Dienstag, 20. April 2021

Schneckenweg

Erst sah ich den Weg, den sie ins Papier gefressen hatte, das an der Kellerwand hängt, mit der Telefonnummer des Klempners, ein verschnörkelter, wie betrunkener, Weg. Dann sah ich sie. Sie hing an der Papierecke, schien tot, aber als ich mit dem Finger fühlte, nahm ich etwas Feuchtigkeit wahr und dachte, ich könntes sie vielleicht retten. Zwei-, dreimal tauchte ich sie in das Wasserschälchen, das für die Katzen vor dem Haus steht. Nach dem zweiten Mal nahm ich eine kleine Bewegung wahr. Nach dem dritten Mal kroch sie aus dem Häuschen, entfaltete und zeigte sich in ihrer ganzen Schönheit: die Stielaugen, die Fühler, der faszinierende, weiche, schleimige Körper. Ein lebendiges, fühlendes, verletzbares, lebenshungriges Lebewesen (hätte sie sonst Papier gefressen, zum reinen, nackten Überleben?)! Ich trug sie zum Akanthusbeet, wo gerade eine kleinere Artverwandte von ihr im Schneckentempo übers Mäuerchen kroch, und setzte sie auf einem abgerupften Akanthusblatt ab. Ich wollte, dass sie das Leben wieder unter ihrem Leib spürt. Sie fing auch gleich an zu kriechen, Richtung Schatten, Grünzeug, Feuchtigkeit. Und ich war so froh. Gab ihr viele gute Wünsche mit auf den Weg. Möge sie ein langes Schneckenleben haben und viele Nachkommen, denen sie von ihrem Abenteuer im Keller erzählen könnte! (In Schneckensprache, natürlich!)

1 Kommentar:

CreepticN hat gesagt…

Vielen Dank für diesen nützlichen Artikel. Sehr geschätzt.

Lesbos 13/12 2021

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