Mittwoch, 22. April 2015

Die Kiste (4)

Das Schaukeln und Baumeln in den Zweigen hat eine positive Auswirkung auf mein inneres Gleichgewicht. Ich kratze mir den Rücken, den Kopf, das Schienbein, knabbere ein wenig an meinen Fingernägeln und gähne, dass es in den Kiefern knackt. Einmal am Tag ziehe ich das Seil hoch, um zu sehen, ob mir jemand etwas zu essen in den Korb gelegt hat. Das mache ich so an die dreizehn Jahre, dann wird mir ein wenig langweilig. Mein Haar ist inzwischen so lang, dass ich es mir als Schal um den Hals wickeln kann. Aber an Ideen mangelt es mir deshalb nicht. Zuerst denke ich an den Raum, der meistens leer ist, bis auf ein paar wackelige Stühle. Fleckige Filzdecken liegen herum. Dann erst kommen die Menschen, aber sie sind meistens schon tot oder jedenfalls fast. Einer (1) ist Kirchenmusiker. Er ist sehr blass und dünn und fängt leicht an zu weinen. Er liebt alles von Mozart, auch Mozartkugeln. Unglücklicherweise leidet er an körperlichen Zuckungen und Tourettes Syndrom, was dazu führt, dass er oft unpassende Worte in den Kirchenraum ruft. Ein anderer (2) hat vor ein paar Monaten seinen Posten als Verlagslektor verloren, den er sowieso nicht mochte, da er sich eigentlich für einen Schriftsteller hält. Er trägt in einem Schuhkarton Romananfänge der letzten zwanzig Jahre mit sich herum, an denen er nicht weitergeschrieben hat, die er aber auch nicht wegwerfen kann, weil er sie immer noch vielversprechend findet. Seine Frau hat ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Er trägt einen grauen Regenmantel und weiß nicht, wo er die nächste Nacht verbringen soll. Der dritte (3), ein Mathematiker, ist verliebt in eine Frau, die über zwanzig Jahre jünger ist als er. Er hat sie auf einem Kongress in Südafrika kennengelernt. Sie ist Doktorandin, lebt in Stockholm und ist mit einem netten Mann verheiratet, den sie auch liebt und mit dem sie einen kleinen Sohn hat. Manchmal ruft der Mathematiker die Frau an und fragt sie, was sie gerade macht. "Nichts Besonderes, warum." Er fragt sie, wo sie gerade ist. Sie sagt "In der U-Bahn" oder "Im Büro" oder "Zu Hause". Die Frau des Mathematikers fragt ihn, ob er untreu ist, und er sagt nein, was auch stimmt. Er möchte aufhören, die junge Frau anzurufen, aber er schafft es nicht. Sie hat gesagt, dass sie ihn nicht liebt, aber sie sagt nie, dass er sie nicht mehr anrufen soll. Nummer vier (4) ist Ingenieur in einer Papierfabrik. Er hat Lungenkrebs, weiß es aber noch nicht. Seit ein paar Wochen leidet er unter zunehmendem Husten und Mattheit und hat sich vorgenommen einen Arzt anzurufen, schiebt den Anruf aber vor sich her. Er hat manchmal die Phantasie, eine Frau zu vergewaltigen und zu quälen, konnte diese Vorstellung aber bisher immer wieder zurückdrängen und lebt sie durch das nächtliche Betrachten von schlecht gemachten Filmen aus.

(Das ist nicht das Ende, aber ich weigere mich jetzt, weiterzuschreiben. Nur ich weiß, was geschieht.)

----- ENDE -----

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