Donnerstag, 18. November 2021

Lesbos 10/11/2021

Wetterumschlag. Ein Tag der extremen Gefühle. Gefühlsumschwünge.

Morgens Yoga, Atmen. Um kurz vor zehn Cleo in die Katzenbox stecken. Auf M warten, im Sonnenfleck neben dem Sandhaufen. Mit einer laut protestierenden Cleo auf dem Hintersitz nach Petra fahren. Warten. Als wir an der Reihe sind, wehrt sich Cleo gegen die Betäubungsspritze. Dreimal müssen sie ansetzen, bis sie plötzlich kotzt, dann wegsinkt und wie tot daliegt. Der Knoten erweist sich als einer von vielen, die miteinander verbunden sind. Der Krebs ist also zurückgekommen. Die Pfote ist verletzt gewesen, jetzt aber am Abheilen. Myrsini muss Cleo mit nach Mytilini nehmen, um sie unter besseren Bedingungen operieren zu können. Sie ist aber optimistisch. Bei einer so alten Katze wächst der Krebs langsamer. Wir müssen aber trotzdem regelmäßig mit ihr vorbeikommen, um sie kontrollieren zu lassen. Als sie mich später im Auto nach Hause bringt, sagt sie, sie findet es gut, dass ich kein Auto habe. Man lebt das Leben langsamer, lässt sich mehr auf die Gegend ein, in der man sich befindet. Das stimmt. Früher sind viel mehr Menschen am Straßenrand gestanden und per Anhalter gefahren. Jetzt sieht man das nicht mehr. Jeder hat ein Auto, das isoliert uns auch voneinander. Wir waren vorher bei Wanda, bei der Myrsini elf Hunde geimpft hat. Während sie die Spritzen aufzog, redete Wanda ständig auf sie ein, wie ein Wasserfall, und immer wieder ein französisches Wort dazwischen reingeschoben. Der ganze Hof, das Haus ist auf die Tiere eingerichtet. Manchmal steht sie um sechs Uhr auf und geht um drei Uhr nachts schlafen. Myrsini versucht, ihr zu erklären, dass sie der AIDS-Epidemie in Wandas Katzengruppe nachgehen muss. Wir müssen die befallenen Tiere einschläfern. Auf keinen Fall, sagt Wanda. Sie zeigt mir eine Box mit kleinen Welpen, die in einem Beutel in Kalloní gefunden wurden und die sie jetzt mit Milchersatz aufpäppelt.

Wieder zu Hause, esse ich zu Mittag (gekochte Nudeln, mit Zwiebel Ei gebraten und ein Salat mit Broccoli). Mache mich dann an den Anas-Text und als ich fertig bin, gehe ich hinaus, um einen Spaziergang zu machen. Das Flussbett ist ausgebaggert, und nicht mehr begehbar, also muss ich eine größere Schleife machen, an der Olivenpresse vorbei durch die Olivenhaine. Treffe George mit dem langen Vollbart. Er ist dabei, seine dreißig Olivenbäume abzuernten. Ich gehe es ruhig und entspannt an, sagt er, ich habe keine Lust auf Stress. Ich komme am späten Vormittag hierher, mache viele Kaffeepausen und höre meine Musik. Für dreißig Bäume braucht er vielleicht zehn Tage. Dann hat er in der Pension noch einiges zu tun, will den Garten herrichten und die Wifi-Anlage verbessern. Hinterher fällt mir ein, was ich ihm hätte sagen sollen: Bald kann man sicher damit Werbung machen, dass das Hotel kein Wifi hat. Menschen werden sich danach sehnen, von ihren Handys Urlaub zu machen. Rede mit P nochmal über den Anas-Text. Soll ich die Kapitel umstellen?

Leider hat der Computer von selber angefangen, sich zu aktualisieren und das dauert eine gute Stunde, während derer ich an dem Bild von Marias und Folkes spanischem Zuhause sitze. Ich habe nur Angst, dass der Computer abstürzt, bevor ich dazu gekommen bin, die Datei zu übersenden. Es ist eine zähe und frustrierende Angelegenheit, da das Word-Programm sich weigert, die Datei zu öffnen. Schließlich gelingt es mir, die Datei an mich selber zu mailen und damit zu sichern (ich hatte sie bisher nur auf dem USB-Stick, aber das würde mir bei einem Computer-GAU nichts mehr nützen). Als ich endlich fertig bin und es mir dann doch gelungen ist, die Datei an den Verlag zu schicken, mache ich mich auf den Weg ins Dorf. Es ist kalt geworden, ich habe einen dicken Schal um den Hals gewunden. Mit einer Polizei-Taschenlampe leuchte ich mir den Weg vom Fahrrad. Gehe zu Theodos Frau Eli und rede etwas mir ihr, lasse mir ihre Telefonnummer geben: Lass uns einmal treffen und reden, wie normale Leute, schlage ich vor. Dass möchte ich gerne, sagt sie.

In der Tavern Mistral bin ich der einzige Gast, nachdem drei Arbeiter gegangen sind, die sich das übriggebliebene Essen in Behälter haben packen lassen. Ich esse Imam (Aubergine in Tomatensoße), frittierte Kartoffeln und trinke ein Glas Wein dazu. Ein kleiner Junge kommt herein, offensichtlich der Sohn der Besitzer, in Begleitung eines Mannes, der sein Onkel sein könnte. Alle umarmen den Jungen, sind glücklich, ihn zu sehen. Sie machen irgendwelche Scherze und lachen und blicken dann zu mir her, in der Hoffnung, ich könnte mitlachen. Auf dem Weg zum Fahrrad gehe ich in eine kleine Kapelle, deren Inneres ganz dunkel ist. Ich taste nach einer Kerze und zünde sie an. Für das Buch. Für das Leben. Für Cleo. Für alle, die Sorgen und Unruhe erleben. Bekam heute Anrufe von meiner Ärztin und von meiner Arbeitstherapeutin. Die Ärztin war kurz angebunden und säuerlich, weil ich letzte Woche den Antrag gestellt habe, zu einer anderen Gesundheitszentrale zu wechseln. Bei meiner alten ist in der letzten Zeit einfach zu Vieles schiefgegangen ist, und ich habe kein Vertrauen mehr. Sie will mir jetzt zu meinen Blutproben nichts mehr sagen, ich soll mich an meinen neuen Arzt wenden. Die Arbeitstherapeutin war herzlich und warm und wünschte mir eine gute Zeit in Griechenland.

Bei meinem Weg an der Meerbrandung entlang in der Dunkelheit wurde ich plötzlich von einem enormen Gefühlsschwall erfasst. Erleichterung, Stolz, ein Gefühl der Liebe zu Anas und dem, was wir in den letzten Jahren geschafft haben. Gleichzeitig eine Riesentrauer über Cleo und darüber, dass die Zeit mit ihr allmählich zu Ende geht. Wir reden jetzt schon darüber, dass es toll wäre, wenn sie noch zwei Jahre hätte. Das Ende ist abzusehen, der wichtigste, lebendigste Abschnitt meines/unseres Lebens. Ich redete mit Myrsini über meine Gedanken, eine der Katzen (nämlich Louis) mit nach Schweden zu nehmen. Sie riet mir ab. Er hat es hier viel besser. Das wird von jetzt mein Mantra sein, wenn ich wieder von Zweifeln heimgesucht werde. Er hat es hier besser. Hier hat er seine Freiheit, seine Wildheit und trotzdem genügend Menschen, die ihm gegenüber wohlwollend eingestellt sind.

Jetzt ins Bett. Morgen ein Tag ohne Anas-Text, ein Tag ohne Cleo. Obwohl Punxy und Caesarion neben mir auf dem Bett liegen, habe ich das Gefühl, dass Cleos Abwesenheit den Abend, das Zimmer ausfüllt.

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