Mittwoch, 29. April 2020

XXXIX - (27.April)


2020/04/27 20:28

Eine andere Einstellung zu meinen Aufzeichnungen finden. Ich hechele nur den "Ereignissen" hinterher, in einem ereignislosen Leben.

Erwachte aus einem Traum heute morgen, nachdem ich wieder eingeschlafen war, obwohl draußen schon die Sonne hell schien. Agnes war mit dem knallroten Anorak von P weggelaufen. Er war irgendwie auf ihr gelandet, wie ein Schildkrötenpanzer. Ich lief hinterher, einen Abhang hinunter, aber als ich ankam, sagte eine Frau, die dort in einer Gruppe mit anderen Frauen stand, sie habe den Anorak schon an einen Jungen gegeben, der ihn haben wollte, weil er (der Anorak) ja besitzerlos war. Sie hatte aber Verständnis für meine Situation. Ich weiß nicht, wie und warum, aber ich schlief neben ihr ein, so wie ich auch in meinem Bett einschlief, von der Müdigkeit überwältigt, und hoffte auf irgendeine Lösung des Problems, vielleicht darauf, dass der Junge wieder zurückkäme. Der Anorak kommt aus Finnland, erzählte ich ihr noch, als tue das etwas zur Sache. 

Beschloss am Wochenende, das Bibliotheksbuch, das inzwischen schon über einen Monat verspätet ist (die Bibliothek erlässt mir die Gebühren aber) mit der Post zurückzuschicken. Gedichte von Mary Oliver. Ging also zum ersten Mal seit vier Wochen den Weg hoch ins Dorf. Als ich die Postfiliale betrat, kam ich mir vor wie das Ereignis des Tages, so herzlich empfangen wurde ich. Ich kaufte einen Briefumschlag (fakelós), steckte das Buch (biblío) hinein und bezahlte dann horrende 14 Euro für den Versand. Wie lange es dauern wird? Vier bis fünf Tage, sagte die Frau hinter der Glasscheibe. Ich glaubte erst, sie sei dabei, "Wochen" zu sagen. Der Brief von P ist immer noch nicht angekommen, ich habe keine Ahnung, wie viele Wochen er jetzt schon unterwegs ist.

Das Traurige an der Buch-Geschichte ist, dass ich die Gedichte nicht (oder kaum) gelesen habe. Sie hätten eine innere Ruhe erfordert, die ich nicht gehabt habe. Jedes Mal, wenn mein Blick darauf fiel, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Deshalb scheint mir das Geld für das Porto dann doch eine gute Investition in meinen Seelenfrieden zu sein. Eine Quittung bekam ich natürlich nicht, vergaß auch, danach zu fragen.

Seit gestern gehe ich jeden Tag einmal im Meer baden. Es ist gut, einen weiteren festen Termin zu haben: Fünf Uhr nachmittags. Stelle das Fahrrad neben dem Hotel Delphinia ab und laufe dann durch den Park zum Strand. Ein noch aus dem letzten Jahr wohlbekanntes Ritual. Ziehe mich um und balanciere über die Steine ins frische Wasser hinein. Gestern wie auch heute waren ein paar junge Leute da, die nebeneinander auf ihren Badehandtüchern lagen. Ich blieb hinterher ein wenig auf einem Mäuerchen sitzen und las in dem Roman "Die Carreta" von B.Traven. Eigentlich weniger ein Roman als eine soziale Kampfschrift. Man wird wirklich vom Ekel gegen die westliche Zivilisation erfasst, die auf Ungerechtigkeit, Brutalität, Verlogenheit, Heuchelei gebaut ist.

Gestern widmete ich viele Stunden der Aufnahme und hinterher dem entnervenden Hochladen von Tänzen für den neuen Workshop. Zwischendurch geisterte ich auf dem leeren Seminargelände herum, in Fenster spähend, Türen zu den leerstehenden Zimmern öffnend. Ich betrat den Romawagen, in dem P und ich wohnten, als wir zum ersten Mal gemeinsam hier waren. Die Tür stand weit offen, wegen Arbeiten im Badezimmer, sonst hätte ich mich nicht getraut, hineinzugehen. Es gibt ein Foto von mir, mit dem Akkordeon (und einer Schildmütze, die ich schmerzlich vermisse) auf der Treppe sitzend. Prüfend machte ich ein paar Schritte im Labyrinth, hatte aber keine Geduld, es ganz abzugehen, und kehrte wieder um. Ging dann die Treppe hinunter zum Erdtempel, der auch offen war. Der große Bergkristall, der sonst immer in der Mitte stand, ist noch in ein Geschirrtuch eingewickelt und liegt in einer Kiste auf der Bank. Die Dachöffnung ist mit einer großen Plastikscheibe bedeckt.

Wenn ich das Haus putze, muss ich immer an Thoreaus Beschreibung denken, wie er in seiner Hütte in Walden einmal in der Woche alles vor die Tür stellte und dann das Haus ausfegte. Ungefähr so mache ich es auch und trage alle Möbelstücke, eins nach dem anderen, auf die Terrasse. Außer dem allgemeinen Hausputz suche ich mir außerdem jede Woche  ein paar Stellen im Haus für gründlichere Prozeduren aus. Dieses Mal bürstete ich die Fugen zwischen den Fliesen mit Bikarbonat, putzte die Fenster mit Essig-Spülmittel-Wasser, staubte das Regal ab, das über dem Bett entlangläuft. Die Bücher, die Teller, die Bilder, die ganze lebendige, vielfältige Geschichte, die dieser Ort für uns inzwischen angesammelt hat.

Heute Morgen, als ich aufwachte, war ich mir plötzlich ganz klar des Augenblicks bewusst, hörte das Singen der Vögel mit einer nie dagewesenen Klarheit. Es wurde so deutlich, dass ich sonst jeden Augenblick mit Ungeduld erlebe, als eine Projektion auf die Zukunft (oder die Vergangenheit).

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...