Donnerstag, 18. November 2021

Lesbos 18/11/2021

Das Thema dieses Mal: Wandern. Nur beim Wandern lernt man Lesbos wirklich kennen, kommt der Insel näher, dem Inneren, dem Herz.

Die überall verstreut liegenden Schafsfarmen, die Männer, die darauf arbeiten, die Olivenhaine. Das Geräusch der schlagenden Stöcke gegen Äste der Olivenbäume. Die überall ausgebreiteten Netze, grün, schwarz, orange, die wie ein Patchwork über der Landschaft liegen. Die Wege jenseits der Straßen, Trampelpfade, Schafspfade. Überall die Zeichen von Arbeit, harter, physischer Arbeit, vom Kreislauf des Lebens. Das Schlagen der Olivenbäume hat etwas Meditatives, die ganze Insel ist damit beschäftigt. Fast jede Familie hat irgendwo eine Olivenbaumplantage. Sogar die Assistentin der Tierärztin, Olga, hat sich frei genommen und arbeitet im Moment nur zwei Tage in der Woche.

Die Hütten der Schäfer, die Schafsställe, kleine Kunstwerke, Upcycling-Projekte, kein Material wurde dafür neu gekauft, sondern bereits Abgelegtes wird wieder verwendet. Das sind Männer-Reiche, Frauen sind da nie zu sehen. Ein Schäfer treibt seine Schafe heim und genießt das Echo, das seine Stimme hervorruft. Das Glockengebimmel, das Geblöke der Schafe, das Gebell der Hunde, die sie begleiten. Eine Arbeit, ein Tanz, alles gleichzeitig. Verrostete, klapprige Pick-Ups, Es ist eine Welt der Arbeit und der Freiheit. Es gibt kein Nichtstun, weil die Arbeit ständig getan werden muss. Aber es gibt eine mentale Gesundheit in dieser Art der Arbeit, eine Geradlinigkeit, Ehrlichkeit. Man tut, was getan werden muss, man tut es zum Überleben. Ich dachte an die, die die Insel verlassen, um ein besseres Leben zu finden, an die, die auf die Insel kommen, weil sie das "bessere" Leben da, wo sie herkommen, satt haben. Es ist ein Kommen und Gehen, ein Austausch, die Insel ist isoliert, aber sie ist auch ein Umschlagplatz von Menschen, Leben, Schicksalen. Weit entfernt davon, eine Idylle zu sein. Die Frauen begegnen mir woanders. Die gute Seele, die täglich bei der Tierärztin vorbei schaut, aushilft, Kaffee kocht, mit den Leuten redet. Die Frau in Lafionas, die mir Toast und Saft anbietet, weil im Dorf kein Café und keine Taverne geöffnet hat, jedenfalls nicht am Tag. Es gibt nur wenige Menschen in den Dörfern, aber umso mehr Katzen. Mit Ignatia sitze ich im kahlen Raum des alten Kafeineons, sie deutet auf die Bilder an der Wand, erklärt, welche Personen darauf zu sehen sind, alles Verwandte von ihr, so scheint es, und alle tot. Mein Griechisch ist zu schlecht, um nachzufragen. Ihr Mann ist gerade in Petra im Lebensmittelladen, sagt sie, und dann zeigt sie mir ihr Haus, das gegenüber liegt, groß, in gutem Zustand, verglichen mit vielen anderen Häusern. In der kleinen Kirche steckt sie ein paar dünne Wachskerzen an und füllt Öl in die Öllämpchen. Sie hat mir ein paar Äpfel und Mandarinen als Wegzehrung mitgegeben und betont, dass die Äpfel gewaschen sind. Im Sommer ist es schön, hier zu sitzen, auf dem Platz vor der Kirche, an dem Steintisch mit den Steinbänken. Man hat von hier einen Blick bis zum Meer. Das Klima hier oben ist gut. In Petra, das am Meer liegt, ist es feucht. Sie streicht mit der Hand über ihren Arm, um mir zu zeigen, was sie meint. Zuvor habe ich auf einer Mauer gesessen, in der Sonne, ich aß ein paar Haselnüsse, die ich dabei hatte, und warf dem kleinen Hund, der mir Gesellschaft leistete, eine Nuss hin, die er auch fraß. Auf einem verrosteten Metalldeckel lag eine kleine ausgemergelte Katze und schlief mit kleinen stöhnenden Lauten. Ich versuchte, sie anzusprechen, aber sie reagierte nicht, wahrscheinlich war sie krank und hatte nicht mehr lange zu leben.

Man sieht nicht nur Schönes auf den Wanderungen über die Insel. Immer wieder angekettete Hunde, die Sehnsucht haben nach menschlichem Kontakt, sich gegen den Zaun drücken, die Schnauze durchstecken, und ich hoffe dann, dass sie nicht die ganze Zeit angekettet sind, dass ihr Mensch ihnen manchmal die Kette abnimmt. Beim Müllabladeplatz kommt mir ein verspielter Hund entgegen. Er ist hier als Wächter der Schafe eingestellt, darf aber frei herumlaufen. Ganz offensichtlich lädt er mich zum Spielen ein und läuft freudestrahlend einige Runden vom Schafsgehege auf den Weg und zurück, bietet mir dabei immer wieder an, dass ich mitmachen könnte, springt an mir hoch, lässt sich streicheln, haut dann ab ins Schafsgehege und widmet sich wieder seiner Aufgabe. Eine gut gelaunte Begegnung. Ich klaube einen Schafswirbel vom Boden auf, komme an einer weiß leuchtenden Schildkrötenschale vorbei - es sieht so aus, als wäre die Schildkröte etwas unglücklich auf dem Rücken gelandet und habe es nicht geschafft, sich wieder umzudrehen. Die improvisierten Gatter, Gitter, Absperrungen. Am Müllplatz haufenweise Material, das man abholen, neu verwerten kann. Ein Berg von ausrangierten Waschmaschinen. Eine Bierzapfanlage. Alte blaue Holzstühle, mit geflochtenem Sitz. Ich könnte Müllsammlerin werden, habe eine Anlage dazu in mir.

Die Wanderungen sind auch immer damit verbunden, dass man sich der Unsicherheit stellt, vom Weg abkommt, wieder zurück finden muss. Beim Abkommen vom Weg trifft man oft etwas Interessantes, Unerwartetes.

Ich denke an den kleinen Kater, der mir gestern Abend in der Dämmerung vor die Füße sprang, als ich auf dem Weg von Petra nach Molivos war, müde und erschöpft schon nach vielen Stunden Wanderung, aber nachdem ich ein paar Mal vergeblich versucht hatte, per Anhalter mitfahren zu können, hatte ich aufgegeben und lief einfach weiter. Der Kater also. Ich fragte mich, ob jemand ihn hier ausgesetzt, aus dem Autofenster geworfen hatte. Er war ganz zutraulich, an Menschen gewöhnt, lief mit mir mit, zwischen meinen Füßen. Ich nahm ihn hoch, er schmiegte sich an mich. Sollte ich ihn mitnehmen? Aber was, wenn er irgendjemandem hier gehörte, jemandem auf der anderen Seite der großen Straße, wenn er auf eigene Faust hier herüber gelaufen wäre? Und was würde ich mit ihm machen, wenn ich ihn nach Hause gebracht hätte? Ich setzte ihn wieder ab, ging ein paar Schritte, er folgte mir. So machten wir es eine Weile. Er schrie nicht, schien nicht hungrig, verzweifelt. Er folgte mir einfach. Ich ging ein paar Schritte, drehte mich um. Irgendwann folgte er mir nicht mehr, saß einfach da und blickte mir hinterher. Du entscheidest, sagte ich, ließ ihn da sitzen, und wusste, dass bald ein neuer Mensch vorbei kommen würde. Zuhause warteten die Katzen schon auf mich. Ich schaute einen südkoreanischen Film auf dem iPad an, eine trübe, traurige Geschichte in einem winterlichen Dorf (ein Ehepaar, das einsehen muss, dass sie gemeinsam nicht mehr glücklich sind). Der Taxifahrer, der seine Kunden nach ein paar Tagen schon vergessen hat, die gleichen Kommentare macht wie auf der Hinfahrt, die gleichen Fragen stellt. Bis die Frau darum bittet, dass er an den Straßenrand fährt. Sie steigt aus, es ist das Ende, ihr Mann folgt ihr, hinter ihnen das Taxi mit dem laufenden Motor, das Blinken der Warnlichter.

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...