Mittwoch, 13. Mai 2020

XLVIII - 13.5.


2020/05/13 15:28

Auf der Terrasse im Schatten. Eigentlich müde, aus keinem besonderen Grund. Als ich nach dem Essen auf dem Bett einen angestrengten Schlaf schlief, redete in meinem Kopf jemand ständig auf Englisch, eine Art Kommentator des Weltgeschehens. Resultat meiner extensiven, fast zwanghaften Lektüre der New York Times.

Nachdem mein Arzt mir gestern aufgetragen hat, das Gesundheitszentrum in Petra anzurufen, habe ich es ein paar Mal versucht, leider vergeblich. Auch Anrufe bei der Polizei, wo ich endlich meine Anwesenheit auf der Insel anmelden wollte, weil es ja jetzt doch Monate werden, klingelten ins Leere. Heute beschloss ich deshalb, nach dem Frühstück ins Dorf zu radeln, um diese Dinge irgendwie zu klären. Außerdem wollte ich bei Mary vorbeischauen, der ich schließlich meine Hilfe versprochen hatte, die ich aber telefonisch auch nicht erreichte.

Das Telefon klingelte, als ich mit meinem Morgenkaffee auf dem Bett saß. "Vicky" meldete sich, meine Zahnärztin aus Schweden. Vor zwei Monaten ist mein Schneidezahn gezogen worden. Jetzt stünde eigentlich der nächste Schritt an - der Zahnersatz. Ich erklärte ihr die Lage. Sie lachte laut und herzlich, als ich beschrieb, wie ich mich mit der provisorischen Prothese herumschlage. Dass sie aus Rumänien stammt, hat sicher etwas damit zu tun, dass sie eine gewisse Gelassenheit gegenüber Herausforderungen an den Tag legt und auch schnell versteht, wenn etwas nicht so läuft, wie man es geplant hat. Die Schweden haben meiner Erfahrung nicht so viel Flexibilität oder Improvisationsgabe. Sie erwarten meistens, dass alles in den altbekannten festen Gleisen verläuft. Melde dich, wenn du wieder zurück bist, sagte sie bloß. Genieß die Wärme. Ob aus ihrem Urlaub im Juli etwas wird, weiß sie nicht. Die Flüge sind gebucht, aber man kann jetzt natürlich nichts sagen.

Die Fahrt ins Dorf fühlte sich beinahe feierlich an. Ich hatte eine weiße Bluse angezogen und eine frisch gewaschene Hose. Außerdem hatte ich meinen neuen Mundschutz um den Hals gehängt, den ich vorgestern aus dem Überschuss-Stoff von zwei Kissenbezügen genäht habe, die immer zu groß gewesen sind.

Es war auch eine gewisse Aufbruchsstimmung im Dorf zu spüren. Die Geschäftsinhaber bereiten sich momentan darauf vor, ihre Geschäfte zu öffnen, aus dem Café am Dorfeingang hörte man Musik. Ein paar Leute saßen an den Tischen, die Plastikplane, die in den Wintermonaten als Windschutz dient, war hochgezogen. Vor einem Laden malten junge Frauen Metallregale blau an.  Bei dem Laden daneben war der Ständer mit den Sonnenhüten schon vor die Tür geschoben.

Ich ging den Weg hoch ins Dorf und kam an Ranjas Friseursalon vorbei. Ihre nepalesische Freundin Effi saß davor an dem winzigen Tisch. Außer der Tatsache, dass Effi auch einen Mundschutz um den Hals baumeln hatte, schien alles wie sonst. Ich fragte Ranja kurz entschlossen, ob sie Zeit hätte, mir die Haare zu schneiden, und sie winkte mich hinein. Ich hatte mir meine Maske umgebunden, sie nahm auch eine Maske vom Haken. Wie kurz? Kurz! Effie fungierte als Übersetzerin, und mir wurde wieder mal schmerzlich bewusst, dass mein Griechisch zu nichts taugt. Leute kamen am Laden vorbei, grüßten, Rania wechselte ein paar Worte mit ihnen. Ich hörte "Eftalou" und das griechische Wort für "Boot". Effi übersetzte, es seien in den letzten Tagen afrikanische Flüchtlinge am Strand von Eftalou angekommen. Zwei von ihnen wurden angeblich positiv auf Corona getestet und sind jetzt in Quarantäne. Das Dorf sei durch diese neuen Ankünfte in Panik versetzt. Ich hörte den Namen Erdogan, immer wieder. Der Diktator, sagte Rania, und dieses Wort verstehe ich auch. Als ich Rania fragte, wie es ihrer Mutter gehe, sagte sie, dass diese vor zehn Tagen gestorben sei, ich schloss es jedenfalls aus ihren Gesten, ihrem Gesichtsausdruck. Hinterher ging ich hinaus, nahm die Maske ab, rieb mir mit den Händen die kleinen Haare aus dem Gesicht und machte damit alle meine großartigen Vorsichtsmaßnahmen zunichte.

Der nächste Programmpunkt ist die Arztpraxis. Natürlich ist geschlossen. Es hängt ein handgeschriebener Zettel auf Griechisch neben dem Eingang. Mit Kugelschreiber sind einige Zeiten eingetragen, dann wieder ausgestrichen. Ich werde nicht schlau draus. Frage zwei Männer, die in der Nähe auf einer Treppe sitzen. Morgen, glaubt der eine, wird ein Arzt da sein. Ich solle sicherheitshalber noch bei den "Nurses" fragen, die in einem Raum sitzen, den ich immer für ein Architekturbüro gehalten habe. Auch meine Frage nach der Polizeistation können die Männer - einer von ihnen ist der Buchhändler des Ortes -  mir beantworten und sie erklären mir auch den (komplizierten) Weg dorthin. Eine Frau in dem "Architekturbüro" bestätigt mir dann tatsächlich auch, dass morgen ein Arzt im  Dorf ist. Wunderbar. Ich bin wieder einen Schritt weiter gekommen.

Nächster Schritt: Mary aufsuchen. Ich sehe sie durchs offene Fenster ihres Hauses. Komm rein! Sie ist gerade am Saubermachen. Ich setze die Maske nicht auf. Es ist unglaublich, sagt sie, wieviel Dreck ich am Tag mache. Kaum setze ich mich irgendwo hin und esse was, habe ich schon wieder Dreck gemacht. Und andauernd muss ich wieder etwas abspülen. Ich weiß, was du meinst, sage ich. Ich bin auch pausenlos am Abspülen. Ich darf mich in ihrer kleinen Wohnung umschauen. Ein Raum mit Kochzeile, ein Schlafzimmer, eine Leiter zu einer extra Plattform mit einer zweiten Schlafmöglichkeit, ein Balkon mit Aussicht aufs Meer. Das ist nichts Besonderes in Molyvos. Alle Häuser im Dorf haben eine atemberaubende Aussicht. Mary gibt mir eine Packung Bio-Spaghetti, die auf einem Kleiderschrank liegt. Magst du so was? Sie ist bisher noch nicht ins Restaurant gekommen, wo ich ihr bei der Arbeit helfen wollte, aber sie meldet sich bei mir.

Weil ich schon auf dem halben Weg bin, gehe ich weiter Richtung Cs Haus. Ich bin noch nie bei ihr zu Besuch gewesen, aber sie hat mir einmal gezeigt, wo sie wohnt. Ich rufe ihren Namen ein paar Mal, doch obwohl das Fenster offen ist, rührt sich nichts. Gehe also unverrichteter Dinge wieder zurück. Versuche, bei Theodosos Kardamom für meinen Nachmittagskaffee zu kaufen, aber er hat keinen. Kaufe mehr Mehl, etwas Grünzeug, gute Plätzchen mit Sesam, eine neue Packung vom teuersten Espresso. Wenn ich schon nicht ins Café gehe, kann ich mir wenigstens den besten Kaffee leisten, so meine Überlegung. Theodosos hat sich auch die Haare schneiden lassen. Ich zeige ihm auf dem IPhone ein Foto von meinem Sauerteigbrot. Oh, sagt er, das sieht aber sehr gut aus. Man sieht, dass es einen guten Geschmack hat und knusprig ist. Genau so, wie ich Brot mag. Du könntest mir ein Stück vorbeibringen. Das mache ich, sage ich, erfreut von seiner Reaktion. Wir lächeln hinter unseren Masken.

Grüße P von mir, sagte er, und ich tue es sofort, als ich nach Hause gekommen bin. Dann bringe ich die Hälfte von meinem heute frisch gebackenen Brot zu U und I, die sich freuen, und setze ein neues Brot an, damit ich Theodosos morgen etwas vorbeibringen kann.  

Mittagessen: Salat mit Tomaten, Gurke, Petersilie, Romansalat, Oliven, Zwiebeln. Gebratene Champignons mit gerührten Eiern und geriebenem hartem Ricotta. Ein paar Scheiben frisches Brot, das heute wirklich besonders gut gelungen ist.

Dann Mittagsschlaf. Schreiben auf der Terrasse. Und ohne, dass ich weiß, wie es gekommen ist, ist es schon wieder Zeit für mein Bad im Meer.

PS: Ich sprach mit dem griechischen Mann am Strand. Er schwimmt tatsächlich mit Flossen und Taucherbrille hinaus und fängt Fische. Gestern hat er einen großen Fisch erwischt. Wie fängst du die Fische? Mit den Händen, meistens. Manchmal geht das nicht, dann benützt er eine Harpune. Machst du das für deinen privaten Gebrauch?, frage ich. Ja, für mich, meine Freunde, meine Mutter, sagt er.  

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