Mittwoch, 20. Mai 2020

XLIX - 16.5.


2020/05/16 07:48

Mit dem Pomera im Bett. Die Tür steht weit offen. Ich habe heute Nacht zum ersten Mal mit offenem Fenster geschlafen. Kam zu spät ins Bett, weil ich Julian Clarys Briefs Encountered nicht weglegen konnte. Als ich es ausgelesen hatte, war es schon fast eins. Musste auch Noel Coward googeln, von dem ich bis dahin nichts gewusst hatte, meine Internet-Restriktionen ignorierend, wie so oft in den letzten Tagen. Da öffnete sich wieder mal eine ganz neue Welt.

Mitte Mai, und ich muss mein Leben wieder in den Griff kriegen. Seit ich meine #otherpeopleshomes-Serie abgeschlossen habe, bin ich ins Treiben gekommen und habe die Dinge etwas schleifen lassen. So ein Tag vergeht immer irgendwie. Wenn ich meine Routinen nicht einhalten kann, dann zerfällt etwas.

Ich hoffe, dass etwas passiert, das mich aus meiner Tatenlosigkeit erlöst. Dass ich den richtigen Anfang einer Geschichte finde z.B. Gestern dachte ich, wenn ich nur eine, eine einzige Sache finden würde, der ich mich den Rest meines Lebens jeden Tag widmen könnte, dann wäre ich der glücklichste Mensch.

Gedanken an meine Mittelmäßigkeit, meine Passivität, meine mangelnde Originalität plagen mich hin und wieder, aber ich kenne diese Gedanken zu gut, sie haben mich den größten Teil meines Lebens gepeinigt und mir nicht weitergeholfen. Ich könnte sie also genauso gut ganz einfach links liegen lassen.

Heute: Haus putzen. Im Garten arbeiten. Den Blauregen beschneiden, der vom Nachbarhaus seine Ranken sehnsüchtig herüber streckt. Ordnung herstellen.

Vorgestern Arztbesuch. Ich zog mich wieder präsentabel an, steckte meine Maske in die Tasche und fuhr ins Dorf. Vor der Arztpraxis saßen schon ein alter Mann und eine alte Frau, beide mit Maske, neben der Statue eines Arztes, der hier im 20.Jahrhundert gewirkt hat. Ich setzte mich auf einen Treppenabsatz und betrachtete das Geschehen um mich herum. Immer mehr Leute kamen an. Jeder Neuankömmling wurde, falls maskenlos, zum Maskenkauf in die nächste Apotheke geschickt. Es wurde diskutiert, wie man die Maske aufsetzt. Wo ist vorne, wo ist oben und unten? Eine Frau hatte sich ein Eigenbau-Modell umgebunden und betrachtete das Geschehen gelassen. 

Das Dorf bietet eigentlich fast immer eine Art Gratis-Schauspiel. Es gibt hier kein Kino und kein Theater, aber das braucht man hier auch nicht, da das Schauspiel schon von täglich von selbst stattfindet, und alle sind Schauspieler und gleichzeitig Zuschauer. Vor einiger Zeit noch behauptete ich, dass ich es hier nicht länger aushalten würde, weil es keine "Kulturangebote" gibt. Aber das Leben an sich ist hier das Kulturangebot! Das Dorf ist die Bühne, auf der die menschliche Komödie sich abspielt. Könnte man sich hinsetzen und das alles aufschreiben, die Gespräche, die Wortfetzen, das Geschwätz, dann wäre das ein Mikrokosmos des Weltgeschehens. Dazu müsste man bloß alles verstehen. Bisher rate ich zu 99%, was die Leute zueinander sagen.

Der Arzt (mit maskulin schwarzem Mundschutz) hörte sich mein Anliegen offensichtlich ungeduldig an, zerriss dann ein A4-Blatt in zwei Teile und schrieb auf das eine mit Kugelschreiber ein Rezept für ein Schilddrüsenmedikament und auf das andere Anweisungen ans Labor. Stempel drauf. Unterschrift. Und wie viel bin ich jetzt schuldig? Kostet nichts.

Ich taumelte hinaus in die Sonne, erleichtert darüber, dass ich einen Schritt weiter gekommen war, mit einem vagen Schuldbewusstsein, weil ich mich doch eigentlich gesund fühle und trotzdem die Ressourcen des Landes benütze.

Brachte die Hälfte eines frisch gebackenen Brots bei Theodosos vorbei. Ich  bekomme heute ein besonders gutes Essen, sagte er, und freue mich, dass ich dein Brot dazu essen kann. Kein Ton ist bei ihm falsch. Er sagt immer die richtigen Worte, ist immer präsent. Wenn ich nicht von seiner Frau gehört hätte, dass er zu Hause endlose Stunden vor dem Computer verbringt, dann würde ich glauben, dass er einen großen Teil seines Lebens auf einem Meditationskissen verbringt.

Am nächsten Tag Laborbesuch in Petra. Es war noch früh am Vormittag und schon sehr heiß. Kämpfte mich die Steigungen hoch. Ich kenne den Weg jetzt schon sehr gut, die leichteren und die schwereren Passagen. Registrierte mich, legte meine zerknitterte Überweisung auf die Theke, bezahlte 30 Euro. Der mürrische Arzt oder Pfleger winkte mich zu sich, setzte sich auf dem Weg zum Behandlungsstuhl eine Maske auf. Blutentnahme und das winzigste Pflaster der Welt. In drei Stunden könne ich die Ergebnisse abfragen, geht auch per Mail.

Ich kaufte einen Beutel Spezialfutter für Caesarion in der Tierarztpraxis, die gleich neben dem Labor liegt. Dem Kater geht es besser, sagte ich. Das ist schön zu hören, sagte die Assistentin, die heute allein im Laden war und wegen Nackensperre den Kopf schief hielt. Auf dem Weg zum Fahrrad, das vor dem Labor stand, merkte ich, dass mein Blusenärmel ganz nass war.

Der Laborarzt war nicht beeindruckt, als ich ihm meinen blutigen Arm zeigte. Hast du was getragen? Nur einen Beutel Katzenfutter. Ich dachte, es sei selbstverständlich, sagte er, dass man nach einer Blutentnahme nichts tragen soll. Inzischen wieder maskenlos, wischte er meinen Arm sauber, drückte einen  neuen Wattebausch in meine Armbeuge und kramte dann in einem Erste-Hilfe-Täschchen, offensichtlich auf der Suche nach einem größeren Pflaster. Er fand aber keines, es wurde also wieder das kleinste Pflaster der Welt. Du darfst dich jetzt erstmal nicht anstrengen. Ich muss aber Fahrrad fahren. Warte fünf Minuten.

Ein paar Stunden später kamen die Laborergebnisse per Mail an. Ich schickte sie an meinen Arzt in Schweden und war erstaunt, als er mich sofort anrief. Er bräuchte noch die Referenzwerte. Ich mailte wieder an das Labor, bekam sofort wieder Antwort.

Ich beschreibe all das so ausführlich, weil es mich faszinierte. Dass ich unbedeutender Mensch in den Genuss einer solchen Fürsorge komme, dass mein Wohlergehen einen Wert an sich darstellt. Diese selbstverständliche und fraglose Humanität. 

Mein Arzt rief mich auch umgehend wieder an, und das an einem Freitag 16:00 MEZ. Wieder einmal war auch er beeindruckt davon, wie schnell das Labor geantwortet hatte. Die Werte zeigten, dass ich eine eine neue Dosis brauchte. Komisch eigentlich, sagte ich, es geht mir ja gut. 

Diese Werteverschiebungen äußern sich erst nach einer Zeit in Symptomen, sagte er. Wir verabschiedeten uns dann überschwänglich, mit guten Wünschen für das Wochenende, für die nächste Woche, für den Rest des Lebens.

Das Ende vom Lied. Der Aufwand war also doch nicht umsonst.

Fuhr ans Meer. Das Wasser war dick und glänzte silbrig in der Sonne. Die Grenze zwischen Himmel und Wasser war beinahe ausgewischt. Als würde ich in einer grenzenlosen Unendlichkeit schwimmen. Mensch und Universum. Universum und Mensch.

Ohne Probleme bekam ich in der Apotheke übrigens das Medikament in der gewünschten Stärke auch ohne Rezept (das Rezept vom Arzt war ja in der alten Stärke ausgestellt gewesen). Zuhause entfaltete ich den griechischen Beilagezettel, mindestens einen Meter lang, auf beiden Seiten bedruckt. Ein Glück, dass du es nicht lesen kannst, schrieb P.

Abendessen; Salat mit Roter Bete, die ich in Petra gekauft hatte. Kartoffelfladen mit geriebenem Ricotta. Retsina.


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