Montag, 5. September 2016

Skizzen zu einer Generation

Eigentlich, so sagte sie, sind wir die Generation Nichts.

Freiheit, sagte sie, war das Einzige, das für uns eine Rolle spielte. Von nichts wollten wir uns fangen lassen. Von keinem Beruf, keinem Ort, keinem Menschen, keiner Idee. Wir wollten uns nie in eine Schublade stecken lassen, wollten jederzeit aufbrechen können, uns neu definieren, von einem Tag auf den anderen unser Leben ändern, als hätte es das vorherige nicht gegeben.

Wir dachten lange, es sei unsere eigene Entscheidung, wir hielten uns für einzigartig, aber irgendwann ging uns auf, dass wir nur einer von vielen waren. Es war eine Massenverweigerung, oder ein Massenversuch. Wir wollten nie alt werden, nicht einmal erwachsen. Wir glaubten, dass wir ewig jung bleiben könnten. Aber es wurden uns auch keine Angebote zum Erwachsenwerden gemacht. Früh redete man uns ein, dass es zu viele von uns gab, dass es keinen Platz gab für uns, dass wir uns die meisten Berufe abschminken könnten, weil kein Bedarf für uns bestand. Die, die ein paar Jahre jünger waren, verstanden, dass sie besser sein müssten als andere, um Erfolg zu haben, aber wir waren noch erfüllt von einem Gerechtigkeitspathos, dem Unwillen, uns vorzudrängen. In der Schule ließen wir den Nachbarn in der Matheklausur abschreiben, an der Uni machten wir Gruppenreferate, und wir suchten uns immer Themen aus, die so wenig wie möglich mit beruflichen Möglichkeiten zu tun hatten. Wir wollten uns in der dünnen Luft der Freiheit einrichten, behaupteten, nicht viel zum Leben zu brauchen. Wir hatten kaum genug für uns selber, geschweige denn für die Gründung einer Familie. Geheiratet wurde nur heimlich und unter vollkommenem Verzicht auf jegliche Feierlichkeiten. Am liebsten in der Alltagskleidung, kurz nach der Arbeit, oder in der Mittagpause, und die einzigen geladenen Gäste waren die Trauzeugen auf dem Standesamt. Miteinander geschlafen hatte man schon jahrelang, vielleicht sogar ein Kind gezeugt. Man unterschrieb ein Papier, bezahlte fortan weniger Steuern und bildete sich ein, dass man so tun könnte, als hätte sich nichts geändert. Man könnte sich jederzeit wieder trennen. "Bis der Tod euch scheidet" war lachhaft, aber vor allem beängstigend.

Unsere Eltern hatten sich den Wohlstand hart erarbeitet, und wir setzten unseren Stolz daran, keinen Wohlstand zu brauchen. Es war selbstverständlich für uns, dass wir trotzdem alles hatten, was wir brauchten.

Wir lebten Leidenschaften, liebten das Drama des Verliebtseins, taten so, als seien wir gegen jeglichen Wunsch auf Dauer gefeit. Wir lehnten die Idee der Treue ab und warfen uns selber Schwäche vor, wenn wir plötzlich merkten, dass wir an jemandem "hingen". Wir wollten am liebsten alles aufgeben, vielleicht sogar unseren Namen, einen festen Wohnsitz. Irgendwie trieben wir durch das Leben. Wir hielten uns für moderne Nomaden, waren aber nur hilflos.

Das, worin unsere Eltern ihre Erfüllung gefunden hatten, die Stabilität der Familie, die finanzielle Sicherheit, die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs, erschien uns schlimmer als ein Gefängnis, ein lebendiger Tod, ein dumpfes Ausharren in Kompromissen, ein geistiges und gefühlsmäßiges Koma. Wir wollten uns ausschöpfen, so weit wie möglich. Wir wollten unsere Grenzen entdecken, spüren, dass wir lebten. Es fehlte uns ein grundlegendes Vertrauen in uns selber, wir waren misstrauisch gegenüber Deutschland, gegenüber jeder Art von Anständigkeit und Ordnung. Wir widmeten uns dem Körper, der Arbeit an unserem Körper. Wir entdeckten den Körper, die Signale, die er uns sandte, seine Versteifungen und Blockaden. Über den Körper wollten wir uns selber befreien. Ein Wort trat in unser Leben, dem wir sehr viel Aufmerksamkeit schenkten. Wir wollten "spüren", wie es uns ging. Statt einfach darüber hinweg zu gehen, wollten wir dem gegenüber aufmerksam sein, was in uns lebendig war.

                                                                     ***

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