Donnerstag, 18. November 2021

Lesbos 7/11/2021

Ich kam zu Mary, als sie gerade geöffnet hatte. Ich war verwirrt, da ich gerade in einem Laden Englisch gesprochen hatte, fing an, etwas auf Englisch zu sagen, wechselte dann zu Deutsch, wieder zu Englisch, einige schwedische Wörter... Eigentlich wollte ich nur von ihr wissen, ob ich ihr meinen Impfpass zeigen sollte. Neue Regel in Griechenland.

Nein, bräuchte ich nicht.

Wir redeten übers Impfen, über alle, die noch nicht geimpft sind, dann über das Alter und dass man bei den Menschen, die man schon lange kennt, nicht daran denkt, wie alt sie sind. Ich vergesse mein Alter, sagt sie auch, und dann muss ich mich wieder daran erinnern.

Mary ist in Redelaune. Vielleicht, weil sie gestern beschlossen hat, ihre Taverne endlich zu verkaufen, also die Einrichtung, die Lizenz, den Namen, den Kundenstamm. Die Miete für das Lokal ist 700 Euro im Monat, Winter wie Sommer.

Sie setzt sich an meinen Tisch, mit Mundschutz, ich schiebe mein Buch weg, trinke ab und zu einen Schluck von meinem Bier, während sie mir von ihrem Leben erzählt. Sie hat Melodie in ihrer Stimme, Musikalität, alles, was sie sagt, klingt echt, lebendig, es ist, als lauschte ich einem griechischen Epos, in dem es um Liebe, Enttäuschung, Aufbruch, äußere Zwänge und Schicksal geht. Es ist, als wäre sie selber erstaunt von ihrer Lebenserzählung, von allem. Wie sie sich in die deutsche Geliebte ihres Mannes verliebte und die sich in sie, wie sie ihr nach Deutschland folgte, dort in einem griechischen Wirtshaus arbeitete und gleichzeitig Kunstgeschichte studierte. Die Versuche der Schwiegermutter, sie zur Rückkehr zu bewegen. "Aber ich liebe ihn nicht!", sagte Mary. "Das macht nichts", sagte die Schwiegermutter. "Du kommst zurück, ihr macht ein Kind, und du kannst das Kind lieben." Er hat später noch einmal geheiratet, eine Frau aus Finnland, die nach ein paar Jahren mit den Kindern nach Finnland ging. Er war einmal sehr reich, aber jetzt ist es nicht mehr. Sein Problem, so sagt sie, ist, dass er immer noch an der Mutterbrust hängt. Er war ein guter Mann, ist es wohl immer noch.

Es ist wegen dem Traum in der letzten Woche. Sie träumte von der Frau, wegen der sie ihn verließ, und die sie geliebt hat. Nein, es war nicht einfach mit den Frauen - sie lacht, schüttelt den Kopf, vergräbt das Gesicht in einer Geste der komischen Tragik in den Händen - aber ich habe sie mehr geliebt als die Männer. Jetzt fürchtet sie, dass der Traum der letzten Woche eine Botschaft war, dass der alten Freundin etwas passiert ist, dass sie vielleicht nicht mehr lebt. Als ich später mein Essen bezahle, greift sie wieder einmal in das Regal über ihren Kopf, nimmt eine kleine Flasche Ouzo heraus. Das kannst du am Abend trinken, sagt sie. Wir werfen uns gegenseitig Kusshände zu, ich beeile mich, nach Hause zu meinem Zoom-Meeting zu kommen. Später möchte ich ihr mit dem Telefon ein Herz schicken, aber ich habe die Nummer nicht in meinem iPhone.

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