Freitag, 3. Dezember 2021

Lesbos 2/12/2021

2021/12/02 18:34


Ich frage mich, warum ich nie in einen Zustand des inneren Friedens gelange. Was ich mir auch vornehme, ich werfe mir selber etwas vor die Füße (etwas wirft sich vor meine Füße, und ich muss sofort ein Drama draus machen). Mein Nachbar J sagt, dass ich die Katzen anziehe ("attract") - "because of your mindset". Ich sage ihm nicht, dass er die Probleme mit den griechischen Handwerkern anzieht - "because of your mindset", d.h., ich sage es erst viel später, und wir können drüber lachen.

Inzwischen sind schon wieder viele Probleme aufgetaucht, die sich zwar zunächst lösen ließen, sich aber dann doch aus unerwarteter Richtung wieder als Probleme formierten. Immer wieder schlaflose Stunden in den Nächten. Alle möglichen Eventualitäten werden in meinem Kopf durchgekaut. Was machst du, wenn du nicht schlafen kannst, fragte ich J. Ich rezitiere ein Mantra, antwortete er. Wir einigten uns darauf, dass es nicht das "ich" ist, das denkt, sondern der Kopf (wir benützen das englische Wort "mind". das viel besser ist). Warum gibt es für "mind" kein passendes deutsches (und auch schwedisches) Wort?

Ich habe inzwischen meinen Flug um eine Woche verschoben und eigentlich gedacht, dass ich jetzt endlich entspannen und loslassen kann, dass ich endlich frei bin, um mein volles Potential auszuschöpfen und das zu tun, weshalb ich eigentlich hier bin. Griechisch lernen, malen, schreiben, das nächste Jahr planen. Immer wieder sehe ich das Fegen, das Aufräumen, das Abspülen am Morgen als eine Zeitverschwendung an. Immer noch verplempere ich Zeit mit den Corona-Nachrichten, mit sozialen Medien, mit dem iPhone. Teufelszeug. Wegen allem kann ich mir Sorgen machen.

Die kleine Katze, die vor drei Tagen hier auftauchte, konnte ich ganz einfach nicht ihrem Schicksal überlassen. Sie war völlig ausgehungert und (das wusste ich da noch nicht) ziemlich krank. Inzwischen waren wir bei der Tierärztin, die eine Ringwurm-Infektion diagnostizierte, und wir haben eine Behandlung begonnen. Sie (ich dachte zuerst "er") war zwar der Anstoß dafür, dass ich meinen Flug um eine Woche verschoben habe, aber letztendlich habe ich es für mich getan. Ich brauche diese Zeit noch, dieses langsame Ausklingenlassen, ohne Hektik, ohne Dinge, die ich tun muss, hoffentlich ohne Tierarztbesuche und Angst um eine der Katzen, ohne Zoom-Meetings, ohne Kurse, die ich betreuen muss, sogar ohne Filme. Vielleicht könnte ich endlich mein Buch über Homer auslesen, durch das ich mich momentan nur langsam durchquäle.

Das Wetter ist unberechenbar. Erst warm, dann wieder eiskalt, dann kommt ein Wind auf, es regnet, und hinterher strahlender Sonnenschein. Das kostet manchmal Energie, lässt aber ein Gefühl von Lebendigkeit entstehen. Auch die Bilder, die ich male, sind unvorhersehbar. Oft kann ich ein Bild, das ich in einem früheren Stadium noch gut gefunden habe, einfach nicht sein lassen und verderbe es dann. Das kostet mich auch Schlaf. Ich holte heute einen riesigen Malblock vom Speicher. Caesarion bekam richtig Angst, als ich damit die Leiter herunter kam. Jetzt liegt das Monster auf dem Boden und macht MIR Angst. Die Angst vor dem leeren Blatt Papier. Die Angst vor dem Versagen. Die Angst davor, vernichtet zu werden.

Am Dienstag machte ich mit den Nachbarn eine Wanderung, wir gerieten von Sonne in Regen, Hagel. Mein rechter Schuh löste sich auf, C verarztete ihn mit einem zusammengebundenen Stück Stoff, aber das hielt nicht lange, und ich wechselte zu meinen Flipflops, was gut ging, bis der zunächst bequeme, breite Weg zu einem engen, zugewachsenen, steilen Geröllpfad wurde (später begriffen wir, dass wir wieder mal falsch gegangen waren). Als wir einen schmalen Wasserarm überqueren sollten, schienen die Flipflops praktisch zu sein, aber das Wasser stand zu hoch, ging mir bald zu den Knien, und plötzlich wurden meine Füße vom Schlamm erfasst. Es war ein Augenblick der Panik. Ich hätte meine Flipflops im Schlamm lassen können, dann wäre ich leichter wieder herausgekommen, aber dann hätte ich barfuß weitergehen müssen. Vor meinem inneren Auge das Bild (ich kannte es aus alten Abenteuerfilmen), dass ich immer weiter einsinke, bis nur noch mein Arm theatralisch aus dem Wasser ragt. C und J standen derweilen am Ufer und überlegten schon (so erzählten sie hinterher), wie sie mich retten könnten, wenn ich tiefer einsinken würde, aber das Ganze dauerte nur etwa eine Minute, und es gelang mir, mich mit aller Kraft aus dem Sog zu befreien und ans Ufer zurückzukehren, mit tropfenden Hosenbeinen. Wir liefen den Weg zurück, während es langsam dunkler wurde. Als wir uns mit dem Auto unserem Zuhause näherten, fühlte es sich an, als kämen wir nach einer langen Abwesenheit zurück.

Gestern zwei Stunden in der Tierarztpraxis, ein griechisches Drama mit einer älteren Griechin und ihrem ständig bellenden Hund (und ihren pausenlosen Versuchen, ihn durch Schreien zum Verstummen zu bringen, was natürlich nicht klappte), einem englischen Paar in knapper Freizeitkleidung und ohne Mundschutz, die sich vordrängten (er nannte sie "chicken", ihre Stimme hörte man nie), einem in Molivos ansässigen Engländer mit seiner Hündin Peggy, der sich so große Sorgen wegen ihres Hustens machte, dass er beim Reden ständig den Tränen nahe war, und dem "Engel"-Juwelier aus Molivos, der mit einer Katze gekommen war und von etwas abseits das Geschehen lächelnd betrachtete. Ich bewunderte, wie Myrsini die Ruhe behalten konnte und noch den Nerv hatte, mit mir über den Geräuschpegel hinweg ein Gespräch zu führen, während sie gleichzeitig eine junge Katze sterilisierte. Währenddessen saß J auf dem Parkplatz im Auto und zeigte nicht die geringste Ungeduld, wenn ich in unregelmäßigen Abständen ans Fenster klopfte und sagte, es würde jetzt doch länger dauern.

Und heute: Nach einem Vormittag am Computer (das Unmögliche planen, weil Corona schon wieder einen Strich durch alle Rechnungen macht) belohnte ich mich bei Ignatio (Nati) und seiner Frau mit kleinen frittierten Fischen, weißen Bohnen und einem einfachen Salat. Ich war der letzte Mittagsgast, die übliche Männergruppe war schon im Aufbruch, als ich kam. Ein Glas Weißwein?, fügte Ignatio meiner Bestellung in fragendem Ton hinzu, und obwohl ich mir vorgenommen hatte, heute nur Wasser zu trinken, sagte ich ja. Immer öfter traue ich mich, etwas auf Griechisch zu sagen. Es kamen schwarze Wolken auf, mein Blick saugte sich an ihnen fest, während ich mein Essen bis auf den letzten Krümel und den letzten Olivenöltropfen verzehrte, wohl wissend, dass Ignatio und seine Frau froh sein würden, wenn ich endlich fertig wäre. Er saß auf seinem Stuhl und gähnte hin und wieder herzhaft, seine Frau kam nach einer Weile aus der Küche und setzte sich schweigend neben ihn, und ich vermied es, in ihre Richtung zu schauen. Zerteilte meine kleinen Fische mit den Fingern, saugte die Soße der weißen Bohnen mit dem gelben Brot auf, dachte an Christina, mit der ich oft hier gesessen habe. Bei unserem letzten Treffen hatte sie schon so gut wie aufgehört zu essen, etwas zeichnete sich schon ab, aber man wusste nicht, was es war. Im Fenster steht ein Blumentopf mit ihrer Lieblingsblume. Eine Handvoll ihrer Asche ist in die Blumenerde gemischt. Ignatios und seine Frau wissen es nicht, aber sie ehren die Pflanze, ein Gedenken an Christina, die Ärztin aus Schweden.

Auf dem Heimweg fing es an zu regnen. Ich füllte wieder eine Trommel mit Wäsche, googelte "ringworm" und gab mich dann eine Weile meinen Sorgen und meinem Selbstmitleid hin. J hat schon Recht: Es ist meine Einstellung zu den Dingen, die mich an der Wirklichkeit leiden läßt. Gelassenheit stellt sich nur hin und wieder ein, in kurzen, verschwindenden Augenblicken.



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