Montag, 20. Dezember 2010

HALLO

Ich: Hallo? Märi? Kannst du mich hören? Obwohl hier, wo ich mich befinde, alles dafür spricht, dass ich tot bin und auf meine Verbrennung warte. Die Männer vom Verbrennungsinstitut haben schon Zettel zurechtgelegt mit den Aufschriften „Arm“, „Bein“ etc. Meinen künstlichen Unterschenkel habe ich in einem Umkleideraum an einen Kleiderhaken gehängt. Ich fand immer, dass er ein sehr natürliches Aussehen hat. Er war so naturgetreu, dass er mich juckte wie ein richtiges Bein, und wenn ich mich dann kratzen wollte, stieß ich auf was Kaltes und erschrak. Meiner Mutter findet, dass ich an meinem Tod selber schuld bin, wegen meinem Lebenswandel. Ich fühle mich ehrlich gesagt fürchterlich. Sie reden immer von einem Gefühl der Erleichterung, das über einen kommt, aber das kann ich bis jetzt nicht bestätigen. Ich ver­suche gerade, dir eine Ansichtskarte zu schreiben, auf der ich verfüge, dass du dich um die Durchsicht meiner Aufzeichnungen kümmern sollst. Aber ich kriege es nicht fertig, diese Information zu formulieren. Alles, was ich schreibe, ist total unverständlich. Märi, sag doch mal, wie ist der Empfang?
Märi: Ist in Ordnung, ich hör, was du sagst.
Ich: Hast du grad keine Zeit? Ich hör sofort auf, Märi, wenn ich dich störe.
Märi: Red nur weiter, ich backe grade Windbeutel, und mach mir nur Sorgen, dass sie zusammenfallen.
Ich: Es dauert nicht lang. Es ist bestimmt bald vorüber. Du bist mir eingefallen. Es ist mir sonst niemand eingefallen.
Märi: Beschreib mal was, dann können wir weitersehen.
Ich: Es gibt nichts, was ich beschreiben kann. Oder warte mal, vielleicht doch. Es ist eine Art Parkhaus, und ich befinde mich im obersten Stock, glaube ich. Es ist ein ziemlich scheußlicher Ort. Überall diese öligen Pfützen, außerdem stinkt es verfault. Im Fußboden gibt es ein paar Löcher, aus denen schauen die Eisenstangen raus. In den Wänden sind auch Risse, und es tropft von der Decke. Ein paar Gerüste stehen herum, aber sie sehen eher wackelig aus, ich trau mich nicht hinaufzusteigen. He übrigens, was meinst du denn mit „weitersehen“, was meinst du eigentlich mit „dann können wir weitersehen“?
Märi: Ich versteh kein Wort, der Empfang ist wirklich….
Ich: Es war nicht so wichtig.
Märi: Jetzt hör ich dich besser. Was soll denn das mit dem Unterschenkel, du hast mir nie davon erzählt, dass du eine Prothese hast.
Ich: Vergessen, habs vergessen.
Märi: Du lügst.
Ich: Ich lüge, na und, aber einen Moment lang habe ich es selbst geglaubt. Macht es denn jetzt noch einen Unterschied? Das Bein hat mich übrigens immer gejuckt an einer bestimmten Stelle, juckt mich jetzt noch, wenn ichs genau betrachte.
Märi: Hast du eigentlich was im Mund, weil du so undeutlich redest?
Ich: Bloß ein paar Münzen, gut gegen trockenen Hals und Sodbrennen.
Märi: Es wundert mich ehrlich gesagt nicht besonders ich habe schon lange gedacht dass irgendwas…
Ich: Fang bitte nicht an zu heulen. Ich fühle mich hier eigentlich ziemlich wohl. Ich hab mich immer am wohlsten gefühlt, wenn ich allein war. Soll ich vielleicht mal die Aussicht beschreiben? Ich glaube, dass das Gebäude gegenüber irgendein Amt ist, ein Arbeits- oder Finanzamt, es ist schwer zu sagen. Und da ist eine Mauer, hinter die ich nicht schauen kann, weil sie so hoch ist, und davor ein Grünstreifen, und davor ein Zaun mit Stacheldraht. Ich sehe auch den Eingang zu einem Fitness-Studio, glaube ich. Ich kann durch die Fenster reinschauen und seh die Maschinen. Dort sind auch haufenweise Spiegel an den Wänden, weiß nicht genau, wozu. Wo bin ich, Märi?
Märi: Ich musste gestern auf einmal an dich denken. Dass dir beim Fischessen einmal eine Gräte im Hals stecken geblieben ist und ich gedacht habe, das du erstickst. Und nächstes Mal wolltest du wieder Fisch essen, und wieder blieb dir eine Gräte im Hals stecken. Du hast einfach nie gelernt, dass man beim Fischessen auf die Gräten achten muss. Und jedesmal, wenn dir eine Gräte im Hals stecken geblieben ist, hast du so getan, als würdest du ersticken. Plötzlich war ich sauer, weil du mich jedes Mal dazu gezwungen hast, bei deinem Theater mitzuspielen.
Ich: Du musst mich mit jemandem verwechseln. Ich kann Fisch nicht ausstehen. Oder ich dich mit jemandem. Die Zeit ist immer am Anfang am längsten, dann vergeht sie schneller. Vielleicht finde ich hier was zum Schreiben, ich habe nicht einmal einen Bleistiftstummel bei mir. Vielleicht bleibt mir nichts anderes übrig, als mit einem Stöckchen in den Dreck zu schreiben.
Märi: Immer wieder glaube ich, dass ich das Kätzchen irgendwo maunzen höre, oder ich sehe es über das Grundstück streifen. Über das Kätzchen habe ich mehr geweint als über dich, ist das nicht komisch?
Ich: Ich kann jetzt bald nicht mehr reden, bin ziemlich müde, weiß nicht, wo ich schlafen kann, vielleicht kann ich gar nicht schlafen. Auf dem linken Ohr höre ich schlecht, ich glaube, dass mir beim Schwimmen in der Donau Wasser reingelaufen ist. Ich ging plötzlich unter, und erst kämpfte ich dagegen an, dann ließ ich mich ganz einfach treiben. Andauernd habe ich Geld im Kopf, ich versuche auszurechnen, wieviel ich habe und wie lange es mir reicht, aber ich kann einfach zu keinem Ergebnis kommen. Ich hab so vieles versäumt, Märi. Vielleicht hätte ich in der Betonbranche eine Chance gehabt, mein Vater hätte mir bestimmt eine Stelle verschaffen können.
Märi: Immer lenkst du ab, wenn man mit dir reden will. Dauernd flitzt du über die Oberfläche hin und lässt niemanden in deine Nähe. Im Übrigen kann ich auf Fotos dein Gesicht seit einiger Zeit nicht mehr erkennen.
Ich: Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du redest. Mir ist nicht zum spaßen zumute, ich bin eher trüber Stimmung. Alles fließt so komisch zusammen, ich krieg es einfach nicht mehr deutlich hin.
Märi: Huste einmal kräftig und atme dann tief ein. Mach das ungefähr jede zweite Sekunde. Kannst du lächeln? Kannst du beide Arme heben? Sag bitte einmal einen Satz, der einen Sinn ergibt, z.B. „Die Sonne geht unter.“
Ich: Das ist es ja gerade. Es gerät mir durcheinander. Wenn ich mich selber an den Fußsohlen kitzle, spüre ich es in den Haarspitzen. Und wenn ich was rechts und links sehen will, muss ich den ganzen Kopf drehen, und das geht nur sehr langsam. Meinst du denn, ich komm noch mal weg von hier? Ich weiß aber gar nicht, ob ich von hier weg will. Ich fange schon an, mich hier zu Hause zu fühlen.
Märi: Erinnerst du dich denn an irgendwas von früher?
Ich: Na, ich weiß auch nicht. Ich muss mich wirklich sehr anstrengen. Ich bilde mir zwar ein, dass ich mich an was erinnere, aber dann fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen flüstern z.B., wo sie laut reden sollten. Plötzlich bin ich ganz woanders als ich glaubte. Dann wache ich auf und begreife, dass ich soeben geschlafen habe und alles nur ein Traum war, der dann an mir hängt wie ein großer Käfer. War ich z.B. wirklich einmal in Neapel?
Märi: Ich glaube, wir müssen jetzt bald aufhören. Ich habe bereits Blumen gekauft für dein Grab.
Ich: Es ist wie ein Schwarzweißfilm, aber ohne Ton und in Zeitlupe, außerdem läuft er rückwärts. Bevor ich stolpere, falle ich hin, und wenn ich aufstehe, habe ich es schon wieder total vergessen. Alles, was ich mal gesagt und gedacht habe, mein ganzes Leben… Mist… Ich glaube... Märi?
Märi: Hallo?

Keine Kommentare:

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...