Donnerstag, 21. Oktober 2010

Der traurige Mann in Istanbul

Der traurige Mann saß auf einem Stuhl im Hostel, mit Kopfhörern im Ohr und einem Styroporbecher in der Hand.
Er fing so allmählich an, mir seine Geschichte zu erzählen. Ich war eigentlich mit etwas anderem beschäftigt, und die Geschichte, die er mir erzählte, war so unwahrscheinlich, dass ich mich gestört fühlte. Erst dachte ich, er phantasiert vor sich hin, erfindet alles, aber als er weiter machte, glaubte ich ihm plötzlich jedes einzelne Wort.
Er entschuldigte sich dafür, dass er hier saß auf dem Stuhl und sich betrank, aber "sein bester Mann" sei heute in einem Krankenhaus in der Türkei gestorben, an einem Hämatom im Gehirn, ob ich wüsste, was das sei, ein Hämatom, was mit Blut sagte ich, ein Blutgerinnsel sagte er. Nein mehr, sagte er, ein Freund seit vielen Jahren, ob ich wüsste, was das bedeutete, Seite an Seite zu kämpfen, und wie nah man sich käme. Es ist verrückt, sagte er, ich habe in den letzten vier, fünf Monaten fünf Männer verloren. Erschossen, sagte er. Jetzt wo die Türken aus Afghanistan abgezogen sind, sind wir wie Freiwild geworden.
Ich bin Arzt, sagte er dann. Arzt, fragte ich. Es war so unwahrscheinlich. Er sah aus wie ein Penner, und es fehlten ihm fast alle Zähne im rechten Oberkiefer, weshalb er auch älter aussah als er war, Jahrgang 70 sagte er, wir müssten ungefähr gleich alt sein, sagte er zu mir. Vor 21 Jahren habe er sich für 25 Jahre bei der Fremdenlegion verpflichtet, dort auch seine Ausbildung zum Arzt gemacht, und jetzt habe er noch 4 Jahre vor sich. Eigentlich Finne, kann aber nicht finnisch, hat lange in Schwaben gelebt und dann in Marseille. Dort die Arztausbildung. Es ist nicht leicht, Arzt zu sein in der Fremdenlegion, sagte er.
Entschuldigen Sie mich, aber ich möchte jetzt Musik hören, sagte er. Er liebe Haydn. Er stöpselte seinen Kopfhörer wieder ins Ohr, weinte, trank etwas Schnaps. Dann nahm er den Kopfhörer wieder ab, kam näher. Ich bin in der Türkei in Behandlung wegen Krebs. Er erzählte mir von seiner Chemotherapie und dass er jetzt nur noch knapp 50 Kilo wiege und vorher 98 Kilo gewogen habe.
Ich verstand jetzt auch, wieso die Hose, die er anhatte, aussah, als gehöre sie jemand anderem, was vielleicht zusammen mit den Zähnen zu dem Eindruck der Verwahrlosung beitrug, den ich von ihm bekommen hatte.
Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sagte er und lachte sogar, so dass man seine Zahnlücke sah. Ich sagte, es ist aber manchmal ein bisschen ungleich verteilt und fühlte mich furchtbar nichtssagend, farblos, ein Mensch ohne Lebenserfahrung. 

Ich war erleichtert, als jemand in den Raum kam, der ihn kannte und sich danach erkundigte, wie es ihm ging (und eine Zigarette von ihm schnorrte). Ich bin unten, sagte er, falls du mich brauchst. Ich konnte mich wieder der Tätigkeit zuwenden, mit der ich beschäftigt gewesen war, und der traurige Mann leerte seine Schnapsflasche und verließ nach einer Weile den Raum.

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...