Dienstag, 24. Januar 2012

Ich fühle mich seltsam wohl neben ihr

"Sie redet nicht viel. Wenn sie sich aber dazu entschließt, etwas zu sagen, dann verstehe ich selten, was sie eigentlich sagen will. Es ist, als rede sie mit sich selber. Zwischendurch sieht sie mich auffordernd an, als erwarte sie irgendeine Reaktion, doch zu mehr als zu einem eingestreuten mhm oder ja bin ich nicht in der Lage. Sie erzählt mir von Hunden, Schafen und anderen Dingen, von denen ich keine Ahnung habe und die mich auch nicht sonderlich interessieren. Anscheinend ist sie voller Geschichten, doch diese Geschichten bleiben irgendwie auf der Schwelle hängen. Sie finden zwar den Weg in ihren Mund, doch in einer Form, die unmöglich für einen außenstehenden Menschen gedacht sein kann. Für sie hängt alles zusammen, ich aber fühle mich verwirrt. Fetzen schnappe ich auf. Der Hund hat jemanden gebissen, aber welcher Hund und wen und wann und wie schlimm, all das erfahre ich nicht. Eigentlich haben wir hier eine Gemeinsamkeit, denn auch ich habe nie die Fähigkeit besessen, etwas zu erzählen, weder aus meinem eigenen Leben noch aus dem Leben anderer. Sie sieht fast immer aus, als wäre sie gerade von etwas erschreckt worden. Wenn ich sie anblicke und lächle, erwidert sie meinen Blick erst trotzig, dann mit einem etwas schüchternen Lächeln, einem Verziehen des Mundes, das auch als Missbilligung gedeutet werden könnte, aber ich weiß es besser. Ich fühle mich seltsam wohl neben ihr. Ich suche ihre Nähe, versuche sogar manchmal eine Hand auf ihren Schenkel oder ihre Schulter zu legen. Wenn ich ihr auf der Straße begegne, winke ich ihr zu. Ich bin dann immer ein wenig erstaunt darüber, dass sie mich erkennt. Als würde ich nicht glauben, dass ihre Erinnerung an mich anhält, wenn sie sich von meinem Haus entfernt hat. Sie hebt die Hand, sie sagt "hallo", und dann gehen wir aneinander vorbei, als wären wir sehr flüchtige Bekannte. Dabei weiß ich, dass sie morgen schon wieder vor meiner Tür stehen wird, mit diesen rastlosen dunklen Augen, mit diesen kleinen weißen Fäusten, die sie fast immer geballt hält, mit den unförmigen Kleidern und diesem unmissverständlichen Wunsch, in meiner Nähe zu sein." (2002)

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