigenen Katzen, die auch immer auf dem Fensterbrett in der Küche sitzen und auf den Hof schauen, wenn ich nicht zuhause bin. Ich würde nie auf den Gedanken kommen, dass es ihnen schlecht damit geht. Oder die Katzen hier auf Lesbos, die oft stundenlang im Haus eingesperrt sind, wenn ich mal länger weg bin und sie nicht rausgeschmissen habe, weil sie gerade schliefen. Ohne die Geschichte zu kennen, konnte ich die Situation der Katzen nicht beurteilen.

Es fing an heiß zu werden. Ich kehrte um, ohne das Meer gesehen zu haben. Machte einige Fotos von Häusern, die ich später zeichnen wollte. Überlegte, wie ich es verhindern könnte, wieder an dem Haus mit den Katzen vorbei zu kommen, aber es gab keine Alternative. Diesmal standen drei Katzen nebeneinander vor der Glastür und schauten mich unverwandt an. Man sah nur ihre Köpfe. Es sah eigentlich süß aus. Unter anderen Umständen wäre man versucht gewesen, ein Foto zu machen. Eine vierte Katze war auf eine Platte gesprungen, die offensichtlich das große Fenster etwas abdecken sollte. Ich beschloss, zurück zu  dem Möbelgeschäft zu gehen, an dem ich gerade vorbeigekommen war, und den Besitzer zu fragen, ob er etwas über die Katzen wisse. Da hörte ich plötzlich eine Stimme. Jemand kam die Außentreppe herunter, mit einer Katzenbox in der Hand, eine Frau in den Sechzigern, mit blond gefärbtem Haar. Sie lächelte mich an. "Oi gates", sagte ich und deutete auf das Schaufenster, vor dem die Katzen sich jetzt drängten. Die Katzen. Sind das Ihre? Was machen Sie mit den Katzen? Sie winkte mich zu sich, mit einem breiten Lächeln. Erklärte dann (auf Griechisch, untermalt von Gesten), dass die Katzen (es sind vier) in dem Ladenraum schlafen, dass sie sie am Morgen holt und in ihre Wohnung bringt. Dort können sie herumlaufen und spielen. Den Ladenraum macht sie jeden Tag sauber, am Abend kommen die Katzen wieder hinein. Ich blickte noch einmal am Haus hoch und sah, dass die Terrasse, von der sie gekommen war, mit einem Netz gesichert war. Der Katzentransport war offensichtlich ein kompliziertes Unterfangen. Eine nach der anderen werde sie die Katzen jetzt in die Box stecken und nach oben tragen. Natürlich musste sie aufpassen, dass keine durch die Tür entwischte. Da sie Probleme mit dem Rücken habe, könne sie nur noch eine Katze auf einmal tragen. Soll ich Ihnen helfen? fragte ich (auf Griechisch) und langte schon nach dem Griff der Katzenbox. Das sei nicht nötig, beharrte sie. Ihr Mann sei heute zu Hause. Sie habe so viele  Katzen hier sterben sehen, überfahren, vor dem Haus, das habe sie nicht mehr ertragen. Sie legte die Hand auf ihr Herz. Ich konnte sie verstehen. Im Grunde versuchen wir nur, uns selber vor unserem Schmerz zu schützen. Ich verabschiedete mich dann, ging weiter, voller Traurigkeit wegen der Einsicht, dass wir das, was wir lieben, gerne einsperren wollen. Wie geht es den Katzen damit? Keine Ahnung. Auf der Straße vor den Müllcontainern sitzen, verdreckt und ständig hungrig, ist auch kein tolles Leben. Macht es diesen Katzen was aus? Keine Ahnung.

Bei "Agrotiki Stegi" schlenderte ich ein wenig durch die Regale, schaute mir Siebe an, Schraubgläser, Milchpumpen und Pferdesattel und andere interessante Dinge. In der Gartenabteilung stieß ich auf den Wurzelstecher, dessen Preis bei meinem letzten Besuch an der Kasse so langwierig ermittelt worden war. Da bezahlte ich 8,50. Jetzt sah ich auf dem Preisschild, dass sie eigentlich 2,50 kosten. Diesen bitteren Nachgeschmack erstmal herunterschlucken. Ich beruhigte mich damit, dass die Nüsse, die ich gerade im Extrapack im Supermarkt gekauft hatte, diesen Verlust wieder wettmachten. So funktioniere ich.

Das Katzenfutterregal gähnte leer. Oh je. Nur wegen  dem Katzenfutter habe ich den Aufwand dieses Ausflugs auf mich genommen, und dann ist es ausverkauft! Gibt es denn so viele Katzen mit Blasengrieß auf dieser Insel? Ich fragte einen jungen Angestellten, der sich nur widerwillig auf mich einließ, weil er gezwungen war, auf Englisch zu kommunizieren, der mir aber dann zwei Pakete vom gewünschten Futter von einem Regal auf der anderen Seite des Gangs reichte. Natürlich. Da habe ich es das letzte Mal auch genommen. Alles gut. Ich bedankte mich überschwänglich, er zog sich schnell zurück. Ich nahm noch eine kleine Tüte einer billigeren Variante Blasenfutter mit, um zu sehen, wie es ankommt. In der Tierarztpraxis hatten sie gesagt, dass ich nach einiger Zeit auf das billigere Futter umsteigen könnte. Die sieben Kilo des teuren Futters werden allerdings jetzt erstmal ein paar Wochen herhalten.

Nachdem ich meine Erledigungen abgeschlossen hatte, ging ich schließlich gegen halbzwölf zum Busbahnhof und setzte ich mich ins "Coffee Paradise", eine Kaffeebar, die eine strategisch gute Lage hat, obwohl es so ab vom Schuss ist, da alle Leute, die auf den Bus warten, dort natürlich einen Kaffee trinken. Inzwischen hatte ich die Homepage des Busunternehmens gecheckt und außerdem die Verkäuferin in der Bäckerei um die Ecke nach der Abfahrtszeit des Busses gefragt. Deshalb war ich mir ziemlich sicher, dass der Bus (wie auch sonst immer) um zwölf kommen würde. In der Kaffeebar fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach.  Zwei Uhr, antwortete eine der Barista-Frauen. (Kurzer Herzstillstand.) Warum? Sie sagte im Umdrehen etwas Undeutliches. Ich fragte nach. Sie sagte dann, wegen Corona, und fing an, mir zu erklären, was das ist (Corona, Virus, etc.). Ich sagte, ja, schon, aber wie hängt das mit dem Bus zusammen? Sie drehte sich von mir weg, wie um meine penetrante Fragerei abzuschütteln.

Was tun? Am Cafétischchen im Schatten sitzend, erledigte ich erstmal einige Steuersachen, kontrollierte mein Bankkonto, checkte meine Mails, machte eine Skizze von der Aussicht. Hier könnte ich ja ganz einfach sitzenbleiben. Ich war schon weit genug herumgelaufen heute. Hatte ein Kilo Honig und ein paar andere Sachen aus dem Supermarkt in dem einen Rucksack und über acht Kilo Katzenfutter in dem anderen. Ein alter Mann setzte sich an meinen Tisch. Wir fingen an zu reden. Er hatte fünfzehn Jahre in Venezuela gelebt und wir kauderwelschten auf Griechisch und Spanisch, obwohl ich keine der Sprachen gut beherrsche und sein Spanisch auch nicht besonders toll war. Manchmal setzte ich „Google Translate“ ein.

Worüber redet man, wenn man einander nicht verstehen kann? Die deutsche "Präsidentin" finde er gut. Eine starke, intelligente Frau. Den amerikanischen Präsident finde er nicht so gut. Das war schon einmal eine gute Grundlage für unser Gespräch. Den jetzigen griechischen Premierminister möge er auch nicht. Der habe keine Ahnung vom Leben der armen Leute, habe immer nur in reichen Kreisen verkehrt. Er zeigte mir ein Bild in seinem Geldbeutel. von sich selbst, als er 32 Jahre alt war (jetzt sei er 74). Als er in Venezuela war, habe er so ausgesehen. Normalerweise haben die Leute Bilder von ihren Kindern im Geldbeutel. Er trug sich selber mit sich herum, wie einen Schatz. Damals war ich stark, sagte er, er plusterte sich etwas auf und ballte die Fäuste, um das zu illustrieren. Nach 50 geht es bergab. Er wollte wissen, wie alt Angela Merkel sei. 63, sagte ich. Und ich? 58, sagte ich. Ob ich verheiratet sei. Ich deutete auf den Ring an meinem Finger. Dann erfand ich, auf seine Fragen hin, ein Privatleben. Einen Mann, zwei erwachsene Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Ich habe es manchmal einfach satt, mitleidige Blicke zu bekommen, wenn ich sage, dass ich keine Kinder habe. Er hatte zwei Töchter, erwachsen, natürlich. Erzählte etwas von dem Geschäft, das er in Venezuela hatte. Ein "europäisches" Geschäft. Ich verstand nicht genau, was er damit meinte. Aber Venezuela war dann doch nicht so gut. Die Frauen dort übrigens sehr schön, aber flatterhaft (von einem Mann zum nächsten flatternd). Er kam gerade vom Augenarzt. In einem kleinen Täschchen hatte er alle Papier mit sich. Die Leute da drüben (ungefähr drei oder vier Meter entfernt) kann ich zwar sehen, aber nur verschwommen, sagte er. Ich dachte an grauen Star. Fragte, kann man es nicht operieren?, verstand aber nicht, was er antwortete. Ich erzählte von meiner Mutter, die an beiden Augen operiert worden ist und jetzt wieder gut sieht. 85, zeichnete ich auf den Tisch. Mit was er hier auf der Insel gearbeitet hat? Alles Mögliche. "Weinbau" verstand ich. Er lebt in Antissa, etwas außerhalb, Richtung Meer. Ich erzählte, dass ich in Antissa einmal zu Mittag gegessen habe, in einer Taverne auf der Agora, unter einer Platane. Die Platane kannte er natürlich. Sie ist schön, ja. Ich wollte etwas von Orpheus sagen, dessen Kopf bei Antissa angeschwemmt wurde und dessen Gesang man dort heute noch am Wasser hören kann, aber es war mir dann doch zu kompliziert. Wir waren wohl beide erleichtert, als der Bus kam, seiner zuerst, meiner etwas später. Ich bedankte mich bei ihm für die Gesellschaft, er erwiderte meinen Dank. Kurz ein fremdes Leben berührt.



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