Freitag, 30. November 2012

Ich fuhr mit dem Auto nach Vatoussa



Ich fuhr mit dem Auto nach Vatoussa, es war Regen für den Tag angesagt worden. Im Auto sitzen fühlt sich gut an. Einfach aufs Gaspedal drücken. Der Himmel ist schwer und hängt herunter.

In Vatoussa stellte ich das Auto auf dem Parkplatz ab und stieg erst hoch, in das "Zentrum". Ein zahnloser alter Mann begegnete mir auf einer der engen Gassen, er trug eine Ladung morsches Holz über der Schulter, es sah schwer aus.

Ich setzte mich in kleinere der zwei Tavernen des Orts, um einen Toast zu essen, bevor ich losging, ich war der einzige Gast, in der Ecke an der Wand lief ein Fernseher, eine politische Diskussion auf griechisch, irgendwo in Athen, und im Hintergrund sah man ab und zu Bilder aus dem deutschen Bundestag, "Finanzhilfe für Griechenland" war darunter zu lesen, die Athener Intellektuellen, drei Männer in den Fünfzigern, unterhielten sich, lautstark zum Teil, die langhaarige, junge Moderatorin versuchte ab und zu, Ordnung ins Gespräch zu bekommen, und hier in diesem kleinen Bergdorf Vatoussa auf Lesbos saß ich und aß einen Toast mit Schinken und Käse und trank Tee mit Zucker aus einer geblümten Tasse, während die Besitzerin, die irgendwo um die sechzig war, an der Theke herumgruschelte und ein Mann hereinkam und sich schweigend an einen Tisch setzte, ohne jedoch etwas zu bestellen, er schaute zu dem Fernseher hin, zeigte keine Regung, und ich bezahlte, packte meine Sachen zusammen und ging hinaus, um mit meiner Wanderung zu beginnen.

Kaufte mir erst ein Brot in der winzigen Bäckerei, die in meinem Wanderführer vermerkt war und die ich sonst übersehen hätte, in der der zahnlose Mann von vorhin jetzt Brote verkaufte, die im Holzofen gebacken waren, eine dunkle Kammer, wie aus einer anderen Zeit, mit rußgeschwärzten Wänden, 40 Cent kostete der Sesamring, und er bestand darauf, mir zehn Cent zurückzugeben auf meine fünfzig, und dabei strahlte er mich zahnlos an. Ich dachte an die Bäckereien zuhause, an die maschinengefertigten Brötchen, und was für ein Unterschied das ist, und in welcher Krankheit wir leben, was würde dieser zahnlose Bäcker sagen, der wahrscheinlich seit Jahrzehnten das Brot hier im Dorf im Holzofen backt, wenn er diese Bäckereien sehen würde. Wenn ich in fünf Jahren wieder komme, ist er vielleicht nicht mehr da, und was kommt an seiner Stelle, irgendeine Bäckereikette womöglich, mit Verkäuferinnen, die vom Brotbacken keine Ahnung haben, mit Brot, das leblos schmeckt, Todesbrot. Zum Glück ist dieses Dorf so weit weg von allem, es wird vielleicht nie erfasst von der Gleichmacherei, aber andererseits, die Entwicklung macht nicht halt, kriecht voran, es ist wirklich wie eine schleichende Krankheit, die alle erwischt, früher oder später.

Es war windig, regnete aber kaum, als ich mich auf den Weg hoch in die Pinienwälder machte. Die Wanderung sollte drei Stunden dauern, ich hatte als Proviant den Sesamring dabei und etwas Wasser. War wieder einmal völlig überrascht von der landschaftlichen Vielfalt dieser Insel. Man muss wirklich gehen, loslaufen, um das zu erleben, zu erfahren, man kann es nicht auf Abstand, schon gar nicht aus dem Autofenster beurteilen.

Als ich nach gut zwei Drittel der Wanderung nach Pterounda kam, hatte es angefangen, richtig zu regnen. Ich wollte mich jedenfalls nicht verlaufen, machte deshalb vorsichtshalber noch einmal eine Runde durchs Dorf und glich alles mit meinem Wanderführer ab, ob ich auch richtig lief. Aus der Taverne des Ortes riefen mir Männer zu, ich sollte kommen. Sie hatten mich wohl schon durchs Fenster gesehen, eine Fremde im strömenden Regen, die über die Treppen des Dorfs irrt, sie riefen, "Ela, ela!", machten die typische Handbewegung, winkten mich mit den Fingern nach unten zu sich heran, und ich dachte, ich könnte genauso gut hier etwas essen und warten, bis der Regen etwas nachließ.


Wie soll ich diese Taverne beschreiben. Noch nie zuvor habe ich so etwas gesehen. Der alte Besitzer schlurfte mit einer Ohrenkappe in Tarnfarben herum, seine Frau hatte einen Schal um den Hals gewickelt, in der Mitte des Raumes stand ein Kanonenofen und ein gewinkeltes langes Rohr führte davon weg, in die Wand hinein. Der Fußboden bestand aus nacktem Zement, die Stühle und Tische sahen aus, als wären sie nachlässig in dem großen Raum verteilt worden, ungefähr zehn Männer saßen da, tranken Ouzo, abgearbeitete, aber freundliche Gesichter, keiner konnte auch nur ein Wort Englisch, sie versuchten zu verstehen, was ich hier machte, ob ich allein hier sei. Es regnet, sagten sie auf griechisch, "Wasser", halfen sie mir, einer fragte ob ich was trinken wollte, ich sagte, eine Lemonada, und der alte Mann mit der Ohrenklappe schlurfte los, um mir eine Flasche zu bringen. Zu essen gab es nichts, später stellten sie einen Teller mit harten Rosinenbiskuits vor mich hin, schienen mich zwischendurch zu vergessen. Ich betrachtete den Raum. Die eine Wand war tapeziert mit ausgebleichten alten Schallplattencovern, über der Theke hingen Bilder, eine Uhr, die sogar die richtige Uhrzeit anzeigte. Diese Taverne war ein Männerort, das völlige Gegenteil von heimelig, sah aus wie eine Werkstatt, trotz den Bildern an der Wand, und diese vom Wetter runzlig gewordenen Gesichter, diese zahnlosen Münder, diese offene Anteilnahme, die kindliche Neugier, die Lust am Schabernack.

Der Mann, der mich auf die Lemonada eingeladen hat, bedeutet mir, dass er mich nach Vatoussa bringen kann, mit seinem Auto, er muss nur noch seinen Schnaps austrinken, den er soeben bestellt hat, und plötzlich kann ich die wenigen Wörter, die ich auf Griechisch gelernt und behalten habe, doch gebrauchen, ich nehme sein Angebot gern an, habe keine Ahnung, was die anderen Männer dazu zu bemerken haben, und als wir in seinem Pickup die drei Kilometer durch den strömenden Regen zurücklegen, schaffen wir es, nach anfänglichem Schweigen, uns einige Dinge mitzuteilen, mithilfe einiger griechischer Wörter und des Zeigefingers, mit dem wir Zahlen in die beschlagene Windschutzscheibe schreiben, 77 Orte gibt es auf Lesbos, 80000 Bewohner (wenn ich die Zahl 80 richtig deutet), sein Volkswagen Pickup ist aus dem Jahr 1984, und mein Mitsubishi zuhause aus dem Jahr 1993, aber sein Auto ist ein Diesel, meines läuft mit Benzin, das ist teurer, wir sagen auch, dass es in Deutschland kalt ist (dass ich eigentlich in Schweden lebe, kann ich nicht richtig vermitteln), und sogar schneit, was ich mithilfe der Wörter "weiß" und einer Bewegung mit der Hand sagen kann, er sagt, dass der Regen gut ist für die Tiere, jedenfalls verstehe ich das so (er sagt etwas über Tiere), weil alles grün wird ("grün" ist ein Wort, das ich verstehe). Ich sage ihm, dass ich auf dem großen "megalo" Parkplatz stehe, wir tauschen dann noch unsere Namen aus, er heißt Dimitris, und wir geben uns die Hand, er sagt, ich solle die Schüssel gleich aus der Jackentasche nehmen, damit ich nicht unnötig nass werde (ich verstehe das Wort "Schlüssel", den Rest aus dem Zusammenhang), und dann fahre ich über die gewundenen Straßen zurück nach Molyvos, das mir plötzlich vorkommt wie eine Metropole.

In Angelos Taverne esse ich Oktopus in Rotweinsoße und eine Art griechischen Mangold dazu, alle reden deutsch in dem Lokal, da Angelos Frau Petra aus dem Ruhrgebiet kommt und gerade nur deutsche Gäste da sind. Eigentlich schließen sie schon um 15 Uhr, nicken aber, als ich kurz nach 15 Uhr hereinkomme. Ich höre dann den Gesprächen zu, Angelos und Petra haben vor, nach Deutschland zu ziehen, weil man hier in Griechenland "nicht überleben" kann (wie Angelos sagt, wozu Petra ein wenig die Augen verdreht), er bezahlt inzwischen 60% Steuern. Sie haben schon ein Lokal gefunden, irgendwo, es war früher ein italienisches Restaurant, hatte einen guten Umsatz, und das "weiß", wie sie betonen. Ich lasse mir eine Aluminiumpackung geben, in der ich den Rest vom Gemüse nach Hause nehmen kann, fahre dann zum Meer, um noch einmal in der heißen Quelle zu baden, aber es ist heute geschlossen, und auch morgen und am Sonntag, weil am Montag eine Wasserprobe entnommen wird, von der Gemeinde, wegen der Sauberkeit, und da ist es wichtig, dass kein menschlicher Schmutz mehr im Wasser vorhanden ist. Die Frau, die ich antreffe, ist nur zum Putzen da, sie spricht so gut Englisch, dass ich es schon fast schade finde, dann fahre ich unter dem überhängenden Himmel zu meinem Haus, fahre mit dem Auto den Weg auf dem Gras hoch zum Haus, um nicht im Regen entladen zu müssen, bereue es aber, als ich beim Zurückfahren zweimal beinahe steckenbleibe im Schlamm.

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