Samstag, 19. Dezember 2015

Und lange Lesbos-Nachlese ("Eigentlich gleicht alles einem Traum")

1. Michalis erzählt u.a., dass 87 Volontärsorganisationen im Dorf vertreten sind, dass Hotels ihre Zimmer für 10€ / Nacht vermieten, dass die Volontäre Autos mieten, die sie dann auf den unbefestigten Straßen zu Schrott fahren. Angelos ist jetzt in seinem Restaurant damit beschäftigt, belegte Brote für die Flüchtlinge zu machen, und verdient gut dabei. Das Auffanglager soll zwischen Eftalou und Skala Sikaminia verlegt werden.
2. Traum: Lakshmi ist von der Terrasse meiner neuen Wohnung (Traumterrasse, Traumwohnung) gefallen. Jemand, der bei mir ist, beugt sich über das Geländer. Da liegt was. Ich schaue selber, widerwillig, aber die Terrasse ist beinahe ebenerdig: Sie bewegt sich noch. Ich muss mit ihr zum Tierarzt fahren. Der Kopf ist ganz platt, aber ich hoffe, dass es möglich ist, sie zu retten. 
3. Michalis erzählt von Pakistanis, die in Molivos in einem Bus falsche Papiere und Pässe austellten. Es musste eine Einsatzgruppe aus Athen kommen, die sie dann festnahm. Er erzählt auch, dass mit manchen afghanischen Männern Drogen auf die Insel kommen. Michalis' Tochter sagt: "Sie sollen aufhören mit dem Krieg, damit die Menschen wieder nach Hause gehen können."
3. Der neue Nachbar redet immer nur von "seinem" Haus und "seinem" Grundstück und davon, was "er" will (sogar wenn seine Frau daneben steht, die Ärztin ist). Er sieht auch die ganze Umgebung durch seine egozentrische Brille. Redet von Bäumen, die ihm die Aussicht versperren, und sagt nichts davon, dass ich vom Fenster aus jetzt den Rohbau seines Hauses sehe statt einer Schafswiese.
4. Ich ging zum Strand und schaute mir die gestrandeten Boote an, machte Fotos. Ich legte einzelne Gegenstände aus dem Haufen mit Schwimmwesten, feuchten Kleidern und Alltagsgegenständen auf einen Steinabsatz und fotografierte sie, wie z.B: Kinderzahnbürsten, ein angerosteter Nagelknipser, ein Kamm, ein Schwimmflügel, ein Kinderhaargummi, Kinderhandschuhe. Ich nahm ein paar Fetzen von den zerschnittenen Gummibooten mit nach Hause.
5. Dass Cleo immer noch nicht aufgetaucht ist, nimmt mich mehr mit, als ich es eigentlich möchte. Das Gefühl ihrer Abwesenheit ist ständig gegenwärtig. Gestern, als Caesarion aus dem Dunkel auftauchte, dachte ich zuerst, es sei Cleo. Diese mikroskopische Enttäuschung, als ich erkannte, dass er es war und nicht sie.
6. Olivenklauben. 100 Oliven gepflückt, in Salz eingelegt. Unkraut gejätet, die Dachrinne gesäubert. Olivenernte mit Anna und vier Männern.
7. Der Teenager: Dieser Eindruck, dass der Körper mit seiner eigenen Energie überfordert ist und kurz vor dem Bersten steht. Er trägt ein ärmelloses Muscle-Shirt, klobige Stiefel, die er nur zur Hälfte geschnürt hat, er springt leicht über die Mauer, auf deren anderer Seite es über einen Meter hinunter geht. Er weiß, dass ich ihm zuschaue. "Gute Reise!", rufe ich ihm hinterher. Er dankt mir mit einem breiten Lächeln und verschwindet mit seinem langen Holzstock um die Ecke.
8. Cleo taucht endlich auf! Anna und ihr Sohn nehmen später am Abend eine Fähre nach Athen und fahren von da zwölf Stunden mit dem Bus nach Albanien weiter, weil Giannis Pass von den albanischen Behörden falsch ausgefüllt wurde ("Mytilini" statt "Griechenland").
9. In der Nacht gießt es, ich schlafe unruhig, wache immer wieder auf.
10. U und ich fahren zur Olivenpresse. Die Oliven werden in einen Trichter gekippt, zur Waschanlage hochtransportiert, dann gepresst. Wir stehen herum, während unaufhörlich Säcke mit Oliven herangefahren werden. 350 kg haben wir selber. Wir vertreiben uns die Zeit. Ich gehe einkaufen, U fährt zur Bank und holt Geld. Sie kauft einen Sesamring, den wir uns teilen. Wir gehen einen Kaffee trinken und reden über Es Geldgier und Gs unbegreifliche Raucherei.
11. In der Hafentaverne sitze ich plötzlich mit drei riesigen vegetarischen Gerichten da - ich kann nicht einmal die Hälfte essen und spüre die Betretenheit der Frau, die mich bedient. Meine geistige Energie geht damit drauf, dass ich eine pessimistische Rechnung darüber aufstelle, wie viel das Ganze mich kosten wird, und damit, dass ich darüber nachdenke, ob ich um einen Doggy Bag bitten soll.
12. In einer Cafeteria sitzen die alten Männer, spielen Karten und schauen zwischendurch immer wieder auf den Bildschirm, der in der Ecke an der Wand hängt. Die Volontäre sitzen im Restaurant Majorán.
13. Auf meinem Spaziergang sehe ich ein trauriges Pferd, dessen Kette an einem Baum befestigt ist. Es ist so kurz angebunden, dass es sich kaum bewegen kann im aufgeweichten Schlamm. Ich öffne das Gatter und gehe zu ihm hin, gebe ihm einen großen Apfel, den ich soeben gekauft habe. Dann ändere ich den Sitz des Halfters, das ihm zuvor das eine Auge verdeckt hat. Als ich weitergehe, dankt mir das Pferd mit einem Wiehern.
14. Ich spreche auf der Straße mit zwei Volontären, Ryan und Florian. Ryan (der aus Florida kommt) fragt mich, ob sie für mich beten können und lädt mich für den Abend zu einer Messe in der improvisierten Zeltkirche ein.
15. (Ein paar Tage später treffe ich Ryan im Dorf. Er streichelt vor dem Lebensmittelladen eine kleine Katze. Als wir ein paar Worte gewechselt haben und ich weiter gehe, ruft er mir noch einmal hinterher. "Bist du denn mit dem Fahrrad den ganzen Weg aus Deutschland gekommen?")
16. Traum von F.H. Er ist plötzlich wieder aufgetaucht und sieht genauso aus wie früher. Ich bin so froh. Er war lange verschollen. Ich träume auch, dass ich in Marys Kafeineon bin, aber nur einen griechischen Kaffee trinke, oder nicht einmal das. Es ist auch woanders. Ich sitze mit einem Musiker an einem schwarzen, runden Tisch, wir trinken beide etwas Heißes, und ich stelle es auf dem Tisch ab, worauf sich an der Stelle von der Tischplatte die schwarze Plastikfolie löst.
17. Ich weiß nicht, was mir von diesen Wochen in Erinnerung bleiben wird, oder ob sie zu einer Undeutlichkeit verschwimmen werden.
18. Je weniger ich denke und zweifle, desto besser geht es, vielleicht kann das zu einer Gewohnheit werden.
19. Ach ja: Deuschland hat beschlossen, Tornados nach Syrien zu schicken, um Frankreich in seinem "Krieg" gegen Daesh zu unterstützen.
20. Zweiter Advent: In der Taverne in Petri bitten die Gäste am Nachbartisch um die Reste, die die Gesellschaft, die soeben gegangen ist, auf ihrem Tisch hinterlassen hat. Sie reichen dem Kellner eine Plastiktüte, ohne Umstände kippt er die Fleischreste von dem Grillteller hinein. Die Plastiktüte verschwindet wieder hinter dem Stuhl.
21. Ich teile mir mit drei Deutschen von einer "Herzöffnungs"-Gruppe das Taxi zum Flugplatz. Lasse mich in Athen dann von einem dürren Mann mit einem "Parkschein" hereinlegen. Angeblich braucht er nur kurz etwas "Kleingeld", kurz darauf "etwas mehr". (Dann schwant mir, dass er genau so viel Geld wollte, wie er in meinem Portemonnaie gesehen hat, als ich es öffnete, ingesamt 4 Euro.)
22. Ich denke an den Abend bei G und wie er mit einem winzigen Pinsel die Faltengewänder von Jesus und den zwölf Aposteln verfeinerte. Auf einer Glasscheibe schob er die Farbe zusammen, strich sie wieder aus. Wir tranken Kaffee und selbst gebrannten Raikos, den er aus den Tiefen eines Schranks holte. Bei meinen letzten Versuchen, ihn zu treffen, war der Laden immer verrammelt, ich hinterließ eine kleine Notiz: "Bis zum nächsten Jahr!"

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