Donnerstag, 17. Januar 2013

Fragmentarische finnische Erinnerungen

In Finnland wohnte ich in einer kleinen Wohnung, Parterre. Ich hatte ein Zimmer, eine kleine Küche und ein Bad, das ich jetzt völlig vergessen habe. Wie sah das Badezimmer aus? In den acht Monaten, die ich dort wohnte, wurde außerdem die Fassade renoviert, und die Fenster waren mit einer Plastikplane geschützt. Ich hatte ein Bett und einen Tisch. Ich hatte einen finnischen Schlüssel. Es gab einen Waschkeller, und ich war in wenigen Minuten im Wald. An den Abenden ging ich anfangs häufig hinaus und lief eine Runde, mit einem pinkfarbenen Sweatshirt. Aber was für eine Hose hatte ich? Was für Schuhe?

Einige Schwarzweißfotos sind von der Zeit noch übrig. Die Dunkelheit, der Schnee. Ich setzte mich in eine Pizzeria, von der ich jetzt erinnere, dass sie sehr viel hellblau enthielt, hellblaue Vorhänge, hellblaue Tischdecken, und aß eine finnische Pizza, mit Emmentaler-Käse. Ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt war ein Café, in dem ich oft saß, Kaffee trank, eine Zimtschnecke aß und las. Ich erinnere mich z.B. daran, dass ich Goethes "Dichtung und Wahrheit" las, mit einer Begeisterung, die mich selber erstaunte.

Wo kaufte ich eigentlich meine Lebensmittel ein? Ich kann mich nicht an einen Lebensmittelladen erinnern, weder daran, wie er von außen, noch, wie er von innen aussah. Ich erinnere mich an das staatliche Alkoholgeschäft, das eingerichtet war wie eine altmodische Apotheke.

Ich erinnere mich an all die Leute mit ihren Trainingsanzügen.

Es gab einen Second-Hand-Laden, in dem ich mir einige scheußliche Blusen kaufte, die ich nie trug.

Es gab ein Kino, das ich nie besuchte, weil dort nur amerikanische Erfolgsfilme liefen. Ich hatte einen kleinen Schwarzweißfernseher von einem Lehrer geliehen bekommen, kann mich aber nicht erinnern, dass ich etwas darauf sah. Das einzige, woran ich mich erinnere, sind Bilder vom Golfkrieg. Es war das Jahr 1990/91.

An den Wochenenden fuhr ich häufig nach Helsinki und setzte mich in den Wagen, in dem die Bildschirme von der Decke herunterhingen, auf denen Videos gezeigt wurden. Ich las die Untertitel, um mein Finnisch zu verbessern.

Es dauerte eine gute Stunde, um nach Helsinki zu kommen. Oft fuhr ich erst am Montag morgen zurück. Ich fuhr mit dem Fahrrad zu den verschiedenen Schulen, oder ich lief zu Fuß. Viele der Lehrerinnen, mit denen ich zu tun hatte, waren alleinstehend, einige von ihnen feierten gerade ihren fünfzigsten Geburtstag, als ich dort war. Ich empfand Mitleid mit ihnen, fühlte mich überlegen, wegen meiner Jugend (ich war neunundzwanzig).

Ich lief durch den Wald, erinnere ich mich, zu einer Schule, die, wie ich später erfuhr, einen schlechten Ruf hatte, weil dort die "schlechteren" Schüler waren. Es lag Schnee. Es lag eigentlich den ganzen Winter lang Schnee.

Gerade geschah es mir, dass ich einen Traum von Lahti mit dem wirklichen Lahti vermischte. Ich muss also von Lahti geträumt haben. Wenn ich von meiner Wohnung geradeaus ging, kam ich zum großen Platz, von dem ich jetzt nicht mehr viel weiß. Ich habe Bilder gemacht, sie sind die einzigen Erinnerungen. In Helsinki war ich auf Jazzkonzerten und in der Konzerthalle, ich habe den Mann Klavier spielen gehört, der später der Kulturminister werden sollte (Claes Andersson).

Ich besuchte alle Kunstmuseen, entdecke Helen Schjerfbeck, Ellen Theslaff und Outi Heiskanen und fuhr mit der orangefarbenen U-Bahn und der grünen Tram durch die Stadt.

Mein erster Besuch in dem polnischen Café in der alten Villa am Rand von Helsinki, mit den getrockneten Rosen im Eingangsraum, den silbernen Teeglashaltern, dem Samovar, der Himbeermarmelade, die man in den Tee löffelte, der Vanillesahne, den Zimtschnecken, die größer waren als ein Dessertteller, dem Pianisten, der am Flügel saß und spielte. (Mein Gefühl von totalem, grenzenlosem Glück und Erstaunen.)

Ich weiß noch, dass ich einmal Spaghetti Bolognese kochte. Dass ich einen schwarzen Rollkragenpullover hatte und eine grüne Hose, und eine rote Brille. Dass ich sehr dünn war. Dass ich mir am ersten Tag einen Teller und eine Tasse und eine kleine Schale kaufte. Ich kaufte mir eine braune Baskenmütze. Zwei Handtücher. Bettwäsche. Einen gebrauchten Wollmantel, den ich jahrelang liebte. Die Handtücher und die Bettwäsche habe ich heute noch.

Ich hatte meinen Wortprozessor mit, ein klobiges Teil, ein Zwischending zwischen elektrischer Schreibmaschine und Computer, bei dem man Texte auf Diskette speichern konnte. Ich wünschte manchmal, ich hätte immer noch so ein Teil, das nur eine einzige Sache kann: schreiben. Der Bildschirm war winzig, und die Schrift war grün auf schwarzem Grund.

In meiner Wohnung hatte ich auch ein Telefon. Am Anfang steckte ich es an den Abenden immer aus, um zu verhindern, dass ich auf einen Anruf wartete, der sowieso nicht kam.

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