Mittwoch, 25. Dezember 2013

Die Geschichten der Mutter, erzählt am Weihnachtsabend.


1. Wir (meine Schwester und ich) hätten sie geärgert, irgendwann vor vielleicht 35 Jahren. Ständig hatten wir etwas an ihr auszusetzen. Sie fuhr mit dem Auto weg, wollte ein paar Tage in Nürnberg verbringen, sich dort ein Zimmer nehmen, so dass wir merken würden, wie es sich anfühlte, ohne sie zu sein. Auf der Autobahn fing das Auto an zu stottern und sie brachte es in eine Werkstatt. Sie musste das Auto dalassen und mit dem Zug nach Hause fahren. Die Frau des Automechanikers brachte sie (mit Lockenwicklern) zum Bahnhof. Meine Mutter setzte sich zumindestens noch kurz in das Bahnhofscafé, um die Zeit hinauszuzögern, bevor sie mit dem Zug nach Hause fuhr. Mein Vater öffnete ihr die Wohnungstür. Sie ging in die Küche, wo wir (meine Schwester und ich) saßen. Angeblich sagten wir (zueinander), kalt, böse: "Da ist sie wieder." Keine Umarmung, kein "Endlich-bist-du-wieder-zuhause-wir-haben-uns-solche-Sorgen-gemacht".


2. Sie beneidete ihre Klassenkameradin Gertie, die als Einzige der alten Freundinnen keine Kinder hatte, um ihre Freiheit. Stellte sich das Leben ohne Kinder schön vor, sorgenlos, ohne Ärger. "Aber jetzt", sagt sie, "wenn ich Gertie sehe, dann denke ich, was für ein armes Leben." (Ich hörte als Kind und junge Frau immer nur die Kummer-, Ärger-, Sorgenversion, die Version des versäumten Lebens, der Unfreiheit, der ständigen Reue, also beschloss ich, nicht in dieses Karussell einzusteigen, sondern ein familienfreies Leben zu führen, ich ahnte wohl auch, dass ich mich mit dieser Geschichte im Gepäck nicht zur "Glücklichen Mutter" eigne).Tatsächlich habe ich mein Leben auch nicht eine Sekunde lang als arm empfunden, bin ich im Gegenteil oft froh gewesen um dieses kühle, atemberaubende Alleinsein, die Möglichkeit zum ständigen Experiment.


3. Als meine zwei Jahre ältere Schwester in die Schule kam, lernte ich mit ihr. Eines Tages kam ich, vierjährig, mit einem Bilderbuch zu meiner Mutter und las ihr daraus vor. Meine Mutter glaubte zuerst, ich hätte das Buch auswendig gelernt und brachte mir ein anderes Buch, aus dem ich ihr auch vorlesen konnte. Zu dieser Geschichte gehört die Fortsetzungsgeschichte "Bei der Schulärztin". Klein und zart für mein Alter und die Jüngste in der Klasse, sagte die Schulärztin bei der Untersuchung, bei der die Schulreife festgestellt werden sollte, offensichtlich zu mir "Du kleines Mäuschen bleibst vielleicht lieber noch ein Jahr zuhause", worauf angeblich die Lehrerin einwarf, "Nein, sie bleibt nicht zuhause, sie ist mein bestes Stück."


4. Meine Mutter sagt, so oft hätte sie meinen Vater verlassen wollen in all den Jahren, aber jetzt nicht mehr, "jetzt bleibe ich bei ihm". Sie hätten es halt ausgehalten. Das machte ja heute keiner mehr. Es aushalten. Später im Bett lese ich ein Grimms Märchen von den "Drei kleinen Männchen", in dem der Witwer, dem eine Witwe über den Umweg ihrer Tochter einen Heiratsvorschlag macht, verwirrt sagt: "Was soll ich tun? Das Heiraten ist eine Freude und ist auch eine Qual." (Das Märchen endet aber unglücklich für die Witwe und ihre Tochter, die, wie sich zeigt, böse, neidische Menschen sind.)

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