Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Frau mit dem dunkelblauen Rollkragenpullover

Ein paar Jahre später rief sie dann noch einmal an. Eine fremde Stimme antwortete ihr, stellte seltsame, gleichgültige Fragen. Sie trafen sich in München in einem griechischen Lokal. Die Leidenschaft war stumm, abgestumpft, es gab kaum etwas, worüber sie reden konnten. Sie dachte an den Morgen nach der ersten Nacht, die Busfahrt zum Flughafen im Morgengrauen und wieder zurück, Bs Kopf auf ihrer Schulter, der rosa Streifen am Himmel, die Telefonnummer, die in ihrer Hosentasche brannte, als sie zurück zum Hotel kam und die anderen Gäste im Frühstücksraum gleichmütig begrüßte. Der Tag war schwebend, wie durchsichtig, nach der schlaflosen Nacht.
Ein paar Wochen später fuhren sie mit dem Zug nach Venedig, wohnten in einer Pension auf dem Lido. 'Bin ich das wirklich gewesen', fragt sie sich jetzt. 'Auf dem Foto trage ich ein kariertes Flanellhemd, schwarze Männerschuhe, einen grünen Mantel mit Kapuze - ich erkenne mich gar nicht wieder. Später waren wir in Genua, aber nur kurz, da sie es dort nicht aushielt. Nicht einmal ein Restaurant konnten wir betreten: alles empfand sie als bedrohlich. Es gab so viele Dinge, die sie nicht ertrug. In Ravenna waren wir nur eine Nacht. Wir schauten uns die Mosaike nicht an, wegen denen wir eigentlich gekommen waren, weil sie so schnell wie möglich wieder von dort wegkommen wollte. Die Stadt sei dunkel, greife sie an. Es gibt ein Foto von ihr, das ich am Bahnhof einer kleinen Stadt von ihr machte: Sie saß auf einer Bank, den Kopf in den Kragen ihrer Lammfelljacke gezogen, schaute vor sich hin, ins Leere. Oft ging ich an den Abenden allein hinaus, stellte mich in einer Bar an die Theke, trank einen Kaffee oder ein kleines Glas Rotwein und malte mir aus, dass ich dort lebte, in einer Stadt in Italien. Ich war die Frau, die wenig sprach, die man überall grüsste, die mit einem dunkelblauen Rollkragenpullover durch die Straßen ging.'
Jetzt schaut sie nach ihrem Namen, gibt ihre Adresse ins Suchfeld ein, aber eine solche Person existiert nicht mehr in München, und andere, die den selben Namen haben, sind viel jünger, leben ausserdem ganz woanders. 'Sie schickte mich weg, sie war nicht die Erste und nicht die Letzte. Sie bestellte mir ein Taxi, und als ich mich darauf zuging, hielt dahinter ein zweites Taxi. Durch das Rückfenster sah ich, wie ihr Mann aus dem Taxi ausstieg und den Schlüssel aus seiner Jackentasche fischte. Ich hatte ihn nur auf Fotos gesehen, die sie mir gezeigt hatte. Ich weiss nicht, wie er hiess, sonst könnte ich nach ihm suchen, ich könnte ihn anrufen, nach ihr fragen, ich könnte sagen, 'ich bin eine Freundin, es ist aber schon lange her.'

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