Donnerstag, 5. Dezember 2013

Inseltag [Nachlese: unplugged]



"In der Nacht wachte ich öfter auf. Ich schaute auf die Uhr. Es war ein Uhr, dann fünf Uhr. Ich legte mich wieder schlafen, träumte, dass ich in einem Wald spazieren ging. Plötzlich kam aus dem Dickicht eine Stimme. Ich solle still stehen bleiben. Ich blieb still stehen. Ein Mann kam hervor und deutete auf eine Gestalt ganz in der Nähe. Hinter mir. Es war ein Elch, der ruhig und majestätisch daherkam. Ich dachte, der Mann, der offensichtlich ein Jäger war, wolle ihn erschießen. Aber er tat es nicht. Er sagte: "Ich kann den Elch nicht erschießen, weil schon er zu nahe gekommen ist. Ich habe ihm bereits in die Augen gesehen". Ich betrachtete den Mann näher. Er sah so sympathisch aus, mit einem jugendlichen Gesicht und doch deutlichen Lachfältchen um die Augen, ernst und humorvoll zugleich. Er hatte Outdoor-Kleider an in Tarnfarben an und war allem Anschein nach Japaner, was mir in dem Zusammenhang irgendwie bemerkenswert vorkam.


S hatte mir, als sie auf einer unserer Wanderungen völler Enthusiasmus Schafsschädel aufgehoben, begutachtet, in ihren Rucksack gesteckt hatte, als "Geburtstagsgeschenk für meinen Sohn", erzählt, dass ihr Vater, wenn er eine Rindersuppe gemacht hatte, die Wirbelknochen mit bunter Farbe angemalt hatte, so dass sie aussahen wie kleine Tiere.
Ich wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Geschichte von ihrem Vater war.
"Hat dir das gefallen?" fragte ich.
"Es hat mir gefallen. Ich fand, mein Vater war besonders, weil er solche Dinge machte."


Ich öffnete am Morgen die Tür und war erfreut, dass Cleo hereinmarschierte. Den dicken Max, der immer sein rosa Mäulchen aufreißt, selbst wenn er erst einige Minuten vorher eine Riesenschale Futter verdrückt hat, schob ich zur Tür hinaus. Cleo war natürlich hungrig, aber sie sollte nichts fressen, weil ich sie ja zur Operation bringen wollte. Ich fühlte mich aufgeräumt, gut gelaunt, denn ich war die ganze Nacht unruhig gewesen, wie es denn heute Morgen gehen würde, ob ich die Operation wieder absagen müsste, ob ich sie rechtzeitig ins Auto bringen würde, ob es mir überhaupt gelingen würde, sie in den Käfig zu locken.


Ich trinke jetzt Kamillentee, weil ich Bauchschmerzen habe, weil der Tag mich erschöpft hat, weil ich mehrmals den Tränen nahe war, mehrmals unruhig, und weil die Unruhe immer noch nicht vorüber ist. Cleo lief mir frisch operiert weg. Diese kleine wilde Katze hielt es nicht aus, eingesperrt zu sein, selbst als sie von der Betäubung noch ganz wacklig auf den Beinen war, immer wieder umfiel. Sie entschwand durch die Tür, die ich nur einen kurzen Augenblick lang geöffnet hatte, um etwas von der Terrasse zu holen, und ich folgte ihr mit meinen Flipflops und in Socken durch den Dreck, versuchte schneller zu sein als sie, aber sie entkam mir, schlüpfte schließlich unter einem Zaun durch und war außer Reichweite.


Ich ging bedrückt zurück zum Haus, räumte alles weg, was ich für sie vorbereitet hatte, die Decke, die Schüssel mit dem Katzensand, die drei Schüsselchen mit verschiedenen Dingen zum Fressen, Thunfisch, dicker Joghurt, das teuerste Katzenfutter, das sie in der Tierklinik hatten.


Cleo war verschwunden, und ich ging ins Dorf, um ein Bier zu trinken, eine Zigarette zu rauchen und in mein Tagebuch zu schreiben. Am Morgen in Kalloní hatte ich einige Beobachtungen gemacht, die ich niederschreiben wollte. Zum Beispiel die Frau, die mit ihren Röntgenbildern in der Hand durch eine Gasse ging. Das Röntgenbild eines Hundekörpers an der Lichttafel der Tierarztpraxis. Die ungastlichen Käfige mit gefliesten Wänden. Wie Cleo versuchte, an der Wand hochzuklettern, aber zurück fiel, so dass ich sie packen konnte, mit den dicken Greifhandschuhen und sie, die zappelte, versuchte zu beißen, die Krallen in mich zu schlagen, mit festem Griff in die Tierarztpraxis zurückbrachte, wo ich sie in den Behandlungskäfig steckte.

Ich wollte auch von dem Café schreiben, in dem ich saß, als Cleo operiert wurde, trotz seiner gepolsterten Stühle ungemütlich, voller Zigarettenrauch, obwohl auch in griechischen Cafés das Rauchen verboten ist. An einem Tisch saß eine Frau mit einem zuckenden Kopf, die nichts bestellte, und auch eine offensichtlich trauernde Gesellschaft war da, schwarzgekleidete Frauen, die dicht zusammen saßen. Ich ging dreimal zur Toilette im ersten Stock, weil ich mir wegen Cleo solche Sorgen machte. Beim dritten Mal funktionierte die Spülung nicht, und ich musste fliehen.


Die Tierärztin hatte einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze Jeans an. Zwei Risikofaktoren gab es, erklärte sie mir. Der eine, dass die Katze möglicherweise an Speiseresten ersticken könnte, die während der Anästhesie in ihre Lunge wanderten. Der zweite, dass man sie überhaupt nicht operieren könnte, falls sie trächtig wäre. Wir haben so viele Hürden überwunden, denke ich jetzt, wir sind so weit gekommen. Sie war nicht trächtig, sie überlebte die Operation. Ich habe sie in mein Zimmer gebracht, sie aus dem Käfig gelassen. Ich wollte es ihr ermöglichen, dass sie langsam aus der Betäubung aufwacht. Aber sie hat es in dem geschlossenen Raum nicht ausgehalten, es hat sie nach draußen gezogen, und seitdem ist sie auch nicht wieder zurückgekommen.


Ich ging in mein Stammcafé, um ein Bier zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Ein Arbeiter an einem Nachbartisch, der eine Tasche dabei hatte, aus dem eine Wasserwaage herausragte, reichte mir seinen Tabak, Filter, ein Feuerzeug. Die Sonne schien beinahe warm, und ich setzte mich einen kurzen Augenblick auf den Balkon, auf einen Stuhl mit geflochtenem Sitz, ich rauchte, trank mein kaltes Mythos, ich versuchte die kühle Nachmittagsluft tief einzuatmen, mich von der Anspannung des Tages zu befreien.


Es kommen Frauen, stark geschminkt, mit gefärbten Haaren. Sie schließen die Balkontür, weil es kühl geworden ist. Sie rauchen, trinken Kaffee, lachen, reden. Als sie gehen, öffne ich die Tür, damit frische Luft hereinkommt.


Ich muss meine Geschichte jemandem erzählen, gehe zu der Frau an der Theke. Sie erzählt mir dann ihre Geschichte. Dass sie in Athen geboren ist. Dass sie als Kind im Sommer immer mehrere Monate in Molyvos verbracht hat. Dass sie immer hierher zurückkehren wollte. Dass ihre Athener Freunde sie auslachten, ihr prophezeitenn, dass sie es hier nicht aushalten würde. Vor vier Jahren sei sie gekommen, mit ihren Eltern, ihrer jetzt neunjährigen Tochter, mit denen sie in einem Haus wohnt. Sie sei ein völlig anderer Mensch geworden.


"In Athen habe ich putzen gehasst", sagte sie. "Hier liebe ich Putzen."
"Hier habe ich einen kleinen Garten, in dem ich Gemüse ziehe. In Athen hätte ich mir meine Hände nie schmutzig gemacht."
Meine Freunde in Athen können nicht begreifen, dass ich Oliven ernte. Oliven. Sie lacht.
Sie erzählt von ihrem Hund, den sie vor ein paar Monaten aus einem Tierheim in Mytilini geholt hat. Er war ein geschlagener, traumatisierte Hund, man hatte ihn unter einem Auto gefunden, zitternd, abgemagert, voller Angst. Er hat immer noch Angst vor Autos, vor der Farbe Schwarz, vor Männern. Sie zeigt mir ein Bild von ihrem Hund und ihrer Tochter zusammen.


"Ich mache jede Arbeit", sagt sie. "Es ist mir egal. Ich möchte arbeiten, um Geld zu verdienen, aber es ist mir egal, was ich arbeite."


Es fällt in ihrer Gegenwart das Verlangen von mir ab, irgendetwas Besonderes sein zu müssen."

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