Dienstag, 23. November 2021

Lesbos, 21/11/2021

 2021/11/21 21:53

Schon wieder zwei Tage vergangen. Einen weiteren südkoreanischen Film gesehen, "Move On", ein Familiendrama, Coming-of-Age, ein Film vom Bruch zwischen den Zeiten, zwischen der Moderne und der Tradition. Dazwischen das Mädchen, das sich in diesem Widersprüchlichen um sie herum selber zu finden versucht. Über den Wunsch, anderen zu gefallen, einer Norm zu gehorchen. Über die Nähe zwischen den Großeltern und den Enkelkindern, die oft einfacher ist als zwischen Eltern und Kindern. Familienstrukturen, die seltsames Verhalten in den Kindern hervorrufen. Erwachsene, die selber einmal Kinder waren und sich jetzt in einer Welt der Kompromisse eingerichtet haben, im Selbstbetrug, durch den aber immer wieder die Wahrheit durchscheint.

Nachdem ich am Tag meine eigenen Oliven eingesammelt und dann den Nachbarn J und C bei der Ernte ihrer Oliven geholfen habe, machte ich einen Spaziergang im Sonnenuntergang und ging im aufgewühlten, kalten Meer baden. Hinterher Abendessen (Rote-Bete-Salat, Linsen, ofengeröstete Kartoffeln, ein grüner Salat). Wir hatten bereits die Olivennetze bei mir ausgebreitet, und ich musste über einen kleinen Umweg zum Haus gehen, um nicht darüber zu stolpern.

Heute Morgen fing ich sofort mit dem Olivensammeln an. Später kamen J und C. Wir sammelten und sammelten, redeten und redeten, schwiegen dazwischen, machten eine Pause mit Obst und Tee und Keksen, sammelten dann weiter. Um drei Uhr beschlossen wir, es für heute gut sein zu lassen. J und C wollten ihren täglichen Spaziergang machen, und ich fuhr ans Meer, um im Sonnenuntergang zu baden. Widmete mich meinem Schreibkurs, als ich zu Hause angekommen war, schrieb ein paar Mails, und dann gingen wir zur Taverne Alonia zum Abendessen. Ich hatte sie eingeladen, als Dank für die Hilfe. Zuerst drückten wir uns vor der Olivenpresse herum und hofften, noch einen weggeworfene Olivensack zu finden, was mir tatsächlich auch gelang: einen leeren, in eine Ecke gedrückten Sack. Vor der Presse war Euro-Palette um Euro-Palette beladen mit unzähligen Olivensäcken. Sie habe noch nie so viele Olivensäcke hier gesehen, sagte C, aber wir einigten uns darauf, dass es wohl daran lag, dass heute Sonntag ist.

Setzten uns im Alonia neben den Böllerofen, weil uns kalt war, aber bald fing ich an zu glühen und musste auf den Stuhl daneben umziehen. Wir bestellten Broccoli, Blumenkohl, Rucola-Salat, Fava, weiße Bohnen, Rote Bete. Ich trank zwei Gläser Weißwein, und C und J teilten sich ein Glas süßen Wein. Dazu eine Kanne Eiswasser. Ich fragte J, warum er ausgerechnet Griechenland als seine zweite Heimat ausgewählt hat, und er erzählte eine so lange Vorgeschichte, dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, was ich ihn gefragt hatte (und er wahrscheinlich auch nicht). Währenddessen versuchte C. die Ärztin ist, im Schein des Holzfeuers über WhatsApp ihrer 85jähigren Mutter, die über Atemnot klagte, medizinische Hilfe zu leisten. Sie kommt aus Deutschland, hat es aber schon als 18-Jährige verlassen, und wir reden Englisch, selbst wenn J nicht dabei ist. Mit Hilfe des Wifi-Anschlusses lud ich zwei südkoreanische Filme auf meinen iPad.

Nach dem Essen fuhren wir die kurze Strecke mit dem Auto nach Hause. Wieder einmal wurde mir klar, wie viel intensiver mein "normales" Leben ist, ohne die Bequemlichkeiten, die andere Menschen für selbstverständlich halten. Mit dem Fahrrad in den dunklen Weg einbiegen oder ihn zu Fuß entlang zu laufen ist etwas ganz anderes als ihn mit dem Auto entlang zu fahren, geleitet vom grellen Licht der Scheinwerfer. Wenigstens das letzte Stück, den Abhang hoch, konnte ich im silbrigen Licht des Vollmonds gehen, wieder näher an mir dran.

Zu müde, um noch etwas Konstruktives zu tun, aber ich will wenigstens diese Aufzeichnungen noch fertigschreiben, auch wenn mir während des Schreibens ständig die Augen zufallen.



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