Sonntag, 14. Juni 2020

LXI - 2.Juni

2020/06/02 17:20

Je länger ich hier bin, desto mehr werde ich ein Teil des Dorfs. Kenne die Wege, erkenne die Leute wieder, sehe, in welchem Haus sie wohnen. Heute ein seltsames Gefühl von Normalität. Restaurants und Cafés haben geöffnet. (Fast) niemand trägt einen Mundschutz, ich selber muss mich dazu überwinden. Als ich Theodos frage, ob der Virus jetzt auf magische Weise verschwunden ist, kommt er nicht dazu zu antworten, denn seine Frau, die heute im Laden ist, möchte unbedingt das Rezept für das Brot haben, das ich ihm vor ein paar Wochen gebracht habe. In höchsten Tönen spricht sie von meinem Brot. Möchte wissen, was die kleinen „Nüsschen“ im Teig waren. Sonnenblumenkerne. Wir stehen vor dem Mehlregal, und ich zeige ihr, welches Mehl ich verwendet habe. Dann versuche ich, ihr das Rezept zu erklären, aber es ist zu viel Information auf einmal. Schlage vor, dass sie eine Portion Sauerteig bekommen kann. Erfreut nimmt sie mein Angebot an.

Heute ist #blackouttuesday, d.h. das einzige Bild, das man heute auf Instagram und anderen sozialen Medien postet, um seine Solidarität mit Black Lives Matter auszudrücken, ist ein tiefschwarzes Viereck. Es war gar nicht so leicht, das zustande zu bringen. Nach einigem Hin und her habe ich das Kameraauge meines Iphones an die Rückwand meines schwarzen Rucksacks gelegt, den Timer eingestellt und den Rucksack zugemacht.

Wieder im Postamt. Die Postsäcke wurden gerade geliefert, als ich ankam, man schlug mir also vor, dass ich in einer Stunde wiederkommen sollte. In ergriff die Gelegenheit beim Schopf und ging zur Polizei. Zigarettenrauch schlug mir entgegen, als ich das heruntergekommene Haus am Dorfrand betrat. Zwei Polizisten unterhielten sich in einem Büro, der eine sitzend, der andere stehend, und sie baten mich zu warten und schlossen die Tür (lehnten sie an), damit ich sie nicht belauschen konnte. Ich hatte also etwas Zeit, mich im Eingangsbereich umzuschauen. An der Wand stand ein mitgenommen aussehendes Regal mit Fächern für alle möglichen vergilbten und von der Feuchtigkeit gewellte Formulare, an den Wänden hingen Plakate mit Aufrufen und Ermahnungen, die man auf einer Polizeiwache erwarten würde, aber auch Heiligenbilder und touristische Motive von der Insel. Durch eine offen stehende Tür konnte ich ein Regal mit Akten sehen, in handbeschriebene Dokumentensammlern aus Pappe. Ich weiß nicht, wie Polizeistationen sonst eigentlich aussehen. Hier bekam man jedenfalls nicht den Eindruck, dass man sich hier für den Fall wappnete, dass jemand mit gezogener  Pistole hereingestürmt käme. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass ich mich in einem sehr alten Film befand und hätte mich nicht gewundert, wenn das Bild schwarzweiß gewesen wäre.

Keiner der beiden anwesenden Beamten sprach englisch. Der Beamte am Schreibtisch bat mich, Platz zu nehmen. Dann rief er jemanden auf seinem Handy an, die dolmetschen sollte. Ich habe keine Ahnung, ob das ihr Job ist oder ob sie einfach eine gute Bekannte ist, die in solchen Angelegenheiten einspringt. Er stellte sein Handy laut und hielt es in meine Richtung. Als ich mein Anliegen vorgebracht hatte (bin jetzt seit drei Monaten hier und möchte wissen, ob ich im Rahmen der EU-Bestimmungen mich offiziell anmelden muss), bekam ich schnell und undramatisch die Antwort: „oxi“ - "nein". Ich weiß nicht, ob er das aus menschlichem Ermessen sagte oder ob die EU-Gesetze weniger streng sind als ich gedacht habe. Nun ja, jedenfalls verließ ich die Polizeiwache gut gelaunt. Es kommt ja nicht oft vor, dass ich im Kontakt mit Behörden nicht das Gefühl habe, dass ich vielleicht irgendwas ausgefressen habe, von dem ich noch nicht einmal weiß. Ich war auch erleichtert, weil die Frage jetzt vom Tisch war.

Im "Alte-Männer-Cafe" am Dorfeingang sah ich Giorgos wieder. "Wo bist du?", rief er. "Hier", antwortete ich und hielt an. Er deutete auf die Maske, die mir um den Hals baumelte. "Meine Maske", sagte ich. "Ich bin schließlich eine gute Deutsche." Es sollte selbstironisch klingen, und ich hoffe, dass es so ankam. "Wir müssen uns treffen und einen Kaffee zusammen trinken", sagte er. "Melde dich." Er habe schon gehört, dass ich meine Zeit hier genieße. Von wem? Giorgos (der andere Giorgos, den ich letzte Woche auf der Straße getroffen habe) hat es ihm erzählt.

Es fühlte sich seltsam an, nach dieser Begegnung nach Hause zu fahren. Es war, als wäre die Zeit, die ich hier verbracht habe, nur ein Traum gewesen, eine Einbildung. Als hätte ich Giorgos erst gestern hier im "Alte-Männer-Café" getroffen und ihm gesagt, dass ich nur zwei Wochen bleibe. "Ich bleibe noch zwei Monate", sagte ich heute. "Ohoo", antwortete er und lachte.


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