Mittwoch, 19. Oktober 2011

Berlin my love

1. In der U9 vom Zoologischen Garten zum Friedrich-Wilhelm-Platz saß mir gegenüber ein junger Japaner, mit kurzen Haaren, Jeans, Turnschuhen, beiger Jacke. Was meine Aufmerksamkeit erregte, war der Bleistiftstummel, den er zwischen den Fingern drehte, ein kurzer, schwarzer Bleistiftstummel, offensichtlich mit einer weichen Mine, und von Hand gespitzt. Dann sah ich auch schwarze Flecken an seinen Händen und Unterarmen, wie von Tusche oder Tinte. Auf seinen Knien lag eine Baseballkappe. Nach einer Weile steckte er den Bleistift weg. Er legte die Baseballkappe zusammen und drückte sie fest gegen seine Augen. Die Ellbogen hatte er auf die Knie gestützt. Er saß eine Weile so da, und ich sah, dass auf der Baseballkappe ein gelber Farbfleck war. Er sah nicht traurig aus, eher auf eine verzweifelte Art amüsiert von sich selber. Ich hätte ihn lange ansehen können. Er strahlte eine solche Einfachheit aus. Er hatte keine Tasche bei sich, fiel mir auf, und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nie das Haus ohne Tasche verlasse - dass die Tasche irgendeine Rettungsfunktion hat, dass sie einen Schutz vor der Leere darstellt.

2. Auf den Ansichtskarten im Berliner Buchladen, in dem ich wieder wohnen darf, betrachte ich Bilder von Berlin 1930, Berlin 1944, Berlin vor und kurz nach dem Mauerfall. Diese so oft verletzte Stadt ist vielleicht wegen ihrer Verletztheit, wegen ihrer Fähigkeit zum Neuanfang, ein Sehnsuchtsort für viele Menschen geworden. In Berlin ist es völlig in Ordnung, so zu sein, wie du bist, mit all deinen Verwüstungen, deinem verheerten Innern, mit all deinen Traumen, deinen Spleens, deinen falschen Entscheidungen, deinem Misslingen, deiner Armut. Berlin ist die einzige Stadt, die ich lieben kann, weil sie nie versucht, sich zu einer anderen zu machen, weil sie ihre Schwächen offen zeigt, weil sie gar nicht anders kann, als völlig, hundertprozentig ehrlich zu sein, weil sie nie "passend" ist oder versucht zu glänzen. Meine verdreckte, heruntergekommene, motzige, übernächtige Geliebte.

3. In einem Artikel in der Lettre International las ich, noch in Malmö, vom Verschwinden der Spatzen aus den deutschen Städten. In einem Absatz wird erwähnt, dass Berlin dieses Problem nicht hat, Berlin "mit seinen vielen unbebauten Grundstücken, vernachlässigten Bahndämmen und unrenovierten Altbauten", wo die Spatzen Lebensraum und Futter finden. Vor den Imbissbuden nahe des Berliner Hauptbahnhofs hüpfen diese kleinen geflügelten Stadtbewohner einem vor den Füßen herum und stellen sich auch fordernd auf den Tisch. Wenn einer einen großen Brösel erwischt, fliegt er sofort damit ein Stück weiter weg, damit er ihm nicht von den anderen Spatzen streitig gemacht wird. Keiner der Imbissbudenbesitzer versucht die Spatzen fortzujagen, es wäre auch ganz vergeblich. Auch ein etwas größerer Vogel mit gesprenkelter Brust sitzt vor mir auf der Tischplatte und sieht mich fordernd an. Von meiner Hand will er den Brösel aber auch wieder nicht picken.

4. Ich vergesse völlig die Zeit im Hamburger Bahnhof, tauche ein in die 80er, die 70er Jahre, als Ulay Spitzwegs "Armen Poeten" aus der Neuen Nationalgalerie stahl und dann in Kreuzberg in der Wohnung einer türkischen Gastarbeiterfamilie aufhängte, als Marina Abramovic sechs Stunden lang nackt und mit einem eingehüllten Kopf zu Trommelschlägen tanzte, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach, als Joseph Beuys sich mit einem Koyoten in einen Raum einschließen ließ*, als er in Japan zusammen mit einem strumpfsockerten Nam Jun Paik ein Konzert gab, das hauptsächlich aus den ausgestoßenen Lauten "ö ö ö" bestand (Coyote III), als er in einem Interview mit einem japanischen Anthropologen vom Ätherleib und Astralleib des Menschen, der Pflanzen und der Tiere sprach, als Bruce Nauman sein "Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care" bauen ließ und Lil Picard berichtete, welche Funktion die Perücken in ihrem Leben hatten.


Ausstellungsbesucher klettern in die in den Luft angesiedelten Gärten von Tomás Saraceno, kriechen auf der Plastikhaut herum, legen sich auf den Rücken, legen ihre angestammten Rollen ab.


Ich bin wieder mal so glücklich, so glücklich, ich laufe herum, dankbar über eine Welt, in der man die Bedeutung dieser Dinge akzeptiert und sie honoriert, ihnen Raum zugesteht, Respekt zollt. Kaum verlasse ich den Hamburger Bahnhof, stürzt die Verrücktheit der normalen Welt mit ihren Gesetzen des Kaufens und Verkaufens, des Gekauftwerdens und sich selber Verkaufens wieder über mich herein.

-------------------------------------------------------------------
*Beuys, der wunderbare Beuys, mit dem Koyoten:

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...