Dienstag, 11. Oktober 2011

Nur ein wenig

Sag mal bitte, Alicia, hat mir Märi jetzt Küsse geschickt oder nur Grüße aus Griechenland oder vielleicht Hugs oder wie das auf Englisch heißt, und wie erleichtert genau ist sie gewesen, als sie gehört hat, dass ich nicht an einer schweren Krankheit leide und wie erschrocken, als sie hörte, dass möglicherweise, und wie hat sie meinen Namen genau ausgesprochen, mit der Betonung eher nach oben oder eher nach unten gerichtet? Fragen über Fragen, könntest du bitte noch einmal von vorne anfangen, weil ich eine solche Genauigkeitssehnsucht habe, wenn es um Märi geht, bitte ganz wortgetreu, erst das erste, dann das zweite Wort usw. und das liegt nicht nur daran, dass sie mir im Sommer ihren Führerschein gezeigt hat mit einem Bild darin, auf dem ihre Lippen sehr trotzig gewölbt sind und das Kinn aufmüpfig nach oben weist, die Augen überheblich in die Kamera schauen, und der Führerschein ist inzwischen ein alter grauer zwischen Daumen und Zeigefinger baumelnder Lappen. Damals hat sie die Welt verändern wollen (ja!) und bis in die Nächte auf der Schreibmaschine geschrieben (ja!). Pfeife (ja! ja!) hat sie außerdem auch geraucht. Die Haare sind jetzt weiß und flattern im Fahrtwind, wenn sie über die griechischen Inselstraßen kurvt und ein bisschen aussieht wie Meryl Streep, fand ich in dem Augenblick, bloß der Eckzahn anders geformt. Und ich hängte mich an ihre Lippen wie eine Kunstturnerin, tauchte mein Weißbrot in den selben Teller wie sie und schleckte hinterher meine Finger ab, beginnend mit dem Daumen und dann der Reihe nach bis zum kleinen Finger. Kannst du das verstehen? Sie hatte Tintenfisch in Weinsoße und gefüllte Zucchiniblüten bestellt, und ihr Mund schloss sich um eine Zucchiniblüte und gab ein leicht saugendes Geräusch von sich, worauf ich noch einen Schluck Weißwein nahm und meinem Kehlkopf beim Schlucken zuhörte. Ich machte also Felgaufschwung, Felgumschwung und noch einige weitere gewagte Reck- und Barrenstückchen à la Märi-Lippe, was gar nicht so einfach war. 


Nach einem Salto rückwärts stand ich wieder auf dem Boden und wankte ein wenig, musste jedoch nicht ausgleichen. Ich dachte, es wäre ein Tischbein, es war aber ihr Fuß mit dem Wanderstiefel dran. Inzwischen hatte ich innerlich schon ca. 73 Fotos von ihr geschossen, die ich, wieder zuhause angekommen, als Überraschung für mich selber und um für den langen Winter ein wenig Zeitvertreib zu haben, in allen möglichen Schränken und Winkeln des Hauses zwischen Buchseiten zwischen Bohnen und Erbsen im Küchenschrank verstecken würde. Märi beim Schwimmen. Märi im Gemüseladen. Märi beim Gartenwässern. Märi beim Griechischreden. Eine Haarsträhne hatte sich in ihrem Mundwinkel verfangen, als sie mit der Gießkanne durch den Garten ging, und das dauerte bei der Größe des Gartens so lange, dass ich währenddessen auf meinem Stuhl unterm Olivenbaum Zeit hatte, ungefähr eintausend verschiedene Gedanken zu denken, und sie blies sich die Haarsträhne aus dem Gesicht, half mit der Zungenspitze nach. Das Tuch über der Brust verknotet. 
Ist dir warm? 
Nur ein wenig.

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