Sonntag, 21. Dezember 2014

Lilla Guls Flaum

Den Schuh, sagte sie, ich habe nicht das Herz, den Schuh wegzuwerfen.

Ist das dein Schuh, fragte ich.

Für wie alt hältst du mich? Sie lachte. Das ist Mamas Kinderschuh.

Ich nahm den Schuh in die Hand, ein kleiner Schnürschuh aus brüchigem Leder, mit einer ledernen Sohle, die löchrig und deren Absatz mit kleinen Nägeln befestigt war. Warum mich die kleinen Nägel besonders anrührten, ist schwer zu sagen. Vielleicht, weil sie von der Zartheit der Erwachsenenhände sprachen, die diesen Schuh einmal gemacht hatten.

Sie stellte den Schuh zurück in das Regal, und zeigte mir die winzig kleine Kinderhaarbürste, die daneben lag, aus Holz und mit weichen Naturborsten.

Ihre Haarbürste, sagte sie.

Vor ein paar Tagen, als ich eine der Birkenrindendosen öffnete, die ihr Großvater gemacht hatte, flogen mir flaumige gelbliche Federn entgegen. Ich versuchte sie einzufangen, aber sie schwebten weiter und ließen sich dann irgendwo im Raum nieder.

Was ist das, fragte ich.

Es war schwer auszumachen, ob sie lachte oder weinte. Lilla Gul, rief sie, sie hat tatsächlich in all den Jahren Flaum von Lilla Gul aufgehoben!
           

Wir erzählten die Geschichte von der Dose mit dem Wellensittichflaum nach der Gedächtnisfeier, und alle lachten. Ach ja, Lilla Gul, sagte einer, und die anderen stimmten ein: Lilla Gul!

Heute sagte ich zu ihr, wieso kannten alle Lilla Gul? Ich dachte, Lilla Gul ist gestorben, als du noch ein Kind warst.

Nein, sagte sie, Lilla Gul hatte ein verdammt langes Leben. Und die letzten Jahre seines Lebens war er permanent schlecht gelaunt, saß nur in seinem Käfig und schimpfte, vom Morgen bis zum Abend.

Den Flaum hat sie jetzt schon weggeworfen. Und auch das Büschel blonder Kinderhaare, das sie in einer anderen Birkenrindendose fand.

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