Donnerstag, 15. Dezember 2011

(ausgegraben II) Wiener Tagebuch

Es ist eine einfache Geschichte, wie eine simple Melodie. Ich sage, ja, sie ist es und setze mich noch einmal, um sie bis zu Ende zu hören. 
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Ich: War es da?
Sie: Was willst du denn nun wieder wissen? Nein, es war früher. Es war viel früher als du dir denken kannst. Es war schon an meinem ersten Tag in Berlin, in eurer grossen Wohnung. Ich war früh aufgestanden, wie immer, ich brauche nie mehr als fünf Stunden Schlaf. Jemand stand im Bad unter der Dusche und sang. Es war ein Stück, das ich von irgendwoher kannte.
Ich: Es war Recordame von Joe Henderson. Ich wollte eigentlich allein sein wie jeden Morgen und erschrak, als ich in die Küche kam und dich ganz still am Küchentisch sitzen sah.
Sie: Ich war gespannt, wie die Frau aussehen würde, die zu dieser Stimme gehörte.
Ich: Du trugst ein schwarzes Kleid und schwarze lange Stiefel, als wärst du bereit, sofort aufzuspringen und wegzulaufen. Ich hatte mein Micky-Maus-T-Shirt an und wollte mir Tee kochen, bevor ich mich wie jeden Morgen ans Klavier setzte.
Sie: Es war ein kalter Winter. In der Nacht hatte es geschneit, der Schnee, der auf der Strasse lag, war noch weiss und unberührt.
Ich: Ich denke, wir sollten unsere Geschichte heute erfinden, denn bald könnte es zu spät dafür sein.
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Sie: Hast du Angst vor der Zukunft?
Ich: (schweige)
Sie: Einmal hatte ich eine Zukunft: Ich wäre eine Bäuerin gewesen und Goldfuss mein Bauer. Ich wäre die Bärin gewesen mit vielen tapsenden Bärenkindern. Ich habe am Zugfenster gestanden, der Wind hat meine Tränen weggerissen. Als ich in Berlin ankam, war ich geheilt, so sagt man.
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Ein Film läuft vorwärts und rückwärts, ich liege im Sessel mit halb geschlossenen Augen. Halt! rufe ich, Stop! Der blaue, weiss gepunktete Morgenmantel, die Zähne, die Unterlippe leicht berührend, die Hand, durchs Haar streichend, die Hand an der Schulter, am eigenen Schulterblatt, die weissen Hände, Kinderhände.

Bauernhände, Proletenhände, sagt sie. Und:
Mein oberösterreichischer Hintern.
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Wann, frage ich.
Sie: Ich weiss es nicht, frag mich nicht.
Ich: Denk nach, es ist höchste Zeit, es bleibt uns fast keine Zeit mehr.
Sie: Ja warte, es war vielleicht in Berlin, am Tag vor dem Umzug. Du bautest dein Hochbett ab. Stundenlang hörte man nur das Hämmern aus deinem Zimmer, und manchmal tauchtest du ganz verstaubt auf.
Ich: Im Himmel gibt es keinen Staub!
Sie: Und abends ging ich mit den anderen ins Café an der Ecke. Du sagtest, ich komme vielleicht nach, aber wartet nicht auf mich. Und dann kamst du. Du trugst eine alte grüne Lederjacke. Es war, als hätten wir die ganze Zeit nur auf dich gewartet. Aber jetzt musst du mir etwas sagen.
Ich: Was?
Sie: Du musst mir sagen, woher deine Kopfschmerzen kamen.
Ich: Du wolltest mir an jenem Tag die schönste Aussicht über das oberösterreichische Land zeigen. Sind wir eigentlich jemals zu dem Aussichtsplatz hinaufgestiegen? Da siehst du, wie meine Erinnerung nachlässt. Es war der erste warme Tag in diesem Jahr. Wir legten uns ins Gras, du auf deinen Mantel, ich auf meine Jacke. Kleine Tiere krabbelten über meinen Arm.
Sie: Das erklärt noch nichts.
Ich: Du hast viel geredet an dem Nachmittag.
Sie: Ja, das kann so gewesen sein. Ich habe dir viel erzählt. Aber dein Schweigen war nicht immer angenehm.
Ich: Du hast zwar viel gesagt, aber das Wesentliche musste ich erraten.
Sie: Warum willst alles wissen, wofür wolltest du auch damals alles wissen?
Ich: Damals dachte ich, ich würde nichts vergessen, aber jetzt fange ich schon an, deine Stimme zu vergessen.
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Als der letzte Ton verklungen ist, bleibe ich noch ein wenig sitzen. Dann stehe ich auf und gehe. Die Tür lasse ich geöffnet. Als könnten die Töne mich finden, als würden sie mir folgen...

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