Montag, 3. August 2020

25. Juli -

2020/07/25 18:36 



Gestern in Kalloní in einem Café gefrühstückt. Greek Cream Pie und Cappuccino. Abstandsjustierung. Lese Pedro Paramo. Im Supermarkt bekommt man Karten mit der Information, dass man in Schlangen 6 qm Platz lassen soll. Maskenpflicht. Bei Nichtbeachtung 150 Euro (falls Kontrollen stattfinden). Ich kaufe Oliven, einen Spülschwamm, ein Baguette, ein Wasserglas (als Ersatz für eines, das mir zerbrochen ist), eine Packung Espresso. Ein alter Mann ohne Maske atmet mir an der Kasse in den Nacken. 



Bei einer Frau auf der Straße kaufe ich Auberginen, eine Melone, Gurken, Tomaten. Wo ich herkomme, möchte sie wissen. Molyvos, sage ich. Dann erst fällt mir ein, dass sie vielleicht mein Herkunftsland wissen will. Oder wo ich lebe. Schweden, sage ich. Lebst du allein? Nein, sage ich. 



Kaufe Entwurmungstabletten in einem Garten- und Tiershop. Hier war ich auch mal mit Cleo, als sie einen Abszess hatte. Ihr Skelett auf dem Röntgenbild. Es war in derselben Woche, in der mein Vater starb. Ich war hier, ich fürchtete mich davor, mit ihm am Telefon zu sprechen. Meine Schwester rief mich an und weinte. Cleo kotzte auf dem Weg zurück, das ganze Auto roch nach halbverdautem Katzenfutter. Die anderen kümmerten sich zu Hause um das Sterben meines Vaters. Besuchten ihn, rasierten ihn, kämmten ihn, sprachen mit dem Ärzten. Mary sagte, hast du noch, was du mit deinem Vater klären musst? Nein, sagte ich. Dann brauchst du nicht nach Hause fahren. An seinem letzten Morgen schrieb meine Schwester, es geht ihm anscheinend besser. Eine halbe Stunde später kam der Anruf. Ich musste meinen Kurs abschließen. Es gibt ein Bild in Marys Taverne. Ich lache, inmitten der Teilnehmerinnen. Erst als ich in Rgbg war, mit geliehenen Kleidern, die mir nicht richtig passten, weinte ich. Da hatten die anderen schon fertig geweint. Mein Abschiedsritual am Meer. Blumen, die ich ins Wasser warf, das Segel aus zusammengeklebten Teebeuteln, das im Wind davonflog. Der Stein in Herzform, den ich vom Strand aufklaubte und im Koffer mitnahm und der jetzt auf seinem Grab liegt. Die Insel ist schon mit mir und meinem Leben verwachsen. 



Eine 100-jährige Frau, so erzählte Giorgos heute, als ich bei ihm im Laden saß, wurde heute begraben. Gegenüber von seinem Laden liegt die Kirche. Sie ist nicht hier gestorben, wurde aber für die Beerdigung hierher gebracht. Wie? Mit dem Flugzeug? Mit dem Boot? Keine Ahnung. Mit der Post wahrscheinlich nicht, sagt er. Wir lachen, während die Trauergäste mit Masken durch das Tor kommen. 



Eine Frau versucht mit dem Moped den Anhang hochzufahren. Sie lässt den Motor immer wieder aufheulen. Es nervt ihn, er stellt sich in die Tür, die Hände in die Seiten gestemmt. Die Shorts hängen an ihm dran. Ich sage ihm, wie alt ich heute geworden bin. Er kann es nicht fassen, dabei ist das nicht das erste Mal, dass ich ihm sage, wie alt ich bin. Er hat auch vergessen, dass ich das letzte Mal Zucker in meinen Espresso wollte. Eine ganze oder eine halbe Packung? Eine halbe. Gut, sagt er, dann hebe ich die andere Hälfte für nächstes Mal auf und schreibe deinen Namen drauf. Ich stelle mich jeden Tag auf den Kopf, sage ich, und habe gelesen, dass man dadurch den Alterungsprozess bremst. Aha, sagt er ohne großes Interesse. Ich glaube an Sex. Es macht was mit einem, man kriegt Energie. Aber wir können ja zurzeit keinen Sex haben, fährt er sachlich fort. 


Heute mein Geburtstag. Viel Gelächter auf meiner Terrasse gestern Abend, als wir in den Tag hineinfeierten. Mitternachtstanz, Ständchen, sogar Geschenke, Kerzen, die ich ausblasen sollte. 


Am nächsten Tag: Theodos schenkt mir eine Flasche Weißwein, die er aus seinem Weinregal holt. Wir trinken den oft zu Hause, sagt er. Mary lädt mich auf ein Glas Wein ein. Taxia singt mir ein Ständchen auf Griechisch. Ich verteile kleine Marzipankegel (handgemacht aus Mandeln und Honig). Theodos nimmt seinen Kegel sorgfältig mit einer Papierserviette aus der Plastikschachtel. Mary fließt über. Oh, meine Liebe, viel Erfolg. Luftkuss. Auf Zoom treffe ich schwedische Freunde und KP und R obendrauf. Zwei Freunde aus Malmö setzen sich Engelsschmuck ins Haar und singen ein umgedichtetes Weihnachtslied für mich. KP und R singen ein deutsches Geburtstagsständchen im Kanon. Gianni, der in der Küche steht, ruft mir hinterher: Alles Gute zum Geburtstag! Ein alter Mann streckt mir die Hand hin. Glückwunsch. Wenn wir traurig sind, möchten wir alleine sein, sagt er. Wenn wir uns freuen, möchten wir unter Menschen sein. Die zwei älteren Griechinnen (wahrscheinlich so alt wie ich), die am Nachbartisch vor einem Teller mit griechischen Plätzchen sitzen, gratulieren mir. Ich singe das Lied jetzt nicht nochmal, sagt Taxia, als die Schweden klagen, dass sie nichts gehört haben, sonst fliegen die Vögel weg. 


Bei der heißen Quelle finde ich nach dem Bad im Meer meine Brille nicht mehr. Ich bitte eine andere Baderin, die gerade aus dem Meer kommt, mir beim Suchen zu helfen. Sie strengt sich an, kann aber auch nichts sehen. Dann laufe ich hin und her auf dem steinigen Weg, frage im Restaurant nach, ob was abgegeben wurde. Zwei junge Touristen, denen ich zuvor den Weg zum Strand gezeigt habe, versprechen mir, auf dem Rückweg die Augen offen zu halten. Ich gehe noch einmal zurück. Plötzlich sehe ich etwas unter der Bank in der Umkleide. Offensichtlich habe ich die Brille unwissentlich mitgeschleift, als ich den Rucksack "sicherheitshalber" mit mir in die Nähe des Beckens nahm. Der alte Mann vom Restaurant fragt den Kellner: Hat sie sie wieder gefunden? Ja. Wo war sie? Er bekommt eine Erklärung auf Griechisch. 


Ich setze mich an den höchst gelegenen Tisch, esse gefüllte Zucchiniblüten und grünes Gemüse und blicke aufs Meer und auf die türkische Küste. Eine kleine griechische Flagge ist in einen Felsen gerammt. Ich stelle mir die Flüchtlingsboote vor, die hier gelandet sind, die Flüchtlinge, die wussten, dass sie jetzt "in Sicherheit" waren, aber nicht, was sie jetzt noch erwartete. Der komplette, radikale Neuanfang. 


Jedes Mal, wenn ich in dem Wegewirrwarr in den Olivenhainen unterwegs bin, denke ich mir, dass ich über die Wasserleitungen etwas schreiben will. Wasserknotenpunkte mit Wasseruhren. Schläuche liegen an den Wegen entlang, immer mal wieder hat einer ein Loch, und oft ist das Loch notdürftig geflickt. Das Wasser sprudelt um die geflickte Stelle heraus, es bilden sich grüne Oasen, sumpfige Pfützen. Manche der Kupplungen, die scheinbar chaotisch über den Brunnenöffnungen liegen, sind isoliert mit Blasenplastik. Irgendwo zurrt ein Draht was zusammen oder ein Stuck abgerissenes Gewebe von einem Olivensack. 


Ich denke mir auch, dass ich über die Männerreiche schreiben will. Diese halbwilden Grundstücke, die improvisierten Lösungen, ein Rest von Ungezähmtheit. Hunde im Rudel, Hütten und Unterstände, aus Müll gebaut. Irgendwo findet man immer etwas, dass man umfunktionieren kann, dem man ein neues Leben geben kann. Es ist nicht nur Geldmangel, sondern auch praktisches Denken. 


Deshalb sind Giorgos Arbeiten so griechisch. Ich benütze nur Müll, sagt er stolz, "rubbish". Ein feiner Herr war da vorgestern da, erzählt er, und hat fünf von seinen Flüchtlingsbooten gekauft. Er hatte einen grauen Anzug an und sprach nicht viel, Giorgos weiß also nicht, was den Mann zu diesem Kauf bewegte. Am selben Tag hat er dann in seiner Werkstatt sieben neue Boote gebastelt. Ich bin an dem Abend an deinem Laden vorbeigegangen, sage ich, und schildere meinen Eindruck von dem leeren, halbdunklen Laden. Er lehnt sich zurück und will es genau wissen. Erst später, bei meinem Bad im Meer, fällt mir das Wort ein: der Laden strahlt etwas "Heiliges" aus. Auf English klingt es besser: "sacredness". 


Ich bin dünner geworden, sagt Giorgos und streicht sich über den flachen Bauch, stimmts? Wieder fragt er mich, ob ich Ouzo trinke. Warum fragt er mich das jedes Mal, wir waren doch schon zweimal auf einen Ouzo in Petra, und vor ein paar Tagen nur hat er mich das Selbe gefragt! Ich erzähle ihm, dass meine Mutter jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Schluck Ouzo trinkt. Er sagt, seine Mutter nahm immer mal wieder winzige Schlückchen aus einer kleinen Ouzoflasche. Alle paar Tage musste er ihr eine neue Flasche bringen. Er macht vor, wie sie an der Flasche zutzelte und schlürfte. Es schmeckt ihnen, sagt er und lacht. 


In der Apotheke kaufe ich Masken für Kursteilnehmerinnen in Schweden und ein Visier für meinen Flug. 


Ich möchte auch über den Abfall schreiben, der die Straßenränder säumt. Jedes Mal, wenn ich mit dem Bus nach Kalloní fahre, nehme ich mir das vor. Gedankenlos aus dem Fenster geworfene Plastikflaschen, Bierdosen, Kaffeebecher. Wenn die Leute es nicht einmal fertigbringen, ihren Müll zu sammeln und in die Mülltonne zu werfen, wenn sie bei vollem Bewusstsein Plastikabfall in die Landschaft schleudern, was ist das für eine Welt, die sie sich wünschen? Was denken, was fühlen diese Männer? Wer soll ihren Müll aufsammeln? Wieso denke ich, dass es hauptsächlich Männer sind, die sich auf diese Weise der Welt aufdrängen, ihr Revier markieren, sich aggressiv und respektlos verhalten? Was steckt für ein Impuls dahinter? Fühlt es sich unmännlich (schwach) an, Abfall in die dafür vorhergesehene Behälter zu werfen? Verliert man seine Stellung im Rudel? Ist es eine Geste der Auflehnung, der Rebellion, und gegen wen und was? 



Bei einem Wortspiel am Abend zuvor sollte ich das Wort "spucken" erraten - ich war schon nahe dran, kam aber erst drauf, als eine meiner Mitspielerinnen sagte, "vor allem Männer machen es". 



Der Busfahrer und sein Kompagnon haben ein kleines Betrugsspiel entwickelt. Dummen Ausländern (mir) wird ein Fahrschein mit dem Aufdruck 0,00 Euro verkauft. Wenn der Assistent während der Fahrt alle Passagiere kontrolliert, nimmt er den "kostenlosen" Fahrschein an sich, während er die anderen wieder an die Fahrgäste zurückgibt. Wenn man das bei jeder Fahrt bei einem Passagier macht, dann bezahlt das sicher alle Frappés des Tages. Ich überlege mir, ob ich beim Aussteigen etwas sagen soll, lasse es dann aber bleiben. 




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